MUT ZUR SERENDIPITÄT Ann Mbuti über Kara Walker im Kunstmuseum Basel
Es wäre zynisch zu sagen, dass die letztjährigen Entwicklungen rund um die Black Lives Matter-Bewegung ein Glücksfall für die Ausstellungsplanung des Kunstmuseums Basel gewesen sind. Und doch bereitet die erhöhte Sensibilisierung für Rassismus und Diskriminierung – allein in Hinblick auf die Aufmerksamkeitsökonomie der Kunstwelt – den perfekten Boden für Kara Walkers aktuelle Einzelausstellung „A Black Hole Is Everything a Star Longs to Be“, die Anfang Juni im Kunstmuseum eröffnet wurde. Wie viele andere Ausstellungen war sie bereits für Sommer 2020 geplant, doch der zeitliche Aufschub hat ihre Relevanz nur noch verstärkt.
Bereits seit den 1990er Jahren befasst Walker sich mit den Verletzungen und Narben, die Kolonialismus, Rassismus und Sklaverei verursacht haben und deren Auswirkungen auch heute noch die US-amerikanische Gesellschaft prägen. Damals waren es die eindrücklichen Scherenschnitte, die sie zum gefeierten Star der Kunstwelt machten und die sich bis heute als ihr Markenzeichen gehalten haben. Darüber hinaus greift Walker auf Malerei, Text, Film und Skulptur zurück und funktioniert dabei very instagramable, wie sie 2014 mit ihrer monumentalen Zuckersphinx in der Installation A Subtlety, or the Marvelous Sugar Baby in der ehemaligen Raffinerie des Zuckerherstellers Domino in Brooklyn bewies. Auf den ersten Blick wirkt die riesige Skulptur erhaben, allerdings greifen ihre vielschichtigen Bedeutungsebenen die kolonialen Verstrickungen des Zuckerhandels auf, für den die Domino-Raffinerie einst genutzt wurde.
Für ihre erste Einzelausstellung in der Schweiz wird der Fokus neu gesetzt: In Basel ist erstmals ein Einblick in Walkers persönliches Archiv der letzten 28 Jahre zu sehen, das seit den Anfängen ihrer Karriere in ihrem Studio entstanden ist. Über vier Räume erstreckt sich ein Sammelsurium von Werken auf Papier: von kleinformatigen Malereien, Zeichnungen in all ihren Zwischen- und Vorstufen, schreibmaschinengetippten Notizen auf Karteikarten, handbeschriebenen Zetteln bis hin zu Briefen und niedergeschriebenen Träumen. Die Zeichnungen – auch die Texte versteht Walker als solche – sind auf langen Papierrollen abgebildet sowie auf kleinen Zetteln und losgelösten Seiten von Skizzenbüchern. Auch finden sich in dem Archiv leere Cornflakes-Packungen und Zeitungssauschnitte, wie etwa der mit einem Artikel über die Grundsteinlegung des Martin Luther King, Jr. Memorial in Washington.
Als Besucherin ist es unmöglich, all das im Detail aufzunehmen. Über 600 Sammelstücke liegen unter dem Glas von Schaukästen und hängen an den Wänden. Die Auswahl ist zwar umfangreich, aber präzise getroffen. Besuchenden präsentiert sich eine einmalige Collage aus den unterschiedlichen Versatzstücken, die das Universum von Walkers Schaffen ausmachen. Die Werke sind nicht chronologisch präsentiert, höchstens in Werkgruppen zusammengefügt, und wirken so nicht als Einzelstücke, sondern entfalten ihre ästhetische Kraft aus ihrer Gesamtheit.
Stellenweise stößt die Form der Präsentation jedoch an ihre Grenzen. Am Fuße der grauen Marmortreppe im ebenfalls grauen Neubau des Baseler Kunsthauses, die man zur Ausstellung hinuntergehen muss, zeigt jeweils ein Pfeil nach links und nach rechts. Statt eines Rundgangs durchquert man einen abgedunkelten Saal, der den Ausstellungsparcours unterbricht und Werke von Donald Judd und Frank Stella aus der Museumssammlung präsentiert, die wunderbar mit der Architektur harmonieren. Walkers fragilen Arbeiten auf Papier tut der graue Raum mit seiner Neonröhrenbeleuchtung, die sich in den Verglasungen spiegelt, allerdings weniger gut. In der kühlen Atmosphäre wirken vor allem die kleineren Formate etwas verloren.
In der Pressekonferenz vor Eröffnung der Ausstellung sprach Walker vom Kanon einer spezifisch westlichen Kunstgeschichte, von der sie inspiriert und beeinflusst ist und in die sie sich einschreibt, von der sie sich aber auch immer wieder zu distanzieren versucht. Die Dialektik zwischen dem patriarchalen Erbe dieses Narrativs und dem Einnehmen einer dezidiert weiblichen, Schwarzen Perspektive beschreibt Walker dabei stets als ein wesentliches Moment ihrer künstlerischen Identität. Die Ausstellungsanordnung mit den eingeschobenen Minimalisten Judd und Stella macht dieses Ringen auf unmissverständliche Weise erfahrbar.
Die Idee zu dieser Ausstellung entstand bereits 2017, wobei anfangs vor allem Walkers Zeichnungen im Vordergrund stehen sollten, so Anita Haldemann, Leiterin des Kupferstichkabinetts des Kunstmuseums und Kuratorin der Ausstellung. Der Plan, das Archiv zu öffnen, sei erst mit der Zeit aufgekommen. Ein Entschluss, der den klassischen Zeichnungsbegriff eines Kupferstichkabinetts zeitgenössisch erweitert.
Das trifft nicht nur auf formaler, sondern auch auf inhaltlicher Ebene zu. Die rund 600 Arbeiten der Ausstellung kreisen um Rassismus, Gender, Sexualität und Gewalt. Teils vulgär und sexuell explizit, teils makaber und grotesk, ist Walkers Figurenkabinett nicht einfach zu konsumieren. Dabei bedient sie sich der Stereotype, die sich über Jahrhunderte als Sedimente von Diskriminierung und Rassismus im visuellen Gedächtnis der USA abgesetzt haben, und komponiert sie zu einem Ensemble, das eine neue Geschichte erzählt: Statt sich auf die Perspektive der Unterdrückten zu beschränken, bezieht Walker die Position der Unterdrückenden mit ein. Damit verleiht sie nicht nur dem Leid, sondern auch seinen Ursachen ein Gesicht.
In den vielen Texten, die im Laufe der fast 30-jährigen Karriere Walkers über ihr Werk geschrieben worden sind, fällt häufig der Begriff der Provokation. Die explizite Darstellung von Gewalt, von sexuell aufgeladenen Posen, vulgärer Sprache oder unerbittlicher Satire wird der Künstlerin oft als Tabubruch ausgelegt. Doch Walkers Werk begnügt sich nicht damit, lediglich vor den Kopf zu stoßen, Dinge anzuzweifeln und herauszufordern. Vielmehr liefert sie mit ihrer karikaturhaften Fiktionalisierung der US-amerikanischen Geschichte auch eine neue Lesart derselben, die ihre unangenehmen Seiten explizit macht, indem sie die darin eingeschriebenen Widersprüche herauskehrt.
Neben dem Archiv zeigt die Ausstellung 46 neuere Arbeiten, die zwischen 2018 und 2020 entstanden sind. Das Hauptaugenmerk liegt hier auf dem patriarchalen Einfluss der alten Meister. In den viel beachteten Obama-Bildern setzt Walker diesen auf verschiedenen Ebenen um. Die vier großformatigen Zeichnungen wirken in ihrer technischen Umsetzung auf den ersten Blick wie Malereien, wurden aber in Pastell- und Contékreide gefertigt. Den ehemaligen US-amerikanischen Präsidenten staffiert sie mit verschiedenen religiösen und literarischen Motiven aus und zeigt ihn als Retter und Hoffnungsträger, der allerdings nicht ohne Leidensgeschichte auskommt. So stellt sie etwa Obama in der Manier von Shakespeares Othello, der Trumps abgetrennten Kopf im Schoß hält (Barack Obama as Othello „The Moor“ With the Severed Head of Iago in a New and Revised Ending by Kara E. Walker, 2019) einer Version von sich als exotisiertem Stammesführer gegenüber (Barack Obama as „An African“ with a Fat Pig (by Kara Walker), 2019). An anderer Stelle wiederum wird er zum heiligen Antonius, von Dämonen gepeinigt, die der Titel des Werks als Verschwörungstheoretiker*innen entlarvt, die Obama unterstellten, dass er nicht in den USA geboren sei (Barack Obama Tormented Saint Anthony Putting Up With the Whole „Birther“ Conspiracy, 2019). In Walkers Zeichnungen wird die Figur des ersten Schwarzen Präsidenten der USA gleichermaßen zum Retter, zum Märtyrer und zur gequälten Seele; die Künstlerin bringt damit neue Stereotypen in die Welt, die in ihrer Überzeichnung genauso unerträglich sind wie jene Darstellungen des ‚Afrikaners‘, auf die sie bezogen sind.
Walker weicht einer eindeutigen, singulären Antwort auf die Frage, wie sie sich als Schwarze Frau in der kunsthistorischen Tradition des Westens positioniert, aus und bezieht sich auf eine Pluralität von Möglichkeiten. Sie vermischt süffisant und spielerisch Stile aus unterschiedlichen Epochen und liebäugelt mit der Idee eines „Kolonisierens“ der weißen Leinwand, das Künstler*innen betreiben würden. [1] In anderen Momenten hingegen – beispielsweise dann, wenn sie nach der Bedeutung des Titels ihrer Ausstellung in Basel gefragt wird – weist sie die künstlerische Autorinnenschaft von sich: Als sie den Titel wählte, habe er einfach Sinn gemacht. Ohnehin ist man bei Walker mit einem gewissen Mut zur Serendipität, in dem unterschiedliche Zeiten miteinander verschmolzen und die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion aufgeweicht werden, am besten beraten.
„Kara Walker: A Black Hole Is Everything a Star Longs to Be“, Kunstmuseum Basel, 5. Juni bis 26. September 2021. Danach wandert die Ausstellung an die Schirn Kunsthalle Frankfurt und wird dort vom 15. Oktober 2021 bis zum 16. Januar 2022 zu sehen sein.
Ann Mbuti ist freie Autorin und Kulturpublizistin in Zürich.
Image credit: 1. Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, © Kara Walker; 2. Fredriksen Family Collection, © Kara Walker; 3. Kunstmuseum Basel
Anmerkung
[1] | https://www.youtube.com/watch?v=7jZyg7nOkcc (min 00:21:05 bis 00:21:25). |