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FLUCHT IN DIE ÖFFENTLICHKEIT Anna Voswinckel über „Hosen haben Röcke an. Künstlerinnengruppe Erfurt 1984–1994“ in der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK), Berlin

Künstlerinnengruppe Erfurt, Gruppenbild, 1990

Künstlerinnengruppe Erfurt, Gruppenbild, 1990

Die aktuelle Ausgabe von TEXTE ZUR KUNST mit dem Titel „Collectivity“ widmet sich der Konjunktur des Kollektiven in der Kunst. Dabei ist es vor allem der normative Individualismus der neoliberalen Gesellschaft, gegen den zeitgenössische Kollektive antreten: Da Eigenverantwortung und eine deregulierte Sozial- und Pflegepolitik den Wohlfahrtsstaat weitgehend ersetzt haben, verspricht gemeinschaftsbasierte Solidarität, dieser Entwicklung aktiv entgegenzuwirken. Auch die Mitglieder der Künstlerinnengruppe Erfurt kämpften gemeinsam für mehr Sichtbarkeit und Teilhabe – zunächst in der zerfallenden DDR, später während des neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsumbaus der Nachwendezeit. Eine Ausstellung in der Berliner nGbK eröffnet nun seltene Einblicke in die Arbeit der Gruppe und fördert zuweilen ebenso aufschlussreiche wie erschütternde Dokumente ihrer Entstehung zu Tage. Ein feministischer Gegenentwurf, der bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat, wie die Künstlerin und Kuratorin Anna Voswinckel befindet.

Die erste retrospektive Überblicksschau über das Werk der Künstlerinnengruppe Erfurt (1984–1994), die nun in der Berliner nGbK zu sehen ist, versucht nachvollziehbar zu machen, wie eine Gruppe von Künstlerinnen aus der repressiven Atmosphäre der zerfallenden DDR und der prekären Nachwendezeit heraus eine kooperative und selbstermächtigende künstlerische Praxis entwickelte. Gemeinsam war den Frauen die Suche nach einer künstlerischen Form, um die Angst vor staatlicher oder partnerschaftlicher Gewalt und Unterdrückung zu bewältigen – existenzielle Erfahrungen in patriarchalen Gesellschaftsstrukturen, die bis heute Auslöser für intersektionale feministische Kämpfe sind.

Die Künstlerinnengruppe wurde 1984 auf Initiative von Gabriele Stötzer in Erfurt gegründet. [1] Die Gründungsmitglieder – neben Stötzer Monika Andres, Verena Kyselka, Monique Förster, Gabriele Göbel, Ina Heyner, Ingrid Plöttner, Elke Karl und Harriet Wollert – waren allesamt künstlerische Autodidaktinnen. Keine von ihnen hätte wohl einen Studienplatz an einer der renommierten Kunstakademien der DDR erhalten. Die Gruppe drehte experimentelle Super-8-Filme und führte Mode-Objekt-Schauen auf – Bühnen-Performances, bei denen Kostümbilder und Textilobjekte als Modekollektionen präsentiert wurden. In der Erfurter Underground- und Punkszene der 1980er Jahre fand sie Anregung und Rückhalt. Den Künstlerinnen ging es darum, sich gemeinsam im Hier und Jetzt Raum und Sichtbarkeit zu erkämpfen. Eine Ausreise nach Westdeutschland war keine Option: „Wir wollten per se dableiben“, beschreibt Andres die Grundhaltung rückblickend.

Künstlerinnengruppe Erfurt / Monika Andres, „Name, Stadt, Land“, 1988

Künstlerinnengruppe Erfurt / Monika Andres, „Name, Stadt, Land“, 1988

Die nGbK ist, sowohl was die Sichtbarmachung von Frauenpositionen als auch kollektive Arbeitsweisen [2] betrifft, ein besonders geeigneter Ort für diese Ausstellung, die von einer fünfköpfigen Arbeitsgruppe kuratiert wurde, bestehend aus den Kunsthistorikerinnen Susanne Altmann, Kata Krasznahorkai, Christin Müller, Franziska Schmidt und Sonia Voss. Alle fünf Kuratorinnen arbeiten und forschen seit vielen Jahren zur Kunst der ehemaligen Ostblockländer, insbesondere zum Underground und zu marginalisierten Praxen von Künstlerinnen. [3]

Die gemeinschaftlich realisierten Super-8-Filme machten einen Schwerpunkt der Praxis der Künstlerinnengruppe aus. Um dies zu unterstreichen, wurden für die Ausstellung fünf Filme ausgewählt, deren chronologische Abfolge die nGbK in der Art eines Parcours räumlich strukturiert: Frauenträume (1986), Die Geister berühren (1987), Komik–komisch (1989), Signale (1989) und Die Überfahrt (1990). Die fünf Filme sind jeweils großflächig auf im Raum verteilte Wände aus Spanplatten projiziert. Jede der fünf Kuratorinnen hat sich mit jeweils einem Film auseinandergesetzt und ihn mit Skizzen, Fotografien, Kostümen, Texten, Audio- und Videodokumentationen in Beziehung gesetzt, die im Saalblatt als Werk-Cluster aufgeführt werden.

Im Eingangsbereich der Ausstellung wird dieser prozesshafte Ansatz am deutlichsten: Über eine großflächige fotografische Reproduktion der Törichten Jungfrauen am gotischen Portal des Erfurter Doms sind Porträtfoto-Tableaus der Künstlerinnen (Jede fotografiert jede, 1988) gehängt, im unmittelbaren Umfeld befinden sich ein Kleiderständer mit Kostümen, ein Fernseher mit einer TV-Dokumentation über die Gruppe (Liebe, Lust und Widerstand, SWR, 1991) sowie Andres’ monumental beleuchtete Figurenskizze Lichtträgerinnen (Entwurf für ein Wandgemälde auf Folie, 1994/95), die hier wie eine Variation der Törichten Jungfrauen anmutet – als selbstbewusste Verkörperung weiblicher Delinquenz. Einige der ikonischen Kostüme aus den Mode-Objekt-Schauen der Gruppe sind als Originale in der nGbK ausgestellt, u. a. Andres’ Zeitungskostüm aus Zeitungsausschnitten aus dem Neuen Deutschland (1989), Kyselkas Nachrichtensprecherin (auch: Antennenkostüm, 1989) und Stötzers Coca-Cola-Kleid (auch: Römisches Korsett, 1990).

„Hosen haben Röcke an. Künstlerinnengruppe Erfurt 1984–1994“, neue Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK), 2021, Ausstellungsansicht

„Hosen haben Röcke an. Künstlerinnengruppe Erfurt 1984–1994“, neue Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK), 2021, Ausstellungsansicht

Der Ausstellungsplanung gingen intensive Recherchen in den Privatarchiven der Künstlerinnen und ihrer Weggefährt*innen voraus, da wenige der Werke bisher in private oder staatliche Sammlungen aufgenommen wurden. Die Ausstellung versammelt zudem zahlreiche aufschlussreiche wie erschütternde Dokumente, die den historischen Kontext der Kunstaktionen vermitteln: Briefe und Stasiakten zeugen von staatlicher Repression, aber auch von Solidarität unter weiblichen Kulturschaffenden, wie Christa Wolfs Brief an den Staatsanwalt mit der Bitte um Haftentlassung von Wollert zeigt. Die Dokumente sind in mehreren begehbaren Räumen platziert, die sich hinter den Filmprojektionswänden verbergen. In diesen Abseiten werden teils traumatische Erfahrungen beleuchtet, die den Arbeiten vorausgingen. So kontextualisiert etwa ein Raum voller bunter Luftballons und Kopien von Briefen Wollerts Performance in ihrem Film Komik–komisch (1989): Die Luftballons, die ihr hier unter dem Kleid wegfliegen, symbolisieren den Verlust ihres Kindes durch Zwangsadoption – eine erschütternde Offenbarung im Anschluss an das Screening des heiteren Super-8-Films.

Dokumente wie diese lassen heute noch verständlich werden, warum die „Flucht in die Öffentlichkeit“ (Stötzer) [4] für die Künstlerinnengruppe in der späten DDR (und auch über den Systemwechsel hinaus) so wichtig und stimulierend war. Am 4. Dezember 1989 kam es zur ersten Besetzung einer Stasizentrale in der DDR durch die Gruppe Frauen für Veränderung. Die fünf Frauen, davon waren drei Mitglieder der Künstlerinnengruppe, drangen in die Stasizentrale Erfurt ein und verhinderten die bereits in Gang gesetzte Aktenvernichtung, was bis heute vor allem in Westdeutschland wenig bekannt ist.

Nach dem Systemwechsel hatten die ostdeutschen Künstlerinnen kaum Aussicht auf Anerkennung ihres Werks auf dem neuen Kunstmarkt. „1989 bin ich als Künstlerin gestorben“, fasst es Stötzer rückblickend zusammen. [5] Im letzten Ausstellungsabschnitt geht es daher vor dem Hintergrund der finanziellen Existenzsicherung der Künstlerinnen nach 1989 auch um die Verstetigung von Arbeitszusammenhängen und Ausstellungsstrukturen. Entsprechend gründeten einzelne Mitglieder der Gruppe das bis heute von Monique Förster geleitete Kunsthaus Erfurt, um Ausstellungsmöglichkeiten für Off-Kunst zu schaffen und von Marginalisierung betroffene Künstlerinnen zu fördern.

Kollektiv ausgeübte Kunst war seit der Verstetigung des privatwirtschaftlichen Kunstmarkts immer auch als Kritik am Alleinstellungsmerkmal und dem damit verbundenen Marktwert des solitären Künstler*innensubjekts intendiert. Dem neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsumbau der Nachwendezeit diente die Figur der Künstler*in als Vorbild für ein kreatives Alleinunternehmer*innentum – auch diese Dynamik ließ im Feld der Kunst ein Begehren nach kollektiver Zusammenarbeit wiederaufflammen, von der schließlich auch das gegenwärtige Interesse an Kollektiven im Feld der Kunst zeugt. [6] Was sich von der Künstlerinnengruppe Erfurt daher am besten lernen lässt, ist nichts weniger als der gemeinschaftliche Umgang mit gesellschaftlichen und persönlichen Krisen.

„Hosen haben Röcke an. Künstlerinnengruppe Erfurt 1984–1994“, neue Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK), Berlin, 27. November 2021 bis 30. Januar 2022.

Ein Katalog zur Ausstellung ist für Anfang 2022 bei Hatje Cantz angekündigt.

Anna Voswinckel ist Künstlerin, Kuratorin und Gestalterin. Sie lebt in Berlin und lehrt Fotografie und visuelle Kommunikation an verschiedenen deutschen Kunsthochschulen.

Image credits: 1. Foto: Gabriele Stötzer, © Archiv Gabriele Stötzer; 2. Foto: Christiane Wagner, © Archiv Monika Andres; 3. Foto: Ruppert Bohle, © Ruppert Bohle / nGbK

Anmerkungen

[1]Gabriele Stötzer (damals Gabriele Kachold) war von 1976 bis 1978 im Frauengefängnis Hoheneck inhaftiert. Während ihrer Haftzeit begann sie zu schreiben und zu zeichnen, ab 1980 betrieb sie die überregional bekannte private Galerie im Flur in Erfurt, die 1981 bereits durch die Stasi liquidiert wurde. Siehe hierzu die Ausstellung „Artists & Agents – Performancekunst und Geheimdienste“, co-kuratiert von Kata Krasznahorkai.
[2]Das Kuratieren in Arbeitsgruppen (AGs) ist in dem 1969 gegründeten basisdemokratischen Kunstverein Bedingung; siehe hierzu 50 Jahre neue Gesellschaft - Arbeitsgruppe Kunst. In den letzten Jahren wurden in der nGbK vermehrt Projekte mit Fokus auf Kunst in den ehemaligen Ostblockländern und der (post-)DDR realisiert. Beispiele: 2018 „Left Performance Histories“ , eine Ausstellung zu subversiven Performancepraktiken in Osteuropa vor 1989, seit 2014 die Etablierung des Satellitenraums station urbaner kulturen in Berlin-Hellersdorf sowie die unmittelbar vorausgehende Ausstellung „… oder kann das weg? Fallstudien zur Nachwende“, September bis November 2021. Im Rahmen von „Left Performance Histories“ waren die „trans“-Fotoserien von Stötzer sowie Dokumente von einer Objekt-Modenschau der Künstlerinnengruppe Erfurt bzw. ExTerra XX bereits 2018 in der nGbK zu sehen.
[3]Susanne Altmann leitete 2018/19 die viel beachtete Übersichtsausstellung „Medea muckt auf. Radikale Künstlerinnen hinter dem Eisernen Vorhang“ in der Staatlichen Kunstsammlung Dresden, Kata Krasznahorkai kuratierte gemeinsam mit Sylvia Sasse und Inke Arns die Ausstellung „Artists & Agents – Performancekunst und Geheimdienste“ (die vom AICA Kunstkritiker*innenverband zur Ausstellung des Jahres 2020 gekürt wurde).
[4]Siehe „Der Stoff waren unsere Leben. Ein Gespräch zwischen Stötzer, Elske Rosenfeld und Anna Voswinckel“ im Rahmen des Rechercheprojekts „… oder kann das weg? Fallstudien zur Nachwende“, 2021.
[5]Siehe ebd.; eine gleichberechtigte Wahrnehmung von Performancepraktiken in der DDR und Nachwendezeit mit internationalen feministischen Kunstpositionen wurde erst ab 2009 durch die Aufnahme von Werken von Verena Kyselka, Else Gabriel, Cornelia Schleime und Stötzer in das Performancearchiv Re.act.feminism – a performing archive ermöglicht. Ein großes Verdienst kommt hierbei der Westberliner Kuratorin Beatrice Stammer zu, die bereits in den späten 1980er Jahren, auch im Rahmen von nGbK-Projekten, Kontakt zu DDR-Künstlerinnen aufgenommen hatte.
[6]Künstler*innengruppen der 1990er Jahre, wie die Honey Suckle Company, suchten im gestaltungsoffenen Raum des Nachwende-Berlins ähnlich wie die Künstlerinnengruppe Erfurt nach einen erweiterten Kunstbegriff in der Verschmelzung von Mode, Musik und bildender Kunst. Aktuell erleben Kurator*innenkollektive Aufwind, so wurden etwa Gruppen wie ruangrupa oder What, How & for Whom im ArtReview 2021 unter den „Power 100“ gelistet. Die Künstlerinnengruppe Erfurt hatte sich bewusst nie als Kollektiv bezeichnet, da der Begriff nach jahrzehntelanger Verordnung von oben als ausgehöhlt wahrgenommen wurde.