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Nadja Abt über „Histórias da Sexualidade“ im Museu de Arte de São Paulo Geschichten der Sexualität in Zeiten neuer Zensur

Die März-Ausgabe von Texte zur Kunst soll sich mit dem Verhältnis von Kunst zu Regeln beschäftigen. Denn das Aufdecken von Korruption und Machtmissbrauch haben in den letzten Monaten gezeigt, dass im Feld der Kunst manche Regelbrüche zunächst unsichtbar sind. Aber auch die wiederholten Zensurforderungen gegen als übergriffig und verletzend empfundene Werke zeugen davon, dass die Regeln der Kunst aktuell stark umkämpft sind.

Um Fragen der Zensur geht es auch bei den Historias da Sexualidade im Museu de Arte de Sao Paulo. Hier beschreibt Nadja Abt, wie im erstarkenden Konservatismus in Brasilien scheinbar alte Freiheiten der Kunst heute erneut in Frage stehen.

Über die Ausstellung „Geschichten der Sexualität“ (Histórias da Sexualidade) im Museu de Arte de São Paulo (MASP) [1] lässt sich nur mit einem Blick auf die dramatischen Entwicklungen in Brasiliens Kulturpolitik der letzten Monate berichten:

Seit Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff im August letzten Jahres per äußerst aggressivem Amtsenthebungsverfahren von ihrem Rivalen Michel Temer abgelöst wurde und etliche Korruptionsskandale das Land erschüttern, ist die Welle eines extremen Konservatismus kaum noch zu stoppen. Welche Macht diese rechten und evangelikalen Gruppierungen (vor allem die sogenannte Free Brazil Bewegung [2]) über das letzte Jahr gewinnen konnte, lässt sich auch anhand der Geschehnisse an einigen wichtigen Kulturinstitutionen Brasiliens ablesen.

So wird im September auf Druck des rechten Lagers die Ausstellung „Queermuseu: Cartografias da Diferença na Arte Brasileira“ im Kulturzentrum der Santander Bank Porto Alegre einen Monat vor offiziellem Ende geschlossen. Die Vorwürfe an die von Gaudêncio Fidelis kuratierte Gruppenausstellung mit 85 künstlerischen Positionen zum Thema sexuelle Vielfalt und LGBT-Bewegungen in Brasilien reichen von Blasphemie bis hin zu Pädophilie. Der Kurator selbst erfährt von der Schließung erst über die offizielle Facebookankündigung der Bank. [3]

Anfang Oktober eröffnet „35° Panorama da Arte Brasileira“ [4] im Museum für Moderne Kunst São Paulo (MAM), eine zweijährlich stattfindende Ausstellungsreihe zu aktuellen Positionen in der brasilianischen Kunst. Während der Eröffnung zeigt der Künstler Wagner Schwartz seine Performance „La Bête” bei der er sich, nackt auf dem Boden liegend wie ein lebendig gewordenes, faltbares „bicho“ von Lygia Clark, seine Arme und Beine von Besuchern bewegen lässt. Als ein vierjähriges Mädchen, die in Begleitung ihrer Mutter Zuschauerin der Performance ist, seine Hand berührt, verbreitet sich ein Youtube-Video davon virulent über alle Kanäle und der folgende Pädophilie-Aufschrei mit großen Protesten und Schließungsforderungen beschäftigt alle Zeitungen Brasiliens. Die Ausstellung wird zwar nicht geschlossen, doch das Dokumentationsvideo der Performance wird nicht gezeigt.

Vor der Eröffnung am 20. Oktober entscheidet sich das Museu de Arte de São Paulo im Zuge der Geschehnisse dafür, dem Druck der Konservativen und Evangelikalen nachzugeben und die Ausstellung „Histórias da Sexualidade“ ausnahmslos erst ab 18 Jahren freizugeben. Währenddessen werden die Gegenstimmen lauter: Internationale Medien berichten, so dass die Eröffnung mit einer großen Demonstration gegen die neue Zensurwelle vor dem Museum beginnt und eine Künstler/innengruppe das von mehr als 1200 Personen unterzeichnete Manifest „Für Demokratie“ [5] in der Menschenmenge vorliest.

Anfang November reist Judith Butler für ein öffentliches Symposium nach São Paulo und wird von rechten Demonstrierenden bereits am Flughafen mit den Worten „Verbrennt die Hexe“ empfangen. Vor dem Kulturzentrum, in dem Butlers Rede stattfindet, verbrennen Evangelikale Puppen mit Butlers Gesicht.

Wagner Schwartz, „La Bête", 2017

Dies als Kontext der Ausstellung zu den „Geschichten der Sexualität“. Der Plural des an Foucaults Oeuvre angelehnten Titels verspricht eine breitgefächerte Auseinandersetzung mit Schwerpunkt auf internationalen queeren und feministischen Bewegungen, wofür die Kurator/innen Adriano Pedrosa, Camila Bechelany, Lilia Schwarcz und Pablo Leon de La Barra über 250 Werke, teils aus dem eigenen Bestand, teils als internationale Leihgaben, zusammengestellt haben. Einleitend gab es bereits vor einem Jahr ein Symposium unter gleichem Titel, bei dem Theoretiker/innen, Künstler/innen und Kurator/innen wie beispielsweise Nina Power, Amara Moira, Övül Durmuşoğlu und Richard Meyer über feministische und LGBT-Bewegungen Vorträge hielten. Begleitend zur Ausstellung werden wöchentlich vor allem brasilianische Filme (ab 18) zum Thema gezeigt. [6]

Die internationalen Werke reichen von Edgar Degas, Egon Schiele, Francis Bacon über Robert Mapplethorpe, Anna Bella Geiger bis hin zu Valie Export, Marta Minujín, Tracey Moffatt, General Idea, Hudinilson Jr. und zeitgenössischen brasilianischen Künster/innen wie Cibelle Cavalli Bastos und Alexandre da Cunha, die thematisch in 9 Sektionen unterteilt gehängt wurden. Sortiert wurde unter anderem nach Voyeurismus, Religiositäten, Akte, Sprachen, Sex Markt und Totemismus, um nur einige der verhandelten Themen zu nennen. Leider ist diese sehr ambitionierte Fülle an Arbeiten im 1. Stock des von Lina Bo Bardi entworfenen Gebäudes kaum in einem Raum unterzubringen, weswegen die neun Sektionen messeartig durch eine Kubenarchitektur angedeutet werden.

Jac Leirner, „Os cem – Pornografía“, 1987

Mit dem Siebdruck „Obama Lady #5“ (2012) thematisiert das brasilianisch-französische Künstlerkollektiv avaf (assume vivid astro focus) Rassismus, Xeno- und Homophobie. Gezeigt werden stereotype Kurven einer Frauensilhouette in schwarz-pink mit grünen Haaren und violettem Mund, die mit langen gelben Fingernägeln ihren erigierten Penis hält. Die Figur im eleganten Kontrapost erinnert an schillernde Transgender-Größen des Nachtlebens São Paulos, wie beispielsweise die Sängerin und Schauspielerin Linn da Quebrada. Avaf, die auch Teil des ehemaligen Berliner Künstler/innenkollektivs Basso waren, spiegeln in ihren bunten Arbeiten und Installationen im öffentlichen Raum eine queere Szene wider, die sich erneut verstärkt gegen aggressive Homophobie und Ausgrenzung wehren muss.

Als zynische Antwort auf die laufenden Korruptionsskandale der vor allem weißen, reichen Männer an Brasiliens Spitze, lässt sich die Arbeit Jac Leirners lesen: „Os cem – Pornografía (The One Hundreds – Pornography)“ (1987) der brasilianischen Künstlerin ist eine quadratische Collage aus gesammelten 100-Cruzeiros-Geldscheinen, vollgekritzelt mit kleinen Pornobildchen. Der Cruzeiro als Währung wurde unter der Diktatur 1967 erst ab-, dann 1970 wieder angeschafft und ab 1986 für vier Jahre vom Cruzado abgelöst. Leirners Arbeit ist daher auch Sinnbild für die fortwährende instabile Wirtschaft des Landes. Viel Aufsehen erregte im Vorfeld schon die Malerei der in Rio de Janeiro lebenden Künstlerin Adriana Varejão „Cena de interior II (interior scene II)“ von 1994. Die Arbeit in der Sektion Sexuelle Spiele ist als Imitation einer alten Reispapiermalerei mit japanisch und kolonialistisch anmutendem Fantasieinterieur angelegt. Die Darstellungen von Sexpraktiken zwischen schwarzen und weißen Menschen, sowie zwischen einem nicht näher definierbaren Tier und einem Mann sind provokante Anspielungen auf japanische Shunga-Drucke, sogenannte japanische Frühlingsbilder, die ab dem 17. Jahrhundert aufkamen, sexuelle Praktiken darstellten und bis 1994 unter Zensur standen, sowie auf die Sklavenabbildungen des in Brasilien stationierten Franzosen Jean-Baptiste Debret (1768-1848), der die Grausamkeiten der weißen Kolonialisten in Lithographien festhielt.

Adriana Varejão, „Cena de interior II", 1994

Vor ein paar Wochen entschied sich das Museum doch, Kindern und Jugendlichen in Begleitung von Erwachsenen den Zutritt zu gewähren. Dass die didaktische Vermittlung wenn auch nicht kindgerecht, so doch etwas zu einfach ausgefallen ist, lässt sich an der leicht willkürlichen Unterteilung der vielen Arbeiten in die Sektionen ausmachen. Zudem schleicht sich beim Betrachten der Werke das Gefühl ein, dass die Geschichte der Sexualität mit der bloßen Repräsentation von Genitalien in der Kunst zu erzählen versucht wird. Auch findet sich das kuratorisch ambitionierte Projekt von Vorträgen, Filmen und Ausstellung leider nicht als erweiterter textlicher Diskurs im Katalog wieder. Dennoch ist in Zeiten von regressiver Zensur jede dagegenhaltende Geste der öffentlichen Institutionen wichtig für das Schreiben einer möglichen Gegengeschichte.

Histórias da Sexualidade“ im Museu de Arte de São Paulo, 20. Oktober 2017– 14.Februar 2018

Nadja Abt ist Künstlerin. Sie lebt und arbeitet in São Paulo und Berlin.

Titelbild: Assume Vivid Astro Focus, „Obama Lady #5“, 2012