MUTIERENDE RASTER Anne Meerpohl über Lila-Zoé Krauß im Kunsthaus Hamburg
Lila-Zoé Krauß schickt in ihrer ersten Soloausstellung „[After her Destruction]“ im Kunsthaus Hamburg die Protagonistin Girl in einer computergenerierten und filmisch nacherzählten Welt auf die Suche nach einem gesellschaftlich proklamierten Fehler in ihrem Kopf, einer Mutation. Dabei durchwandert sie unterschiedliche Ebenen des Erzählens und bewegt sich entlang konstruierter Normen, ruft sowohl utopische Momente als auch Retrogefühle aus einem Zeitalter der noch unbeschriebenen Festplattenfantasie hervor.
Auf eine Soundinstallation als auditiver Prolog im ersten Teil der Ausstellung folgt eine 3-kanälige Video- und Lichtinstallation in der Halle des Kunsthauses, in dessen Mitte man auf einem silbernen Podest das Geschehen verfolgen kann. Das Szenario der knapp einstündigen Videoinstallation wird durch eine musikalische Inszenierung von Krauß gerahmt: Teile aus dem gleichnamigen, im Februar 2024 von der Künstlerin unter dem Namen L Twills herausgebrachten Album. Die multimediale Arbeit [After her Destruction] bewegt sich in mehreren Zwischenräumen gleichzeitig, als Inszenierung zwischen Theater, Oper und Videogame, zwischen linearer Erzählung und collagenartigem Essay, einer virtuellen Welt und materiellen Gegebenheiten.
Die Figur Girl lebt mit ihrer Mutter MOW (Manic Old Woman) im Vorort einer deutschen Großstadt und wird von Nachbar*innen mit dem Verdacht einer Mutation ihres Kopfes konfrontiert. Mithilfe des von ihr im Internet entdeckten Computerprogramms The Art of Mind möchte sie der Ursache für die ihr angehängte Abweichung der Norm auf den Grund gehen. Die vermeintliche Startmaske des Programms spielt sich auf einer gerasterten Fläche ab, auf der Girl neben einem Monitor sitzt, der an die 1990er Jahre erinnert, möglicherweise bezugnehmend auf das Geburtsjahr der Künstlerin und somit den Startpunkt ihres Daseins. Schließlich reist Girl durch ihren Verstand in das innere Selbst. Der Boden der Kulisse wird teilweise von Nebel bedeckt, in einem dunklen Raum, der nur durch quadratische Felder aus weißen Linien strukturiert wird. Diese scheinen wie bei einem Computerspiel die Perspektive und Beweglichkeit der Figur zu definieren, und nur der sichtbare Ausschnitt, das field of view, ist die Bühne des Geschehens.
So begibt sich die Protagonistin in verschiedene Szenen hinein, trifft auf andere Figuren, sucht Rat und Austausch über ihr Anliegen. Zum Beispiel fragt der Wahrsager (Fortune Teller): „Everyone has a story, Girl. Do you even know the story about Girl, Girl?“, und deutet damit eine bereits festgeschriebene Geschichte an. Die Welt von The Art of Mind bedient sich unzähliger Referenzen und kreiert Identifikationsmomente technofeministischer Utopien. So scheint die Software außerhalb heteronormativer Systeme zu funktionieren und lässt gesellschaftliche Hierarchien offen. Auch die fiktionale Erzählung von [After her Destruction] selbst lädt zu utopischen und mehrgliedrigen Gedankenspielen ein. Die Räume des Computerprogramms werden zur Bühne, zu einzelnen Szenenbildern, und die Figuren leiten die Handlung anhand ihrer Dialoge mit Girl. Damit beleben die unterschiedlichen Charaktere das Narrativ zu einem queeren Kammerspiel, das durch die Begegnungen und Relationen die Geschichte aufzudröseln scheint. Referenzen auf Drag oder lesbische Repräsentation wirken dabei als subversive Treibkraft. Die entstehenden Beziehungen lösen aber auch weitere Rätsel aus und haben zugleich einen heilenden Effekt. Selbst wenn sich die Mutation am Ende der Suche als real herausstellen sollte, so scheint sie keine Bedrohung, sondern eher eine akzeptierte Begleiterin zu sein.
In einer Szene ist die Malerei There is a vacuum inside all of us (2019) von Frieda Toranzo Jaeger zu sehen, von der bereits eine andere Arbeit ein Albumcover von L Twills ziert. Jaeger arbeitet wiederum selbst mit Bezügen zu kunsthistorischen Elementen, Science-Fiction und queerem Begehren. Das Bild rekurriert somit auf die musikalische Persona der Künstlerin und transportiert einen aktuellen Diskurs um feministische Aneignung sowohl vergangener Bildsprachen und Ikonografie als auch der Imagination von Zukunft und Science-Fiction.
Die 1990er-Jahre-Ästhetik von Krauß’ erdachtem Computerprogramm The Art of Mind erinnert an eine Zeit utopischer Trugschlüsse, zu denen technofeministische Hoffnungen auf einen frei gestaltbaren Raum des Internets führten. Ein scheinbar noch unbeschriebenes Feld neuer Informations- und Kommunikationstechnik sollte eine Experimentierfläche neuer gesellschaftlicher Programme werden, Normen ausschalten und Kategorien neu erschließbar machen, beispielsweise außerhalb binärer Geschlechtersysteme. Die von Donna J. Haraways skizzierte Figur des Cyborg diente als Denkfigur solcher Ansätze und prägte maßgeblich den Begriff des Cyberfeminismus. Girl befindet sich in einem vergleichbaren, noch zu erschließenden Territorium und lässt dabei die Frage offen, in welchem Verhältnis sich dieser Raum zur Realität befindet. Ihre Mutation kann als Analogie zu einer vermeintlichen Fehlfunktion, einem fail gelesen werden und damit auf Aktualisierungen cyber- und technofeministischer Ansätze verweisen, wie Legacy Russells „Glitch Feminismus“. Das gleichnamige Manifest widmet sich dem glitch, dem Fehler, der subversiven Wirkung der Nichterfüllung in Bezug auf Körper, Identität und Technologie. Girls Erkundung zu ihrer Mutation mithilfe der Software mutet an wie eine solche Verweigerung gesellschaftlicher, binärer Normen vernetzt in einem digitalen Szenario.
Unvermittelt taucht auch die Mutter der Künstlerin, Christin Krauß, als 3-D-animiertes Gesicht im Programm auf und wird pathologisch analysiert. Eine Krankenakte wird verlesen und wirft wiederum gesundheitspolitische Normen und Fragen von Care auf. Die Schnittstellen von Realität und virtueller Welt brechen durch vorgelegte Grenzen und Raster; Traum und Wirklichkeit verschwimmen und bringen die Besucher*innen in einen neu zu definierenden Raum irgendwo dazwischen.
Dieser Zwischenraum ist bereits in der multimedialen Installation angelegt. Immer wieder wird die Videoarbeit durchbrochen von elektronischen Klängen und Krauß’ eindringlichem Gesang. Dabei stehen Bild und Ton nicht in Konkurrenz, illustrieren einander aber auch nicht. Die zentrale Rolle der Musik und die miteinander verwobene Videoarbeit regen eher ein interdisziplinäres Verständnis von Film, Theater, Ausstellung und Oper an. Die lange Liste der Beteiligten an dem Projekt lässt ebenfalls auf einen vielschichtigen Prozess schließen. Die rund 30 Künstler*innen, Performer*innen und Expert*innen kommen aus unterschiedlichen Disziplinen und haben das Projekt unter anderem vor und hinter der Kamera realisiert.
Girl transportiert auch mit ihrem Namen einen mehrdeutigen Diskurs: eine universelle Bezeichnung für eine weibliche, junge Person, einen freundschaftlichen Ausruf („Girl!“) und popkulturelle Prägungen wie durch neoliberalen Girlboss-Feminismus, der zum Teil eher binäre Geschlechtermodelle zu festigen versucht. Gleichzeitig kann darin auch eine Selbstbezeichnung liegen, ein Durchschreiten geschlechtlicher Zuschreibungen. Das dialektische Verhältnis der Protagonistin zur Künstlerin lässt an Künstler*innen wie Lynn Hershman Leeson denken und ihre virtuelle Transformation zu der Figur Roberta Breitmore (1973–1979). Das Alter Ego erlebte zahlreiche Wechsel, wurde durch verschiedene Performer*innen verkörpert und entzog sich so immer mehr einer definierten Identität. Auch Breitmore bat externe Gesprächspartner*innen um Hilfe und hinterließ eine Art Manual zu ihrer Transformation. Vielleicht beziehen sich Hershman und Krauß (und viele weitere Künstler*innen) mit den verschwimmenden Sphären von Kunstschaffenden und Alter Ego auch auf das Künstler*innen-Dasein selbst. An Künstler*innen wird immer wieder die Erwartung herangetragen, ein klischiertes Bild ihres Berufes zu verkörpern. Vor diesem Hintergrund kann ein Alter Ego als eine Art Avatar die Möglichkeit bieten, diesen performativen Druck umzuleiten.
Girl selbst wird zu einem multiperspektivischen Element, sie stellt einen character dar, eine autofiktionale Figur, eine Projektionsfläche gesellschaftlicher Zuschreibungen genauso wie eine ansteckende Fantasie. Ihre Geschichte vermag das Raster, in dem sie sich bewegt, zum Mutieren zu bringen. [After her Destruction] liegt schließlich nach einer Zerstörung und somit auch vor einem noch unbekannten Szenario. Etwas Zerstörtes, Dekonstruiertes, Mutiertes kann einen konstruktiven Raum für etwas Neues kreieren. Analog zu den Verheißungen technofeministischer Ansätze kann dabei ein Raum neu gestaltet werden – die Trümmer sind womöglich ein Teil davon.
„Lila-Zoé Krauß: [After her Destruction]“, Kunsthaus Hamburg, 25. Mai bis 28. Juli 2024.
Anne Meerpohl ist als freie Künstlerin, Autorin und Kuratorin tätig, aktuell als kuratorische Assistenz im ICAT der HFBK Hamburg. Meerpohl arbeitet zu Themenschwerpunkten wie Produktionsbedingungen, Körper, Fluidität und Fürsorge und ist Mitbegründerin des Cake&Cash Collective.
Image credit: Courtesy Lila-Zoé Krauß und Kunsthaus Hamburg; 1. + 4. Kamera Helena Wittmann; 2. + 3. Foto Antje Sauer