Bending Gravity Melanie Ohnemus über Nora Schultz in der Secession in Wien
Betritt man den Hauptraum der Secession, nimmt man im Blickfeld gleich mehrere Objekte und Bilder aus verschiedensten Materialien wahr. Sie wirken weit entfernt und fragmentarisch. Der Raum zeigt sich hell und in seiner ganzen Weite. In der Ferne sieht man die geöffnete Tür in der Rückwand des Ausstellungsraumes, die auf den Platz hinter dem Haus führt. Durch sie hindurch sind Bäume und zwischen ihren Ästen Autos zu sehen, die die Straßen rechts und links des Gebäudes befahren. Diese Szene wirkt wie ein Bild, das den auf beiden Seiten des Hauptraumes an die Wand projizierten Videobildern verwandt zu sein scheint, in seiner Beschaffenheit jedoch spürbar verschieden ist. Später, im Künstlerbuch zur Ausstellung, lernt man, dass die Installation durch den bewusst kreierten Luftzug „animiert“ wird.
Der Ausstellung „would you say this is the day?“ liegt ein „proposal“ zugrunde, das Nora Schultz formal in einer Mischung aus Manifest und Notizen verfasst hat. Es liegt als Teil eines Künstlerbuches in der Ausstellung aus. Auf mehrere kleine Abschnitte verteilt, werden alle Elemente, die die Ausstellung beinhaltet, berührt. Eines nach dem anderen werden sie, unterbrochen durch weitere Gedanken, die die Werke betreffen, mit dem Eröffnungssatz „My proposal is …“ eingeführt. Man begreift, dass jedes einzelne Element und jeder Gedanke in der Ausstellung gleichberechtigt nebeneinander das proposal bildet. Eigentlich entspricht der Text der Wahrnehmung, die man beim Betreten des Raumes schon erahnt hat. Alles ist auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden, obwohl es auf den ersten Blick zerstreut wirkt. Der Text nimmt einen jedoch auf eine noch viel komplexere Reise mit. In wellenartiger Form abgedruckt, erzählt er von Gravitation, dem Atlas-Mythos, von Michelangelos Skulptur Der Tag, von Überlegungen zu Strukturen von Notationen und Zeichnungen, von Whalewatching, den Zeiteinheiten von Schallwellen, dem Eigenwillen von Skulpturen.
So lautet ein Satz etwa: „My proposal is a warped space between the days. Would you say this is a day?“ [1] Diese Notiz findet in der Arbeit Hopes and Dreams (2019) Entsprechung – einer schwarz-weißen Zeichnung, die in den Maßen 3 x 6 Meter als Druck auf einer selbstklebenden Folie an der Stirnwand des Raumes angebracht wurde. Sie zeigt das Wochenblatt eines Kalenders, das mit Sonntag beginnt und mit Samstag endet. Das ursprüngliche Blatt ist ein Fundstück, das Schultz digital modifiziert hat, indem sie zwischen Dienstag und Mittwoch sowie Freitag und Samstag einen perspektivisch sich nach hinten erweiternden Raum eingezeichnet hat, so als ob sich der Raum zwischen den Tagen nach hinten stülpen würde. Das gefundene Blatt war zudem mit Zeichnungen versehen, die zwei Mädchengesichter und ein teuflisch wirkendes Fabelwesen mit Eiscreme in der Hand zeigen. Die Zeichnungen muten wie jene an, die Schüler während des Unterrichts in ihre Notizhefte zeichnen. Über dem Kalender steht in Handschrift geschrieben „My Hopes and Dreams“. Einzelne Buchstaben dieser Wörter verschwinden unsichtbar in der Faltung des zurückgestülpten Raumes zwischen den Tagen.
Eine weitere Übertragung von Zeit- und Gravitationsüberlegungen bilden die drei Skulpturen Atlas/The Day 1, 2 & 3 (2019). Dies sind drei aus eher dünnem, mit der Hand gerade noch biegbarem Aluminiumdraht hergestellte, abstrakte Figuren, die sich, in der Mitte des Raumes verteilt, vom Boden bis zur Decke erstrecken. Ihr oberes Ende ist mit der Gitterkonstruktion des Oberlichts verbunden. Schultz geht noch einen Schritt weiter und hat diejenigen Glaspaneele aus dem Oberlicht entfernt, die an die Ausdehnung der jeweiligen Skulptur angrenzen. Hieraus ergibt sich ein ungehinderter Blick in den Dachboden der Secession und imaginär noch darüber hinaus, da das äußere Dach ebenfalls aus Milchglas besteht. Die Imagination eines abstrahierten „Atlas“, verbunden mit einem „Tag“, der missmutig und verhohlen nur knapp über seine breite Schulter blickt, lässt den gesamten Ausstellungsraum zur Welt werden. Auf eigenwillige Weise führt Schultz hier die Betrachter*innen an ihr äußerstes Vorstellungsvermögen, da die Vorlagen hier sehr frei und fragil interpretiert wurden. Es klingt wie Fantasieren oder Orakeln, wenn sie schreibt: „When the universe was a bubble and the earth was flat, Atlas was a navigation guide, because no one is as closely in touch with both of them as he is. Now he is warped from all the weight and all the views that accompany him, waiting to regard his collapse.“ [2]
Wie um das Abstraktionsvermögen bezüglich der Dehnbarkeit des Raumes noch weiter auf die Spitze zu treiben, sei angemerkt, dass Schultz die Ausstellung aus der Ferne mit Instruktionen über FaceTime und Skype installiert hat, da sie zum Zeitpunkt des Aufbaus wegen Aufenthaltsregularien nicht aus den USA ausreisen durfte. In einem Interview hat die Künstlerin erklärt, dass sie bei ihren Installationen gerne „imaginäre Partner“ zur Seite zu stehen hat, auf die sie verschiedene Metaüberlegungen übertragen kann und die es ihr erleichtern, Identitäten und Bedeutungen zu verschieben. [3] Solche Partner stellen in dieser Ausstellung möglicherweise die Wale dar, die Schultz auf einer Whalewatching-Schiffsfahrt an der Ostküste der USA vor Boston gefilmt und fotografiert hat. Das Video Whale Watch (2019) ist im rechten Seitenschiff des Ausstellungsraumes an die Wand projiziert zu sehen. Es zeigt sowohl die Wale und das Meer als auch die teilnehmenden Tourist*innen beim ebensolchen Filmen und Betrachten der Wale. Teile der Bilder wurden manipuliert, indem sie etwa auf den Kopf gestellt oder rückwärts abgespielt werden. Einen Extrakt dieser Arbeit bilden kleine, mit Wachs bearbeitete Aufkleber, die in regelmäßigen Abständen über die Wände des Raumes verteilt wurden. Sie zeigen ausgeschnittene, aus dem Meer herausragende Walrücken (Piece of Whale, 2019). Möglicherweise können sie als Analogie zum Rücken des „Atlas“ und des „Tages“ gesehen werden. Gegenüber von Whale Watch ist im linken Seitenschiff des Raumes das Video Simulated Whale Watch (2019) zu sehen, das eine performative Installation im Atelier der Künstlerin zeigt, in der eine auf einer langen Stange montierte GoPro-Kamera unruhig und stetig über diverse Oberflächen wie etwa Folie, Fußboden oder eine Zeichnung mit perspektivisch angelegten Linien streift. Im Gegensatz zur dokumentarischen Anmutung des Whale Watch-Videos zeigt dieses ein verrückt verkehrtes Oben und Unten, in dem jedes Gefühl für Raum verloren geht. Schultz: „To draw the maps for orientation and action, I’m following the way, for example, the military might draw for strategic actions in the desert in the sand. It can be spread to the size of a whale, so its manoeuvres are performed within the map while drawing it. And after being used, it can be immediately wiped off with the foot.“ [4]
Im Nachvollziehen der Ein- und Ausdehnung der proposals und davon, wie sie in Bezug zur Ausstellung stehen, bildet links neben der Eingangstür eine schwarze Sitzbank einen greifbaren und wiedererkennbaren Ort, von dem aus man seitlich auf alle Elemente der Ausstellung blicken und sie erwägen kann. Auf der Bank liegen die Teile des aus fünf Heften bestehenden Künstlerbuches aus. An der Wand hinter der Bank sind Vorder- und Rückseiten der Poster angebracht, die ebenfalls Teile der Publikation sind. Sie zeigen eine geometrische, kolorierte Zeichnung, die Schultz in Philadelphia auf der Straße gefunden hat und im Video Simulated Whale Watch verwendet, Fotos eines sich bei der Vorbeifahrt verzerrt in einem Dan-Graham-Pavillon spiegelnden Autos, das Bild eines Wasserfalls mit grüner Rückseite, eine Situation mit Besucher*innen bei einer Alexander-Calder-Ausstellung und Abbildungen der Vorder- und Rückseite einer metallischen Kugel, auf denen das „Hopes and Dreams“ und das Fabelwesen mit dem Eis eingraviert sind und die erste Versuche einer digitalen Dreidimensionalisierung des Kalenderblattes darstellen. Für jedes dieser Poster wurde ein spezifisches Format und eine besondere Papierqualität ausgewählt. Es wäre unmöglich, die Metaebenen und die Verknüpfungen, die Schultz hier herstellt, an dieser Stelle wiederzugeben. Zudem finden sich Notationen zur Soundarbeit The Sound will be Untied (realisiert in Zusammenarbeit mit Liam McGill, 2019), die aus zwei diagonal zueinander platzierten Lautsprechern und einem Subwoofer nur leicht wahrnehmbar eine Bearbeitung des Sounds der Klimaanlage im Atelier der Künstlerin hörbar macht. Ebenfalls Teil der von der Künstlerin konzipierten Publikation ist ein Heft, das die Walreise dokumentiert. In ihm sind unter anderem Fotos enthalten, die die Oberfläche des Meeres abbilden. In einem Vortrag an der Boston University [5] beschreibt Schultz einen für sie einschneidenden Moment gegen Ende ihres Studiums an der Städelschule in Frankfurt/M., in dem sie sich fast die gesamte Zeit mit Fotografie beschäftigt hatte. In der Dunkelkammer und auf der Suche nach Sinn in ihrer Arbeit drehte sie intuitiv ein Foto einer Meeresoberfläche auf den Kopf. Sie war fasziniert vom Unterschied, den das einfache Umdrehen des Bildes in ihrer Wahrnehmung verursachte. Noch wichtiger: die Erkenntnis, dass sie selbst es war, die mit dieser Bewegung die Schwerkraft der Elemente verlagern konnte.
„Nora Schultz: would you say this is the day?“, Secession, Wien, 27. Juni bis 1. September 2019.
Melanie Ohnemus ist Kuratorin für zeitgenössische Kunst. Sie lebt und arbeitet in Wien.
Anmerkungen
[1] | Nora Schultz, in: proposal zur Ausstellung, Secession, Wien, 2019, o. S., Künstlerpublikation bestehend aus 5 Heften und 6 Postern in einem Kartonschuber, Vertrieb: Revolver Publishing, Berlin. |
[2] | Schultz, ebd. |
[3] | Interview Nora Schultz, Tate, London, 2014, https://www.youtube.com/watch?v=1eVJZKOTg7E |
[4] | Schultz, ebd. |
[5] | Vortrag Nora Schultz, Boston University, 2018, https://www.youtube.com/watch?v=LtOwZIf8LFE. |