DAS TECHNISCHE AUGE Katja Müller-Helle über Josephine Pryde im Haus am Waldsee, Berlin

„Josephine Pryde: How Frequency The Eye”, Haus am Waldsee, Berlin, 2024
Als René Descartes in La dioptrique (1637) Mitte des 17. Jahrhunderts seine Ideen zur mathematisch genauen Projektion des menschlichen Sehens ausführte, exemplifizierte er dies an einem extrahierten Ochsenauge. Dort, wo Descartes den Übergang der inneren Sensationen des Sehvorgangs zur äußeren Welt ansiedelte, stand, laut Jonathan Crary, ein „amputiertes Zyklopenauge“ [1] , durch das die perspektivische Genauigkeit des Sehsinns evident werden sollte: „[A]n der Rückseite des Auges schneiden Sie vorsichtig die drei Häute, die es umgeben, ab, ohne dass das Auge ausläuft […]. Wenn Sie nun den weißen Körper […] betrachten, werden Sie nicht ohne Bewunderung und Freude ein Bild sehen, das ganz naturgetreu alle Gegenstände […], die sich draußen befinden, perspektivisch wiedergibt.“ [2] Für die Herauslösung des Auges vom übrigen Körper sei es nützlich, „sich das Auge eines eben verstorbenen Menschen oder stattdessen eines Ochsen oder eines anderen grossen Tieres“ [3] vorzunehmen, um es als Linse in die Öffnung der Camera obscura zu setzen. Durch das Experiment bewies der den frühneuzeitlichen Rationalismus begründende Philosoph, dass die optischen Sinneseindrücke als seitenverkehrte, kopfstehende Bilder auf die Netzhaut gelangen, um vom Sehnerv aufgenommen und ins Gehirn weitergeleitet zu werden.
Diese Urszene der Sehtheorie, deren revolutionierende Erkenntnisse das somatische Unbehagen des experimentellen Vorgangs legitimiert, das bis in die Rasiermesser-Szene des Augenschnitts von Luis Buñuels und Salvador Dalis Un chien andalou (1929) nachwirkt, kommt mir im Café des Hauses am Waldsee in den Sinn, als ich von meinem Kuchen aufblickend auf Josephine Prydes Edition Ochsenaugen durch Träne (2024) schaue. Zwei abgeflammte Kekse, die in unbeschadetem Zustand in den Auslagen gut sortierter Bäckereien Kinderaugen zum Leuchten bringen, zwei zarte Mürbeteigböden, von Mandelringen gerahmt und gefüllt mit roter Marmelade. Auf den ersten Blick scheint die im Titel anklingende Analogisierung des sezierten Sehorgans des Ochsen und dem Plätzchen Schweizer Herkunft, eine Variante des Linzer Auges, ins Dumpf-Ironische abzugleiten, wäre da nicht die verbrannte Oberfläche der Mandelringe, das Süße der klebrigen Augenflüssigkeit aus saurer Johannisbeermarmelade begrenzend, bis zur Ungenießbarkeit verkohlt. So wie eine Fotografie aus den Untiefen des 19. Jahrhunderts, als fotochemische Emulsionen manches fotografische Experiment nicht überstanden und abschmolzen, wird hier die obere Schicht geschwärzt, zerstört.

Josephine Pryde, „Ochsenaugen durch Träne“, 2024
Durch welche Träne sollen diese Augen aber betrachtet werden? Verweist der Titel auf mich, die Gabel haltende Betrachterin, deren Blick, von Augenflüssigkeit getrübt, die Bitterstoffe der Verbrennung auf der Zungenspitze evoziert? Oder auf die „selektive Transparenz“ der Fotografie selbst, wie Susan Sontag das spezifisch fotografische Spiel zwischen dargestelltem Gegenstand und mittels optischer Apparatur transformierender Technik einmal bezeichnete? „Photographs are traces, but not windows which give us a transparent view of the world as it is – more exactly, as it was. They are a particular kind of sign system producing the illusion of reality (what Barthes called: ,the effect of the real.‘)“. [4] Das Leaflet zur Ausstellung verstärkt die Verunsicherung über den hier angestoßenen Sehvorgang: Auf einer der hinteren Seiten ist das Tristitia-Emblem (1665) abgedruckt, nur kurz nach Descartes’ Ochsenauge zu datieren. In der Himmelsdarstellung zeigt das isolierte Auge zwei wohlgeformte Tränen, die von dessen Rand zu tropfen drohen. Wo ich auch hinschaue: Das Auge, ja, das Sehen selbst, wird zwischen Überblendung, Abblendung, Auge und Kamera, getrübtem und klarem Blick zum Problem. [5]
Mit ihrer neuen Serie, die aus den Sequenzen Television, Potholes, Causeway (W2-A1) und Stones (alle 2024) besteht und jüngst in der Ausstellung „How Frequency The Eye“ im Haus am Waldsee zu sehen war, stellt sich Josephine Pryde in die lange Geschichte der Erforschung des Sehens. Seit Descartes’ Zyklopenauge treten optische Instrumente, technische Apparaturen und fotografische Verfahren auf, die als theoretische Objekte das Sehen selbst problematisieren und in Konkurrenz mit dem menschlichen Auge stehen: Das Fernrohr, das Mikroskop, die Camera Obscura, das Stereoskop, die Fotografie oder die Filmkamera etablierten im Verlauf ihrer historischen Entwicklung jeweils neue Modelle für technisch definierte Theorien des Sehens, die das Verhältnis von Auge und Sichtbarkeit immer wieder neu strukturierten. [6] In Differenz und Analogie von natürlichem Auge und technischer Apparatur hatte seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Metapher vom „künstlichen Auge“ (Joseph Nicéphore Niépce) Konjunktur, die sich sowohl in der „Retina des Gelehrten“ (Jules Janssen) als auch im Konzept des „Kino-Auges“ (Dziga Vertov) ausdrückte. [7]

„Josephine Pryde: How Frequency The Eye”, Haus am Waldsee, Berlin, 2024
„How Frequency The Eye“ nimmt die Metapher des technischen Auges in einer Gegenwart wieder auf, in welcher der menschliche Blick durch KI-gestützte Systeme, die eine Verunsicherung über den Wirklichkeitsbezug technischer Bilder mit sich bringen, einer neuen Bestimmung bedarf. In der Television-Sequenz, die in den vorderen Räumen des Erdgeschosses präsentiert wird, schauen Maschinen-Augen auf die Betrachterin zurück. Zwei runde schwarze Öffnungen, die sich hinter dem die Bildebenen von Vorder- und Hintergrund durch Spiegelungen aufbrechenden Kubus befinden, evozieren statische Augen mit technoidem Blick. Offen wie der Titel der Ausstellung, dessen grammatikalisches Stakkato keine zusammenhängende Sinneinheit stiftet, bleibt, was das Gesehene genau bezeichnet. Als Metabild für dieses Verfahren Prydes können die Glaskuben gelten, die – in der Reihe Television auf spiegelnder Oberfläche stehend und Textbausteine reflektierend – kein Narrativ erkennen lassen. Die fotografischen Experimente zum technischen Auge werden im Erdgeschoss jedoch über die Raumordnungen stabilisiert: eine semitransparente Wand, die nach den Entwürfen Prydes in den Eingangsraum des 1922 ursprünglich als Wohnhaus („Haus Knobloch“) genutzten Hauses am Waldsee hineingebaut wurde, nimmt die Reflexion über den Sehvorgang – und dessen Verstellung, Trübung und Ablenkung – auf und überträgt sie ins Dreidimensionale.
In den Serien Potholes und Causeway (W2–A1), die den großen Ausstellungsraum mit Blick auf Garten und See dominieren, wird diese Reflexion erneut anhand des technischen Auges exemplifiziert: Durch einen Filter, einen eigens angefertigten „Objektivkonverter“, manipuliert Pryde den Blick auf Landschaften und Schlaglöcher, was erstaunlicherweise nicht zu einer Technisierung, sondern zu einer Intimität des Blicks führt: als schaue man aus dem Inneren, von den eigenen Augenlidern gerahmt auf Landschaften und steinige Wege.

„Josephine Pryde: How Frequency The Eye”, Haus am Waldsee, Berlin, 2024
Die neuen Arbeiten werden im Obergeschoss lose mit älteren zu einer Gesamtschau konstelliert, deren retrospektiver Charakter durch den Film Condition Check (2024) markiert wird: eine filmische Untersuchung über den Lagerzustand der im Sommer 2016, zur Zeit von Prydes Turner-Prize-Nominierung entstandenen nicht fixierten Fotogramme, Summer 2016 (London, Athens, Berlin); die ursprünglich farbige und nun in Schwarz-Weiß abgezogene Serie Cabinets (2019/24), in der ein amorpher Tintenfischkörper völlig deplatziert die Oberflächen einer Flugzeugtoilette entlangrutscht; die stark nahansichtig fotografierten Porträts (2013/23), die Vorlagen für das Albumcover der Band The Devil lieferten; die in Bronze-Abgüssen stillgestellten, auf Treibholz fixierten Kaugummis, die Pryde während einer Gastritis zu den Songs von Taylor Swifts Album Lover kaute und anschließend zu Taylor Swift’s ‘Lover’ & the Gastric Flu (2022) verarbeitete, hinterfangen von einer Serie fotografischer Abstraktionen.
Auch in diesen Arbeiten im Obergeschoss wird die Fotografie in Serien eingesetzt, um als Forschungsinstrument die sichtbare Welt der Waren, der Nicht-Orte, der Kunstinstitutionen in Einzelteile zu zerlegen, die sich – wie André Rottmann beschreibt – nicht zu einer fotografischen Praxis aufsummieren lassen: „It is neither a fossil nor an immaterial screen, neither completely opaque nor entirely transparent.“ [8] Durch den Rückgriff auf die Augenmetapher des technisierten Sehens gelingt Pryde in der neuen Serie von 2024 jedoch die Fokussierung auf den Sehvorgang selbst – und dies in einer Gegenwart, wo er als Ganzes zunehmend auf dem Spiel steht. Sie befragt unsere Positionierung zwischen der Unüberschaubarkeit apparategestützter Bildproduktion und der Sinnhaftigkeit, die wir Bildern zusprechen, um noch einmal auf die Stelle zu zeigen, mit denen sie – zumindest für uns – ans Reale rühren. Denn auch die neuen Infrastrukturen der Bilder werfen durch deepfake-Verfahren, KI-Generierung und Bildmanipulationen wieder Fragen des Wahrheitsversprechens hinter ihrer Oberfläche auf, die aus der Tiefe der Geschichte bildtechnischer Verfahren stammen.

Josephine Pryde, „Pothole (1)“, 2024
Diese alten Fragen, die durch Prydes Thematisierung der Augen als Welterschließungsinstrumente im neuen Gewand auftreten, bekommen neue Brisanz angesichts des ungeheuren Bilddatenvolumens, das algorithmisch gesteuert durch unsere Instagram-Feeds und Youtube-Kanäle geschleust wird. Durch die technischen Infrastrukturen heutiger Plattformen, in denen noch nicht einmal mehr Menschenaugen von Maschinenaugen abgelöst werden, sondern wir es durch die Bild-Datafizierung mit einer radikalen Verschiebung im Feld des Sichtbaren zu tun haben, bedeutet Prydes Position eine Auslotung des Territoriums des Auges. „Platform Seeing“ haben Adrian MacKenzie und Anna Munster die allumfassende Operationalisierung von Bildern als Daten genannt, mit der eine Verunsicherung über den Status des menschlichen Auges in einer Gegenwart angesprochen ist, in der kein Standpunkt mehr gewählt werden kann, von dem aus alles zu überblicken wäre. [9] Duch die Blicke selbst werden schleichend von juridischen Rechtsformen, forensischen Auswertungsszenarien oder automatischen Filtersystemen kolonisiert. Prydes Rückzug auf das fotografische Verfahren lässt sich damit nicht allein deuten als melancholisch-modernistische Medienreflexivität oder als Geste einer Criticality, die die Funktion der Kunst, wie Tom Holert ausführt, auf Reflexivität und Allegorisierung reduziert. [10] Durch ihre präzise Befragung einer Geschichte des technischen Sehens können Prydes neue Arbeiten als Rückgewinnung des Sehens mit eigenen Augen angesichts allumfassender Effekte des Plattformkapitalismus gelten.
„Josephine Pryde: How Frequency The Eye“, Haus am Waldsee, Berlin, 24. Mai bis 18. August 2024.
Dr. Katja Müller-Helle ist Leiterin der Forschungsstelle „Das technische Bild“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist Herausgeberin der Zeitschrift Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik (gemeinsam mit Claudia Blümle). Ihr aktuelles Buch Bildzensur. Infrastrukturen der Löschung (2022) erschien in der Reihe „Digitale Bildkulturen“ im Verlag Klaus Wagenbach Berlin.
Image credit: 1. + 3. + 4. Fotos Julian Blum, Courtesy of Haus am Waldsee; 2. + 5. Fotos Stefan Korte, courtesy of the artist, Galerie Neu and Reena Spaulings Fine Art
ANMERKUNGEN
[1] | Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert [1990], Dresden 1996, S. 57. |
[2] | René Descartes, „Dioptrik“ 1637, in: Gertrud Leisegang, Descartes’ Dioptrik, Meisenheim am Glan 1954, S. 90. |
[3] | Ebd. |
[4] | Mit „draft I“ gekennzeichnetes Manuskript. Box 71, F. 10, Susan Sontag Papers (Collection 612). UCLA Library Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA. |
[5] | Im Vergleichsgefüge von Kamera und Auge wird spätestens seit dem 19. Jahrhundert das menschliche Sehen als problematisch markiert: Es sei nicht genau genug, es verliere – entgegen der fotografischen Technik – die Bilder auf der Netzhaut und sei nicht zur Dauerhaftigkeit der Darstellung fähig. Vgl. Christoph Hoffmann, „Zwei Schichten. Netzhaut und Fotografie, 1860/1890“, in: Fotogeschichte, 21, 2001, S. 21–38, und Bernd Stiegler, Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert, München 2001. |
[6] | Josef Vogl, „Medien-Werden. Galileis Fernrohr“, in: Mediale Historiographien. Archiv für Mediengeschichte, Bd. I, hg. von Lorenz Engell/Joseph Vogl, Weimar 2001, S. 115–123; Stiegler 2001. |
[7] | Mit der metaphorischen Umschreibung der „Retina des Gelehrten“ verglich 1888 der französische Astronom Jules Janssen den lichtempfindlichen Träger des fotografischen Verfahrens mit dem menschlichen Auge, um dessen Vorteile der Fixierung gegenüber dem natürlichen Sehen herauszustellen. Vgl. Jules Janssen, „En l’honneur de la photographie“ [1888], in: Ders., Œuvres Scientifiques, Bd. 2, hg. von Henri Dehérain, Paris: Société d’éditions géographiques, maritimes et coloniales, 1930, S. 86–90. Zur Weiterentwicklung der Augenmetapher bei Vertov siehe Dziga Vertov, „Kinoglanz“ [1924], in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 2003, S. 51–53, |
[8] | André Rottmann, „Pryde’s Ambition: A Preface, in: Ders. (Hg.), The Enjoyment of Photography. Josephine Pryde, Ausst.-Kat., Kunsthalle Bern, Zürich, 2012, S. 231–235, hier: S. 232. |
[9] | Adrian MacKenzie/Anna Munster, „Platform Seeing: Image Ensembles and Their Invisualities“, in: Theory, Culture & Society, 5, 2019, S. 3–22. |
[10] | „But that said, she [Pryde] does not simply surrender to a prescribed performance of criticality that reduces art’s functions to the task of reflexivity or of allegorizing […]“. Tom Holert, „Test Subjects. Tom Holert on the Art of Josephine Pryde“, in: Artforum, April 2012, S. 166–175, hier: S. 170. |