IN GLOBALER PERSPEKTIVE Selima Niggl über „Gruppendynamik. Kollektive der Moderne“ in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München
Die Städtische Galerie im Lenbachhaus wartet mitten in Pandemiezeiten mit einem Projekt auf, das den Maßstab kuratorischer Arbeit hoch ansetzt und laut eigenen Angaben eines der aufwändigsten seit Langem ist. Schon im März 2021 eröffnete mit „Gruppendynamik. Der Blaue Reiter“ der erste, aufgrund der eigenen umfangreichen Sammlung vermutlich einfacher zu realisierende Teil. Seit dem 19. Oktober wird diese Schau durch eine zweite, sowohl organisatorisch wie auch inhaltlich herausfordernde Ausstellung mit dem vielversprechenden Titel „Gruppendynamik. Kollektive der Moderne“ erweitert. Umfangreich gefördert von der Kulturstiftung des Bundes (Programm Museum Global) war es dem Lenbachhaus möglich, ein Team aus immerhin acht Kurator*innen abzustellen, die das Phänomen Künstler*innengruppe mit bewusst außereuropäischem Fokus untersuchten.
Dass die pandemiebedingten Beschränkungen die Ausstellungsarbeit stark beeinträchtigen können, ist mittlerweile bekannt. Was sie allerdings für eine global ausgerichtete Ausstellung wie diese bedeutete, lässt sich nur erahnen. So war ein der Schau vorangehendes Symposium geplant gewesen, bei dem es um die physische Vermittlung transkultureller Wissensformen zum Thema „Gruppen“ gehen sollte. Auch wären Mittel vorhanden gewesen, dass das Münchner Kurator*innen-Team seinerseits nach Indien, Japan, China, Afrika oder Südamerika hätte reisen können. Dann aber musste alle Kommunikation in den digitalen Raum verlegt werden, was immerhin den Vorteil hatte, dass alle Vorträge für jede*n zugänglich waren und nun zeitlich unbegrenzt im Netz abrufbar sind.
Die aktuelle Ausstellung präsentiert 14 unterschiedliche „Kollektive“ aus Argentinien, Brasilien, China, Indien, Japan, Marokko, Pakistan, Polen, dem Sudan und Nigeria, die in dem langen Zeitraum zwischen 1910 und 1980 zusammenfanden. Dabei wird der Begriff des Kollektivs nicht näher definiert. Bei den ausgewählten Gruppen handelt es sich um lose Zusammenschlüsse, um Schulen, aber auch um eindeutiger bestimmte Gemeinschaften. So wenig deren Namen – Nsukka School (Nsukka), Grupo dos Cinco (São Paulo), Bombay Progressive Artists’ Group (Mumbai), Lahore Art Circle (Lahore), Khartoum School und Crystalists (beide Khartum), Grupa „a.r.“ (Łódź), Wuming Huahui/Gruppe ohne Namen (Beijing), Artistas del Pueblo und Martín Fierro (beide Buenos Aires), Casablanca School (Casablanca), Kokuga Sosaku Kyokai (Kyoto) sowie Akushon, Mavo, Sanka (Tokyo) – im europäischen Raum bekannt sein mögen, so populär sind die Künstler*innen in den jeweiligen Ländern, in denen sie tätig sind bzw. waren. Ein Zusammenschluss wie die Grupo dos Cinco habe, wie Kuratorin Stephanie Weber erläutert, einen ähnlichen Bekanntheitsstatus wie in Deutschland Der Blaue Reiter.
Mit der Auswahl der gezeigten Gruppen wird eine Gemeinsamkeit deutlich. Vornehmlich in gesellschaftspolitischen Umbruchsituationen wie Revolutionen, Wirtschaftskrisen oder der Auflehnung gegen Kolonialmächte scheinen sich künstlerische Zusammenschlüsse zu bilden. So suchen Gleichgesinnte gerade unter widrigen Bedingungen den Austausch und die gegenseitige Bestärkung. Gleichzeitig – und da unterscheiden sich Gruppen in Tokyo, Khartum oder München nicht wesentlich voneinander – gibt es interne Rivalitäten, Streitigkeiten und Ermüdungserscheinungen, die oft schon nach kurzer Zeit zu Abspaltungen, Neugründungen oder Auflösung führen. Die Werke der Ausstellung, mit der eine globale Moderne vorgeschlagen werden soll, unterscheiden sich angesichts der unterschiedlichen geografischen und zeitlichen Verortung allerdings formal stark voneinander, wobei sich in vielen Arbeiten ein gemeinsamer Widerspruch zeigt: Einerseits sind europäische Einflüsse, die sich in vielen Künstler*innen-Biografien mit Reisen in westliche Kunstzentren decken, zu erkennen – etwa bei der zur Grupo dos Cinco gehörenden Malerin Anita Malfatti, die von 1910 bis 1914 in Berlin studierte und u. a. mit dem spätimpressionistisch beeinflussten Frauenporträt A Estudante von 1915/16 vertreten ist, oder bei dem 1916 geborenen Shakir Ali vom Lahore Art Circle, der noch 1957 sichtlich auf den frühen kubistischen Picasso zurückgreift. Andererseits bleibt das Begehren, sich von eben diesen Vorbildern zu lösen und alternative, transkulturelle Zusammenhänge zu ermitteln, deutlich spürbar – zum Beispiel wenn die Grupa dos Cinco im Rahmen des „Movimento antropofágo“ den Einfluss der europäischen Moderne ebenso wie die europäische Vorstellung von „primitiver“ Kunst kritisch reflektiert. So heißt es im in der Ausstellung auf einem Plakataufsteller abgedruckten „Manifesto antropofágo“ von Oswald de Andrade von 1928: „Wir wollen die karibische Revolution. Größer als die französische [!] Revolution. Die Vereinigung aller Revolten, die dem Menschen dienen. Ohne uns hätte Europa nichts als seine armselige Erklärung der Menschenrechte.“
Dem Ausstellungsrundlauf sind drei Räume vorgeschaltet, die allgemeinen theoretischen Fragestellungen zum Sachverhalt Künstler*innengruppe gewidmet sind; dies wird durch eine Umkehr des Farbkonzepts der Ausstellungstexte (Weiß auf Orange statt Orange auf Weiß) kenntlich gemacht. Im ersten, mit „Inside Out“ überschriebenen Segment geht es um die brisanten Fragen, wer wann Gruppenmitglied war und wer keinesfalls dazugehörte, wer die Deutungshoheit über solche Fragen besitzt und wie Gruppengeschichte angesichts der oft sehr verschiedenen Selbst- und Fremdwahrnehmungen der einzelnen Gruppenmitglieder geschrieben werden kann. „Juan Garcìa Madeiro? Der Name sagt mir nichts. Hat garantiert nie zur Gruppe gehört“, wird beispielsweise aus Roberto Bolaños Roman Die wilden Detektive zitiert. In einer Vitrine liegen zudem Kataloge der chinesischen Gruppe Neuer Maßstab, die ihre eigene Historisierung boykottierten, indem sie 1995 sämtliche Werke und Archivalien ihrer Zusammenarbeit vernichteten. Und schließlich sehen wir eine Videoarbeit des senegalesischen Laboratoire Agit’Art, das einen Ort, nämlich den Innenhof des Hauses eines ihrer Mitglieder, und alle dort stattfindenden Tätigkeiten zu Kunst erklärten.
In einem komplexen Schaubild im zweiten, „Distribution“ betitelten Raum werden die unterschiedlichen thematischen und zum Teil auch historischen Verbindungslinien zwischen den gezeigten Kollektiven skizziert. Künstlerische Praktiken, die in der Ausstellung keinen Platz gefunden haben, wie etwa die der Gruppe Spur, des Blauen Reiters oder der Baghdad Group for Modern Art, tauchen hier ebenso auf. In einem dritten Raum informieren mit Zitaten und Fotografien bedruckte Fahnen über die Anbindung einzelner Gruppen an Kunstschulen (wie der Nsukka School, der Casablanca School oder der Khartoum School) während und nach der Zeit des Kolonialismus. Die Schulen wurden oft noch von den Kolonialmächten gegründet und mit westlichen Lehrer*innen besetzt, nach der Befreiung allerdings von einheimischen Künstler*innen zurückerobert. Später im Ausstellungsrundgang findet sich außerdem ein „Leseraum“, der einem offenen Lab gleichen soll: An einfachen Haken hängen die grafisch eindrücklich gestalteten Saaltexte vom magma design studio als DIN-A4-Drucke zum Mitnehmen, die sich an der Wand gegenüber in teils aufgerissenen Kartons als Nachschub wiederfinden; dazwischen lädt ein runder, mit in die Recherchearbeit eingeflossener Literatur voll beladener Tisch zur Vertiefung ein.
Den verschiedenen Gruppen und dazugehörigen Geografien werden wiederum einzelne Räume gewidmet. Diese sind jeweils für sich zu betrachten, stehen jedenfalls in keinem zwingenden inhaltlichen Zusammenhang, was auch die sehr präsente Ausstellungsarchitektur unterstreicht, die in jedem Saal ein anderes, auf die gezeigte/n Gruppe/n abgestimmtes Konzept wählt. So dienen beispielsweise grün gestrichene Latten im übertragenen Sinn als Grenzmarkierungen zwischen Pakistan und Indien, wenn sie Werke aus dem Kreis des Lahore Art Circle und der Bombay Progressive Artists’ Group voneinander trennen, die ansonsten Rahmen an Rahmen hingen. Im Falle von Grupa „a.r.“ aus Łódź, die – wie übrigens auch die Gruppe Spur oder der dänische Maler Asger Jorn – eine eigene Kunstsammlung mit Werken befreundeter oder bewunderter Kolleg*innen aufbauten, entwirft die Ausstellungsarchitektur einen Raum im Raum, sinnbildlich für das die „a.r.“-Sammlung beherbergende Muzeum Sztuki. Im Saal der sich schon aufgrund ihrer unterschiedlichen Sozialisation kritisch gegenüberstehenden argentinischen Gruppen trennt eine schlangenförmige Vitrine die Werkpräsentationen der Artistas Del Pueblo und der aus der Oberschicht stammenden Martínfierristas. Verbindendes Element sind einzig die in allen Räumen aufgestellten Klappstühle, auf denen Schlagworte zu lesen sind, die die Quintessenz der jeweiligen Gruppenarbeit verdeutlichen sollen.
Durch diese starken architektonischen Eingriffe, die wohl einer Überforderung des Publikums entgegenwirken sollen, wird ein gewisser didaktischer Grundton der Ausstellung verstärkt. Nicht die künstlerischen Arbeiten scheinen im Mittelpunkt der Präsentation zu stehen, sondern die mit Werken nur schwer zu beschreibenden historischen Konstellationen. Dies kann einleuchten, wie zum Beispiel bei der chinesischen Gruppe Wuming Huahui: Hier wird deutlich, wie das kleine Format und die harmlos anmutenden Motive – impressionistische Landschaften, Stadtansichten und Porträts in Öl – aus der staatlichen Verfolgung heraus zu erklären sind. Öfter aber vermisst man den Fokus auf das Werk und ist deshalb beinahe erleichtert, wenn man auf die großformatigen, die Architektur überstrahlenden Arbeiten der Casablanca School trifft, die Kunst durch Ausstellungen im Straßenraum und Wandmalereien möglichst barrierefrei unters Volk zu bringen versuchten. Angesichts der Vielzahl der dicht präsentierten künstlerischen Positionen und der Menge an Dokumenten und Ausstellungstexten empfiehlt es sich daher, genügend Zeit für den Ausstellungsbesuch mitzubringen oder aber – und das ist angesichts der klaren Raumgliederung gut möglich – zu priorisieren.
„Gruppendynamik. Kollektive der Moderne“, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, 19. Oktober 2021 bis 24. April 2022.
Selima Niggl ist Kunsthistorikerin und hat in Zürich zu Leben und Werk des Malers Uwe Lausen (1941-1970) promoviert. Sie arbeitet für die Münchener Stiftung van de Loo und auf freier Basis an Ausstellungskonzepten, Katalogen und Texten mit Konzentration auf Künstler*innen im Umfeld der Situationistischen Internationale.
Image credit: Simone Gänsheimer