Anlässlich der aktuellen Ausgabe zu "Literatur" veröffentlichen wir einen Text über eine der großen Pionierinnen des Genres der sogenannten Autofiktion, über die Autorin Annie Ernaux. Während Ernauxs Bücher übersetzt und weltweit gelesen wurden, wurde bisher sehr wenig über jene entscheidende Rolle geschrieben, die die Fotografie in ihrem Schreiben spielt. Die Kulturwissenschaftlerin Hanna Engelmeier analysiert die raffinierte Kunst der Übersetzung von Bild in Text in Ernauxs bekanntestem Werk "Die Jahre" (2008) und vergleicht dabei den Stellenwert der Erinnerung in diesen beiden Medien.
Fotos, sagt Annie Ernaux, wirken in ihrem Schreiben als Auslöser. Fotos von Männern und Frauen, nicht von Landschaften, bringen sie zum Schreiben. „Das Foto ist nichts anderes als angehaltene Zeit. Aber ein Foto rettet nicht. Weil es stumm ist. Ich glaube sogar im Gegenteil, dass die Fotografie den Schmerz angesichts der vergehenden Zeit vergrößert. Das Schreiben rettet, und das Kino.“ Ernaux hat sehr viel geschrieben, das meiste davon neben ihrer Arbeit als Lehrerin. Seit 1974 veröffentlicht sie in Frankreich in rascher Folge Bücher, in denen sie seit den 1980er Jahren meistens mit autobiografischem Material arbeitet.
Seit 2017 werden ihre Bücher auch in Deutschland bekannter, drei sind in der Übersetzung von Sonja Finck erhältlich. Ernaux‘ Bücher gelangten durch eine Tür nach Deutschland, die Didier Eribon mit seinem in Deutschland ebenfalls mit starker Verzögerung erschienenen Memoir Rückkehr nach Reims geöffnet hatte. Die Analyse sozialer Klassen trat im zutraulichen Medium der Familiengeschichte auf, zugleich wurde sexuelle Liberalisierung mittels eines Coming-outs bestechend erzählt. Dann sollte Eribon die AfD erklären, tatsächlich referiert er in Rückkehr nach Reims Bourdieu und schreibt über den durch Fabrikarbeit gezeichneten Körper seiner Mutter. Eines seiner Vorbilder war dabei Annie Ernaux. Sie selbst hält es kurz: „Ich schulde Bourdieus Soziologie alles Mögliche, aber ich arbeite nicht ‚nach‘ Bourdieu.“ Ernaux schreibt für die Erinnerung, den Rest müssen wir selbst machen. „Gerettet werden soll […] der Mann in Schlafanzug und Hausschuhen in dem Altersheim in Pontoise, der jeden Nachmittag alle Besucher bat, seinen Sohn anzurufen, und ihnen weinend einen schmutzigen Zettel mit der Telefonnummer hinhielt“.
An anderer Stelle spricht Ernaux davon, dass ihr das Schreiben immer Angst mache, es sei eine ernste Sache: Es sei der „richtige Ort“, derjenige, an dem sie sich an ihre Erinnerung wende. Das sei nicht einmal ein sehr persönlicher Akt, sondern der Besuch eines Archivs, das sie besonders gut kenne. Dieses Archiv sei eine Fiktion, und zwar diejenige, in der man seine eigene Erinnerung durchgehen könne wie einen Karteikasten. Diese Fiktion sei notwendig, um Erzählung in Gang bringen zu können: Ein einzelnes Foto, diene als Fund aus diesem Archiv, ein beschreibungsbedürftiges, zu analysierendes und erträgliches Einzelstück. So ein Foto sei ein guter Anfang, etwas Konkretes, über das man etwas sagen könne. Mit einer Beschreibung gehe es los, so sei man nicht allein mit der leeren Seite, das Foto sei ja da.
Eine Schwarz-Weiß-Fotografie vom 5. September 1965 heißt Mutti auf dem Eiffelturm, die Autorin des Bildes ist Ingeborg Loh (1926-2019), „Mutti“ ist mutmaßlich ihre eigene Mutter, und zu sehen ist eine kleine, etwas untersetzte Frau mit Hut, wadenlangem Mantel und einer großen Handtasche. Sie trägt flache Schuhe und ist im Profil abgebildet, vom Eiffelturm sieht man nur einen massiven Stahlträger. Im verschwommenen Hintergrund des Bildes muss sich Paris befinden. Mutti sieht nicht beeindruckt oder begeistert aus. Das Foto gehört zu einem sehr umfangreichen fotografischen Werk, das erst kürzlich entdeckt wurde. Der Frankfurter Maler Karsten Loh fand im Haus seiner Tante Inge, die in ein Pflegeheim umgezogen war, eine fotografische Alltagsgeschichte der BRD, an der sie seit den 1960er Jahren arbeitete.
Ingeborg Loh lebte in Goldbach bei Aschaffenburg, ihre Arbeit wird mittlerweile in kleineren Ausstellungen präsentiert, und ihr Neffe stellt auf Instagram und Twitter kontinuierlich eine Auswahl ihrer Fotos vor. Darunter viele Reisefotos, Schnappschüsse bei Familienfeiern, Dokumentation der Anbringung eines neuen Jägerzauns, die Protagonist*innen zählen zur Mittelschicht und darunter. Landschaft und Architektur kommen seltener vor, im Vordergrund stehen Menschen, die in den Beschreibungen der Fotos meist nur mit Vornamen auftauchen. „Besuch von Erika und Traute, 8.6.81“, „Patty und Brian zur Motorradweltmeisterschaft in Goldbach, 15.4.79“, selten auch etwas wie: „Frau Hugo, 27.7.85“.
Diese Fotos und ihre Beschriftungen sind aktivierend, die Knappheit ist suggestiv. Gleich mal schauen, was in der eigenen Familie noch herumliegt, bräunlich gelb eingefärbte Erinnerungen in Alben, Schuhkartons, Falthüllen; und gleich mal überlegen, wie das denn zu beschreiben wäre, was da zu sehen ist. Was für Geschichten aus was für einem Land sind da zu sehen?
Als Ingeborg Loh mit Mutti auf dem Eiffelturm war, lag Annie Ernaux‘ erster Besuch in Paris noch gar nicht lange zurück, erst mit 20, im Jahr 1960, reiste sie zum ersten Mal aus der Kleinstadt Yvetot in der Normandie dorthin. Zu dieser Zeit hieß Annie Ernaux noch Annie Duchèsne und war vor Kurzem aus Großbritannien zurückgekehrt, wo sie einen Sommer als Au-pair-Mädchen verbracht hatte. Die Familie, in der sie Dienst leistete, sprach ihren Namen englisch aus, was in den Ohren ihres Au-pairs wie „any klang und ihr ganz recht war; in einer großen Gleichgültigkeit zu verschwinden, schien ihr zu diesem Zeitpunkt nur richtig. Das „Mädchen von 58“, das sie einmal war und von dem ihr Memoir Erinnerungen eines Mädchens handelt, war noch ganz in der Nähe. Dieses Mädchen ist Tochter von Arbeiter*innen, die sich zu Besitzer*innen eines Gemischtwarenladens hochgearbeitet haben und eine geringe formale Bildung besitzen. Ihre Tochter soll sie einmal übertreffen, sie ermöglichen ihr eine gute Schulbildung und ein Studium, sodass sie Lehrerin werden kann. Das bessere Leben, das sich ihrer Tochter so eröffnet, ist eines, in dem diese ständig auf ihre Herkunft gestoßen wird und sich dafür zu schämen lernt. Sie nennt ein anderes Mädchen, mit der sie als Erzieherin gemeinsam in einem Ferienlager arbeitet, ihre Freundin, diese antwortet: „Was? Nein! Wo haben wir denn zusammen Schweine gehütet?“ Das Mädchen von 58 ist weder in ihrer ersten Welt, der ihrer Familie, noch in ihrer zweiten Welt, die mit Bildung und Aufstieg verbunden ist, gut aufgehoben. So ist ihr selbst die schäbigste Form von Gemeinschaft recht, „und das Entsetzen darüber, wie schlecht ich mich gefühlt habe, wird nicht kleiner, eine Hündin, die gestreichelt werden möchte und einen Tritt bekommt.“
Ein anderes Foto zeigt Ingeborg Lohs Mutter 1970 in einem Garten, sie sitzt leicht schlaff auf einem Gartenstuhl am rechten Rand des Bildausschnitts, eine Hand in den Schoß gelegt versucht sie, die Knie zusammenzubringen („Mutti, Mai 1970“). Die Mutter scheint noch weiter gealtert. Sie dürfte um die 70 Jahre alt sein und trägt ein Kleid aus einem festen Stoff und dicke Strümpfe. Sie lächelt nicht und scheint das Foto gerade so geschehen zu lassen. Es fehlen Angaben zum Ort und zum Anlass, vielleicht ein Familienfest? Links im Bild ist eine Veranda, davor Blumenbeete, es ist ein gepflegter Garten. Das ist alles nichts Besonderes. Aber genau das ist festgehalten und wiedererkennbar, darin liegt der Erfolg der Bilder von Ingeborg Loh. Man kennt das. Ob man das sehen will? Ob man sich erinnern will? Vielleicht ist die richtige Frage aber, ob man sich erinnern kann. Loh hat ihre Umwelt fotografiert, kleinstädtische Geselligkeit, mittlere Lagen. Man kann diese Szenen als Abbilder einer Enge empfinden, zu der man mit einer Kamera Distanz einnehmen kann. Man kann aber auch feststellen, dass es Fotos aus der Mitte dieses Milieus sind, zugewandte Porträts ohne Herablassung. Lohs Geschichte der BRD aus dem Geist des Schnappschusses und Annie Ernaux‘ Blick auf ihre Herkunftswelt verbinden diese Zeigegeste: Schaut her, urteilt selbst.
Man soll nicht von sich selbst in der dritten Person sprechen, so sagt es jede*r Psychoanlytiker*in, man soll nicht von anderen in der dritten Person sprechen, so sagen es die woke people, man soll bitte für sich sprechen, soll das heißen. Annie Ernaux hat ein Verfahren gefunden, für sich in der dritten Person Singular zu sprechen. Ihr Buch Die Jahre beginnt mit einer Montage, einem Inventar scheinbar subjektiver Erinnerungen. Sie bestehen manchmal nur aus Untertiteln zu Bildern („Simone Signorets Gesicht auf dem Plakat von Thérèse Raquin“ ), manchmal aus Szenen („das Neugeborene, das der Arzt im Krankenhaus Pasteur in Bordeaux wie ein gehäutetes Kaninchen in die Höhe hielt“ ) oder „Aus der Mode gekommene[n] Redewendungen, die man eines Tages zufällig wieder hört, kostbar wie ein verlorener und wiedergefundener Gegenstand“. Ernaux betont durch ihre Schreibweise den Fragmentcharakter ihrer Erinnerung, „die erst im Schreibprozess […] eine – fiktive – Kohärenz“ erhält.
Es handelt sich dabei um den Vorspann einer Autobiografie, die sich der ersten Person Singular verweigert und deren Thema unter anderem die Suche nach dem Personalpronomen ist, das ausreicht, „die vielen verschiedenen Bilder ihrer selbst, die getrennt voneinander existieren, asynchron, […] in einer Erzählung vereinen“. Ernaux landet beim „man“, denn: „Das ‚ich‘ ist zu beständig, eng, fast schon beklemmend, beim ‚sie‘ ist ((die?)) Außensicht, der Abstand, zu groß.“ Das „man“ als die dritte Figur zwischen „ich“ und „sie“ stellt scheinbar sehr leicht jene Form von Autofiktion her , die auch kollektive Autobiografie heißt.
Ingeborg Loh war Sekretärin bei den Farbwerken Höchst und alleinstehend. Ihre Alltagsgeschichte in Schnappschüssen wurde im März dieses Jahres beim Festival „Fokus Lyrik“ in Frankfurt erstmals öffentlich gezeigt. Neben der hohen Kunst, um die es dort auch ging, muss das ein reizvoller Kontrast gewesen sein. Das nächste Fremde: Unsere BRD 1965ff. Lohs Arbeit ist vielleicht auch deshalb kollektives Fotoalbum, weil es das meiste verschweigt, sowohl über das Leben von Ingeborg Loh, die ständig unter Menschen gewesen sein muss, aber eben doch als „alleinstehend“ beschrieben wird, als auch über das Leben ihrer Sujets. An den Biografien derjenigen, die 1965 schon Rentner waren, haftet Krieg und Nationalsozialismus. Ein zugängliches Werk ist das, aus dem das Unwissen über alle möglichen Hintergründe dröhnt. Das ist ein Werk, das darauf zu drängen scheint, betextet zu werden. Auf Instagram ist „Besuch von Uschi & Friedhelm, 1977“ das erste Bild von Ingeborg Loh, das gepostet wurde. Beide sind sehr förmlich gekleidet, Friedhelm trägt unter seinem schwarzen Pullover einen schwarzen Schlips, Uschi ein schwarz-weiß-gewürfeltes Kleid. Machten sie einen Abstecher auf dem Rückweg von einer Beerdigung? Man kann das Rätseln aber auch lassen. Man könnte jedoch festhalten, dass Ingeborg Lohs Fotoalben nicht allein Erzählanlässe für alle nach ihr Kommenden sind, sondern zugleich eben ihre Autobiografie darstellen. Egal, welche Fiktionen aus ihren Bildern werden, verbunden werden sie durch die Tatsache, dass Loh an diesem und jenem Ort dabei war, am Auslöser.
In Der Platz schreibt Ernaux, dass sie, während sie an dem Buch arbeitete, ständig Klassenarbeiten korrigierte und Musterlösungen für Aufsätze erstellte, weil sie dafür bezahlt werde. Sie versorgte auch zwei kleine Söhne, die in all ihren Erzählungen namenlos bleiben. Annie Ernaux spricht für sich, und wer will, kann sich für die Zeit anschließen, die die Lektüre des Textes braucht. Sie berichtet über die Portalfiguren ihres Lebens, Mutter und Vater, die an der Grenze zu einer anderen Klasse stehen: „Vielleicht sein größter Stolz, sogar sein Lebenszweck: dass ich eines Tages der Welt angehörte, die auf ihn herabgeblickt hatte.“
Auf dem Umschlag der deutschen Ausgabe ist ein fast transparentes Foto zu sehen, das Ernaux mit ihren Cousinen im ersten Stock des Hauses zeigt, in dem ihre Eltern ihr Geschäft hatten. Der Vater ist nirgends im Buch abgebildet. Man kann Fotos von ihm recherchieren, es gibt welche, also warum nicht. Aber man kann stattdessen auch den Text nehmen und eigene Bilder finden.
Hanna Engelmeier ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen.
Anmerkungen