GEMEINSCHAFT FREISETZEN Beatrice von Bismarck über Sarah Pierce in der Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig
Die Eingangssituation der Ausstellung „Scene of the Myth“ von Sarah Pierce gibt bereits die Struktur vor, mit der die Künstlerin die Räumlichkeiten des Neubaus der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig bespielt: unabschließbare Verwebungsprozesse von Raum- und Zeitebenen, die sich auf Potenzialitäten hin öffnen. Verteilt auf zwei parallel zueinander befindliche Räume, die durch die Eingangspassage, einen Höhenunterschied des Bodenniveaus und eine Glasscheibe voneinander getrennt sind, führt die Arbeit Pathos of Distance (2015) die Besucher*innen in das Innere des Ausstellungsgebäudes hinein.
Die Installation rückt die irische Diaspora im 19. Jahrhundert in den Fokus. An und auf ausrangierten Möbelstücken hängen und stehen Reproduktionen von Grafiken, Fotografien und Gemälden aus der Zeit. Sie alle zeigen Personen, die aus ökonomischen und sozialen Nöten ihr Heimatland in Richtung England, Europa und Nordamerika verlassen hatten, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen, die mit Transformationen sozialer, professioneller und geschlechtlicher Identität einherging. In den Porträts bilden sich nicht nur der Aufstieg in hochrangige gesellschaftliche Positionen ab – als Politiker*innen, Ärzt*innen oder militärische Führungspersönlichkeiten –, sondern auch Geschlechterwechsel und Neuformatierungen von Geschlechterrollen. Sie eint die Distanz zu Irland, mit der vor allem die Wandlung und der Unterschied zum Vorherigen Gewicht besitzen, auch wenn in dem wie zurückgelassen wirkenden Mobiliar die Bindungsfähigkeit des Herkunftslandes materielle Form annimmt. Die Besucher*innen treten ein in eine Zone widerstreitender Zugkräfte, in ein raumzeitliches Gefüge zwischen verschiedenen Identitäten, wie sie die Textpassagen, die die Installation ergänzen – unter anderem von Stuart Hall, Irit Rogoff, Salman Rushdie und Edward Said –, beschreiben.
Mit Future Exhibitions (2010) verlagert Pierce in zwei anschließenden Räumen die Anziehungs- und Distanzierungsdynamiken von einem national geprägten Kontext zu einem, der durch Regeln, Übereinkünfte und Kanonisierungen des Kunstfelds definiert ist. Allan Kaprows Arbeit Push and Pull: A Furniture Comedy for Hans Hofmann, mit der er 1963 an der Ausstellung „Hans Hoffman and His Students“ im New Yorker MoMA teilgenommen hatte, dient ihr als rahmende Referenz, um die Bindungskraft kunst- und ausstellungsgeschichtlicher Wertzuschreibungen und Normen in einem kontinuierlichen Wechselspiel sowohl aufzuführen als auch aufzulösen. Hatte Kaprow das Publikum dazu aufgefordert, seine Zusammenstellung von Restmaterialien und Trödel zu bewegen und neu zu arrangieren, so lässt Pierce Performer*innen die Aufgabe übernehmen, aus dem Umfeld des Museums stammendes Ausschussmaterial von dem einen, weiß gestrichenen Raum in den zweiten, angrenzenden schwarzen, von Spotlights beleuchteten zu transferieren, dort zu platzieren. Die Zuschauenden werden von ihnen gebeten, sich ebenfalls als Ausstellungsobjekte in Position bringen zu lassen. Im Anschluss werden die Dinge wieder in den weißen Raum zurückgetragen.
Dass es sich bei dem Material um lose Anlehnungen an kunsthistorische Ikonen, etwa Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat (1915), Robert Morris’ Untitled (Scatter Piece) (1968/69) oder Eva Hesses Accretion (1968) handelt, stellt eine Situation her, in der sich vergangene und aktuelle Bewertungen und Funktionen der Objekte durchkreuzen. Die Verweise auf Ausstellungsgeschichte, die in den von einer*em Sprecher*in vorgetragenen, jeweils ein „Scenario“ ankündigenden Texten aufgerufen werden, erweitern diese kanonisch geprägte Historizität. Geht man davon aus, dass Ausstellungen bedeutungsstiftende und -verändernde Relationen von menschlichen und nichtmenschlichen Teilnehmenden untereinander herstellen, so sind darin die Künstlerin und die Gastkuratorin der Ausstellung, Rike Frank, die Besuchenden und die Performer*innen ebenso einbegriffen wie die Reproduktionen, Möbel, Restmaterialien und Ausstellungswände. Die Nennung der „letzten futuristischen Ausstellung“ von 1915, Seth Siegelaubs Katalogausstellung „March 1969“ oder eben Allan Kaprows Push and Pull definieren in diesem Sinne zudem die Beziehungen, die kuratorisch einmal zwischen den dort ausgestellten Werken geschaffen wurden – samt den darin etablierten Wertigkeiten und Bedeutungen – als ebenfalls Mitwirkende an der Ausstellungsituation. In diesen Beziehungen transportieren sich Übereinkünfte, die in der Spezifik, die sie einmal für die historische Situation besessen haben, im Durchqueren von Zeiten und Räumen gestaltende Handlungsmacht im Sinne von Karen Barads agentialem Realismus entfalten. [1] Denn in dem dynamischen Wechselspiel der auf mehreren Ebenen stattfindenden Aneignung von kunst- und ausstellungsgeschichtlich konstituierten Vorbildern werden die Übereinkünfte selbst aufgeführt und zugleich in ihrer normativen Wirkungsmacht zur Debatte gestellt. Den tradierten Vorstellungen von Werk, Autorschaft und Original weist Pierce eine Funktion zu, indem sie sie mit Blick auf die möglichen Beziehungen einsetzt, die durch diese Vorstellungen in der Ausstellungssituation unter den menschlichen, aber auch nichtmenschlichen Mitwirkenden hergestellt wurden und werden könnten.
Die Beziehungen, die durch die unausgesprochenen Übereinkünfte geschaffen werden, pendeln in der Aufführung zwischen Bestätigung und Befragung und verschieben sich im Verlauf der Wiederholungsprozesse. Konsequenterweise kennzeichnen sie nicht nur die einzelnen Arbeiten, sondern auch den Aufbau von „Scene of the Myth“. In der Nutzung der flexibel verschiebbaren Wände des Neubaus der Galerie für Zeitgenössische Kunst ist Sarah Pierce in Zusammenarbeit mit Rike Frank kongenial mit den Möglichkeiten multilateraler Bewegungen von Körpern und Blicken durch die Räume umgegangen. Die Präsentation der Arbeiten von Pierce erfolgt auf diese Weise nie für sich genommen, sondern ausgerichtet auf eine mehrfache Bezogenheit der Arbeiten untereinander aus unterschiedlichen Perspektiven.
Für den kuratorischen Zusammenhang macht Pierce den Begriff der Gemeinschaft der Ausstellung, der „community of the exhibition“ stark. Diese geht über die Präsentation von Kunstwerken und die damit anfallenden Notwendigkeiten hinaus, indem sie Faktoren miteinschließt, die die Beziehungen zwischen der Künstlerin und „anderen“ betreffen: „knowledge, encounters, gatherings, economies, exchanges, careers, experts, territories, and so on.“ In der Weise ist die „community of the exhibition“ nicht durch räumliche oder zeitliche Rahmungen, etwa Eröffnung und Finissage, limitiert, sondern besitzt ihre eigene Zeitlichkeit: „The community of the exhibition involves what is made manifest and exposed, temporarily and incompletely – keeping in mind that ‚what takes place‘ is not always in the realm of the visible, and that all displays, even ostensibly ‚permanent‘ ones, eventually recede and disappear.“ [2]
Für Pierce ist die Ausstellung, in Berufung auf Jean-Luc Nancy, in erweitertem Sinne als Moment der Versammlung zu verstehen. Nancy beschreibt das Zusammenkommen von Menschen um eine*n Erzähler*in herum, die*der eine ihnen bekannte Geschichte, vielleicht auch ihre Geschichte vorträgt, die „Scene of Myth“. Diese Szene besteht in den Momenten der Wiederzählung und für die Dauer, in der unter den Teilnehmer*innen die Transmission erfolgt. [3] Mit diesem Verständnis ist eine Ausstellung die mythische Szene, die durch die in der Transmission hergestellten Beziehungen gehalten wird. Sie besteht vorübergehend und unabhängig von der eigentlichen Laufzeit, zum einen, weil der Ausstellung das Erzählte vorausgeht, das mit ihr fortgeführt wird, zum anderen, weil das kollektive Halten der Beziehungen zu unterschiedlichen Momenten unterbrochen und wieder aufgenommen werden kann. Schließlich kann die Transmission von verschiedenen Mitwirkenden an der Szene übernommen und weiter fortgesetzt werden.
In der Folge finden von allen Räumen aus multiple inhaltliche Verbindungen statt, die aufgenommene Themen aus je unterschiedlichen Perspektiven aufgreifen und weiterführen. Beispielsweise von Future Exhibitions ausgehend, lässt sich dieses Beziehungsgeflecht um das Werk herum nachvollziehen: Den hier schon angelegten Verdacht gegenüber der Behauptung von kreativer Einzigartigkeit und heroisierter Künstlermagie schürt Levitating in the Nauman (2014) zusätzlich, indem die Arbeit anbietet, den Akt des Schwebens im Atelier nachzuahmen, dessen Erfolg und Scheitern Nauman selbst in einer fotografischen Doppelbelichtung festhielt. Lost Illusions (2013) löst die Beziehung zum auratischen Einzelstück durch unterschiedliche kollektive Annäherungsprozesse auf, die von der performativen körperlichen Bezugnahme bis zur Zerstörung aus Protest und schließlich zur imitierenden Neuschöpfung reichen.
In der Arbeit Campus (2011) wiederum führt Pierce die Prinzipien der Nachahmung und Wiederholung expliziter an Fragen künstlerischer Lehre heran. Die Performer*innen verbinden dabei Anleitungsätze aus einem Kunstkurs zur Herstellung von 3-D-Arbeiten mit Gesten, die Protesten von Studierenden der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und der Anti-Vietnamkriegsbewegung zwischen 1959 und 1969 entstammen. Anweisung und Widerstand im Rahmen eines Ausbildungskontextes verbinden sich in der kontinuierlichen Wiederaufführung immer aufs Neue, ohne je voneinander getrennt werden zu können. Auf der einen Seite schließt sich hier die Arbeit Towards a Newer Laocoön (2012) an, die den vandalisierenden Angriff auf das antike, in der künstlerischen Lehre regelmäßig verwendete Model der Laokoon-Gruppe im Zuge eines Protests für bessere Studienbedingungen und Unterrichtsformen in Dublin 1969 thematisiert. Auf der anderen Seite von Campus öffnet sich mit dem Paraeducation Department (2004) ein Areal, gekennzeichnet durch Enzo Maris Autoprogettazione „Letto“ und unterschiedlich farbige Matten. Für „Scene of the Myth“ in Kollaboration mit den Künstler*innen Alex Pentek und Mary Kervick hergestellt, ist die Ausstattung darauf angelegt, von Kunststudierenden angeeignet zu werden und durch das Ausstellungshaus zu vagabundieren, um in Selbstorganisation eigene künstlerische Erprobungen, Experimente und Neukonstellationen vor Publikum durchzuführen.
Deutlich tritt in der Verbindung der Arbeiten Pierce’ Verständnis von Lehre und Lernen in Erscheinung, mit dem sie Prozesse ermöglicht oder anstößt, ohne auf ein vorherbestimmtes Ergebnis abzuzielen. Entsprechend bleiben die Vorgaben für das Paraeducation Department ebenso skizzenhaft und offen wie die Skripte, die sie den Performer*innen an die Hand gibt. Entscheidend ist die Annahme von Pierces Anregung, die Übernahme der Aufgabe, in deren Vollzug sich die Personen und Objekte im Ausstellungsraum in neuen, ungeplanten und temporären Konstellationen zueinander wiederfinden. An die Stelle von Kontrolle über Qualität oder Erfolg der Prozesse setzt sie den Impuls, sich eigenständig ins Verhältnis zu setzen zu den das Kunstfeld bestimmenden Bedingungen.
Um die verschiedenen Formen, im Prozess der Bezugnahme Abstand und Unabhängigkeit herzustellen, spannt Pierce mit No Title (2016) schließlich eine abstrakte Klammer. Wenn Erinnerungsfähigkeit die zentrale Voraussetzung für Referenzen, Wiederholung und Nachahmung ist, so gibt Pierce in dieser Arbeit gerade den Abweichungen und Neuinterpretationen von Erinnertem Raum. In sechs Videos hält sie einfache Übungen fest, die die gestalterische und kognitive Fähigkeit der Zuordnung von Alltagsgegenständen und Bausatzelementen aufzeichnen. Ihren Vater und ihre von beginnender Demenz gezeichnete Mutter zeigt sie dabei in den Freiheiten, mit denen diese die Aufgaben mal humorvoll, mal eigensinnig und mal widerständig ausführen und damit den Handlungsspielraum ihren eigenen Maßstäben entsprechend ausformen.
Mit diesen Freiheiten, die sich aus den aufgeführten Bindungen generieren, schreibt Pierce in ihrer Ausstellung Luc Nancys Vorstellung einer „Scene of Myth“ fort. Mit ihrer „Scene of the Myth“ macht sie deutlich, dass die Beziehungen, die durch die unausgesprochenen Übereinkünfte geknüpft werden, zwar Teil der solchermaßen formierten Gemeinschaft der Ausstellung sind, dass für sie darüber hinaus die Arbeit an den Beziehungen im Fokus steht: Sie weist sie als immer schon nur teilweise und nur vorübergehend tragfähig aus. Ohne sie gänzlich aufzugeben, zweifelt sie ihre Gültigkeit in wiederholten Distanzierungsbewegungen an, durch die sich Freiräume auftun und andere Beziehungsweisen möglich werden.
„Sarah Pierce: Scene of the Myth“, Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig, 27. Januar bis 26. Mai 2024.
Beatrice von Bismarck lehrt Kunstgeschichte, Bildwissenschaften und Kulturen des Kuratorischen an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig. Davor war sie 1989 bis 1993 am Städel’schen Kunstinstitut in Frankfurt/M. als Kuratorin der Abteilung 20. Jahrhundert und anschließend von 1993 bis 1999 Mit-Gründerin und -Leiterin des Kunstraums der Universität Lüneburg (Leuphana). Sie war Initiatorin des M.A.-Programms „Kulturen des Kuratorischen“ an der HGB und mitverantwortlich für die von Berlin nach Mumbai und Phnom Penh reisende TRANScuratorial Academy (2017/18). Zuletzt erschienen der von ihr herausgegebene Band Archives on Show. Revoicing, Shapeshifting, Displacing – A Curatorial Glossary (Archive Books, 2022), der Tagungsband Broken Relations: Infrastructure, Aesthetics, and Critique (Spector Books, 2022, hg. mit Martin Beck/Sabeth Buchmann/Ilse Lafer) und die Monografie The Curatorial Condition (Sternberg Press, 2022).
Image credit: Courtesy of GfZK Leipzig, Fotos Alexandra Invanciu
Anmerkungen
[1] | Karen Barad, Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham/ London 2007. |
[2] | Sarah Pierce, Scene of the Myth, Zine zur Ausstellung, Galerie für zeitgenössische Kunst, Leipzig, 2024, S. 36–38. Auszug aus; Sarah Pierce, „Scene of the Myth“, in: Beatrice von Bismarck/Rike Frank (Hg.), Of(f) Our Times: Curatorial Anachronics*, London 2019, S. 9–22. |
[3] | Jean-Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S. 96. |