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PREKÄRE NOBLESSE

PREKÄRE NOBLESSE
10.09 – 10.11.10 / STILL POINT / KERSTIN KARTSCHER / GALERIE KARIN GUENTHER / HAMBURG

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Kerstin Kartscher, "THOUGH ONE OR TWO PLACES WERE WORTH SAVING"
110 x 90 cm, Collage: News Paper, Ink, Hybrid Ppen, Ink Marker on Canvas,
Metal strips, Chain, String, Email paint, 2010

Schön, dass es mit der sogenannten Neoromantik endlich vorbei ist. Jetzt kann man Kerstin Kartschers Zeichnungen und Installationen, die sie seit Mitte der 90er sehr konsequent eigenständig entwickelt, wieder trendbereinigt anschauen. In den letzten Jahren ist unmerklich einiges passiert, auch wenn das im Detail nicht leicht zu benennen ist. Die offen collagierten Kompositionen zeigen sich verwaister und zugleich komplexer und verwickeln vielschichtig Interieurmomente mit Architekturfragmente in diversen Blickachsen. Es gibt kaum einen einheitlichen Bildraum. Das wäre wahrnehmungspsychologisch eine Unterforderung. Das Innen und das Außen verschränken sich simultan changierend in einer Vielzahl von perspektivischen Fluchtpunkten. Personen haben den Bildraum weitgehend verlassen. Schriftzüge sind nun auch weniger zu sehen. Eine Art von atmosphärischer Konsistenz hat eindeutig zugenommen. Es ist durchweg eine sehr schöne Tristesse, die keine mobilen Momente wie Verkehrsmittel oder Lebewesen braucht.

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Kerstin Kartscher, Still Point Ausstellungsansicht, Galerie Karin Guenther, 2010

Wenn früher eher eine bedrohlich zerbrochene Nachkriegsatmosphäre vorherrschte, ist es jetzt mehr ein entkernter italienischer Neorealismus, der den Betrachter wie flurbereinigt verstummen lässt. Heimelig ist hier nach wie vor gar nichts. Ich kenne zwar selbst keine, aber erhabene Friedhöfe, auf denen nur glücklich Verstorbene ruhen, haben bestimmt ein ähnliches Flair. Auffällig ist auch eine verstärkte subtile, eher malerische Nutzung der hellen Bildzonen. Dort sind jetzt vermehrt zarteste Schattierungen (oder minimal weiß gehöhte Stellen auf ungrundierter Leinwand) für den fünften Blick appliziert. Diese Bildelemente wirken wie in den Bildträger eingedampft, oder steigen unmerklich als Bildnebel von dort auf, was in echt natürlich noch schöner wäre.

 

INSELBEGABUNG
28.08 - 07.11.10 / ONOMATOPOEIA / CHARLES AVERY / KUNSTVEREIN HANNOVER

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Charles Avery, Mob Scene (Gesindel), Bleistift, Tinte und Gouache auf Karton,
149 x 191 cm, 2008

Der schottische Künstler Charles Avery verfolgt seit 2004 ein recht eigensinniges Projekt über eine von ihm erfundene fiktive Insel namens Onomatopoeia (= Lautmalerei). Dort sorgt ein Phänomen namens „Ewige Dialektik“ für einen Dauerdiskurs unter allen Bewohnern und auf wirtschaftlicher Ebene sogar auch für Touristenströme. Objektivität gilt dort als Alleinstellungsmerkmal für Schwäche. Im Kunstverein Hannover ist nun der zweite Teil von Charles Averys groß angelegtem Ausstellungsprojekt zu sehen. Ja, es riecht nach einem sauberen Zehn-Jahres-Plan. Mindestens. Nach einer Einführungsshow („The Islanders“, 2008) wird nun umfangreich der Hafen dieser ominösen Insel vorgestellt. Hierzu entstehen in erster Linie klein- und großformatige Zeichnungen mit dokumentarischen Touch sowie auch diverse skulpturale Objekte, die aus den Zeichnungen heraus ins Dreidimensionale überführt werden. Die großen Zeichnungen zeigen handwerklich hochwertige Genreszenerien mit verspielter Detailfreude. Ein Kellner trägt eine Schürze mit der Aufschrift „ Ceci n´est pas un bar.“ Die kunstgeschichtlichen Kalauer halten sich sonst in Grenzen. Gerade in den häufig gezeigten großen Menschenansammlungen sind die Einzelfiguren liebevoll zeichnerisch charakterisiert. Das Körpermodell fast aller Inselbewohner wirkt nach elastischer Dauerläufer-Leptosomie kurz vor Magersucht oder anhaltender Rezession. Averys Realo-Zeichenstil erinnert an gekonnt präzise Ingenieursmentalität aus den zwanziger Jahren mit aktuell dystopischem Beigeschmack. Das zeichnerische Können geht angenehmerweise nicht mit technischer Virtuosität hausieren. Aus irgendeinem Grund finden beim Medium Zeichnung Realismus- oder Akademismusdiskussionen nicht statt. Auf dem Referenz-Büchertisch in der Ausstellung liegen Borges, John Locke, Paul Noble, Robinson Crusoe und entsprechendes mehr. Manche Inselbewohner tragen mit großer Selbstverständlichkeit absurde romantisch-konstruktivistische Objekte auf dem Kopf. Andere Attraktionen sind einarmige Schlangen und ein nie gesehenes mysteriöses Wesen namens „Noumenon“ (ursprünglich ein Begriff von Kant für das „Gedachte“ oder „Ding an sich“), das bereits unzählige Expeditionen ins Inselinnere verursacht hat, allerdings ohne jeden Erfolg.

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Charles Avery, Ohne Titel (MaGregors Bar), Bleistift und Kreide auf Papier,
115 x 162 cm, 2008

Einige entscheidende, andere Setzungen oder Apriori´ innerhalb dieses Mikrokosmos schaffen eine sinistere Atmosphäre zwischen Frühcomic-Surrealität und leicht magischem Realismus aus Lateinamerika. Wie sähe eine Welt wohl aus, wenn Kugeln und Kreise jeder Art plötzlich ein Schwerverbrechen wären? Auch wenn das Beispiel nicht aus Averys Erfindungsrepertoire stammt, veranschaulicht sich damit verkürzt seine Vorgehensweise. Nimm der Grammatik das Komma weg, und sofort ist Platz für neue Poesie. Man stellt sich weiter beinahe zwangsläufig eine weitläufigen Bildroman auf unterschiedlichen Trägermedien mit spiraligen Handlungssträngen vor. Diese nahe liegenden Möglichkeiten lässt Charles Avery bisher konsequent links liegen, auch wenn bestimmte Figuren des öfteren in Erscheinung treten. Oder die ausschlaggebenden Protagonisten sind für künftige Ausstellungen schon fest eingeplant.

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Charles Avery, Ohne Titel (Empiriker), Gouache und Acryl auf Karton, Bronze, Installationsansicht, 2010

Die obskureren Hintergrundinformationen erschließen sich nicht durch die Betrachtung der Zeichnungen, sondern durch dezente Wandzettel sowie literarisch gehaltene Texte des Künstlers im Katalog. Sie geben am meisten unter- oder überbauartig Auskunft über die nebulöse Gesamtsituation auf besagter Insel. Die Gewichtung innerhalb diese medialen Gesamtpäckchen ist insofern klassisch konzeptuell angelegt. Alles Wesentliche finden Sie wie immer auf dem Beipackzettel. Das könnte auch einfach mal umgekehrt konfiguriert sein. Vielleicht klingt da fast schon wieder das Einzelschicksal einer Person interessanter, die sich seit vierzig Jahren ausschließlich von ein- und derselben Pizza ernährt. Falls man das vergleichen will, hat jemand wie Dana Schutz letztlich abstrus-lustigere Backgroundstorys für ihre Bilder am Start.