IN DEN RUINEN DES SPÄTEN KAPITALISMUS Niklas Maak über „Disappearing Berlin“
Jahrzehntelang war in Berlin ein seltsames Phänomen zu beobachten: Während die Stadt die zahlreichen öffentlichen Liegenschaften, Grundstücke und Gebäude, zu Schleuderpreisen an private Investor*innen verkaufte und so die zahlreichen Freiräume, die sich nach 1989 eröffnet hatten, Stück für Stück abschaffte, machte das Stadtmarketing unverdrossen Werbung mit dem Image einer „wilden“, „improvisierten“ Untergrundszene – und diejenigen, die maßgeblich mit an der Verwandlung der Stadt in ein effizienzgetriebenes Urbano-Unternehmen und an der Zerstörung ihrer sozialen Freiräume beteiligt waren, genossen die Ästhetik des „Ruinösen“ und „Improvisierten“ einer Szene, zu deren Untergang sie gleichzeitig beitrugen. Der Unternehmensberater Roland Berger mietete für seine Veranstaltungen den Rodeo Club an, die Konkurrenz von McKinsey feierte 2004 ihr 40-jähriges Firmenjubiläum im Palast der Republik, wo auch die Spitzen der deutschen Wirtschaft beim Jahrestag des Bundesverbands der deutschen Industrie zusammenkamen und sich mit wohligem Schauer am wilden Treiben der Kunst in den Ruinen des Kommunismus erfreuten. Es war bezeichnend, dass der Pressesprecher des Immobilienentwicklers Vivico im Tagesspiegel die Kunstszene wortwörtlich zum „Köder“ erklärte, mit der sich wichtige Investor*innen in die Stadt locken lassen. [1] Ähnlich wie man auf dem offiziellen Onlineportal der Hauptstadt, berlin.de, heute noch Texte lesen kann, in dem das Stadtmarketing die „Hotspots in Berlins Szene-Bezirk Neukölln“ feiert. [2] Kein Wort dazu, dass dort jahrzehntelang viel zu wenig in Bildung und Stadtplanung investiert wurde und die fortschreitende Gentrifizierung viele Mieter in Not bringt.
Die Ästhetisierung des Kaputtgegangenen und Vernachlässigten zur „lässigen Abgeranztheit“ eines Lebens „ohne Tapeten“ schläfert das Bewusstsein für die sozioökonomischen Brüche, die sich in den stadt- und kulturprägenden prekären Orten auch abbildet, weitgehend ein. Ihnen widmete sich im vergangenen Jahr eine Serie von Performances, die vom Team des Schinkel Pavillons rund um Nina Pohl organisiert wurde. Unter dem Titel Disappearing Berlin wurden Gebäude in Berlin bespielt, denen Umnutzungen, Privatisierungen oder Abriss bevorstanden. So wurde etwa auf der 22. Etage des leer stehenden Postbank-Hochhauses aus den 1970er Jahren Julius Eastmans Gay Guerilla (1979) aufgeführt, spielte der amerikanische Komponist und Schlagzeuger Eli Keszler in einem Parkhaus am Kottbusser Tor und trat der belgische Komponist Billy Bultheel, der auch die Musik zu Anne Imhofs Faust schrieb, auf dem Dach des sogenannten Bonjour-Tristesse-Hauses von Álvaro Siza auf, eines der wichtigsten Gebäude der letzten Internationalen Bauausstellung von 1987. Marianna Simnett wiederum zeigte ihre Filme im ältesten Kino Deutschlands, dem Moviemento in Kreuzberg. Der Abschluss fand in einem Gebäude aus dem 19. Jahrhundert in der Hasenheide statt, das nacheinander als Ballsaal, Arbeiter*innentheater, Militärkrankenhaus, Kino, Nachtclub, Konzert- und Partyraum (des Clubs Pleasure Dome) diente und von diversen Investor*innen abgerissen werden sollte.
Anders als jenes Publikum, das auch in den „lässig abgeranzten“ Freiräumen und Ruinen eines untergegangenen Systems in Vorfreude darauf feierte, sie bald demolieren und durch gewinnträchtige Neubauten oder Clubs im tourismuskompatiblen Untergrunddekor ersetzen zu können, war Disappearing Berlin immer mit der Forderung verbunden, diese Räume nicht nur ästhetisch, sondern auch als soziale Freiräume für alle zu erhalten – so beispielsweise auch ein Abend in dem berühmten Tanzlokal Clärchens Ballhaus, das nach seiner Schließung im vergangenen Januar als Eventlocation für private Veranstaltungen genutzt werden soll. Nur einmal griff das Team daneben – als man zu einer Performance- und Clubnacht in die Green Mango Karaoke Bar am Kottbusser Tor einlud und laut Einladung „das dortige Xara Beach, sonst Treffpunkt eines meist männlichen arabischen Publikums, mit Live-Performances zum kosmopolitischen Begegnungsort“ machen wollte: Hier sahen die – ja, immerhin auch in einem privilegierten, größtenteils weißen Kunstmilieu beheimateten – Kritiker*innen der Stadt-Umdefinition von oben mit ihrer Ansage, dem Shisharaucherpublikum mal zu zeigen, wie man sich ‚kosmopolitisch‘ begegnet, plötzlich leider selbst ein wenig wie die aus, deren Treiben sie sonst so kritisch auseinandernehmen.
Disappearing Berlin war aber nicht nur deswegen so wichtig, weil mit den Veranstaltungen ein Bewusstsein für das geweckt wurde, was mit Orten wie Clärchens Ballhaus verloren gehen könnte. Die Performanceserie begleitete auch eine neue, gerade erst im Entstehen begriffene Debatte darüber, was mit den zukünftigen Ruinen des Spätkapitalismus passieren soll. Durch den technologischen Wandel sieht die Stadtgesellschaft der größten Entstehung von Ruinen seit Langem entgegen: Schon heute werden reihenweise Postämter geschlossen; die gerade in den Coronawochen boomende Netflix-Kultur lässt Kinobetreiber das Schlimmste fürchten; es bleibt abzuwarten, ob das weltgrößte Experiment zum Thema Homeoffice, das aufgrund der Coronapandemie gerade stattfindet, wirklich zum Ende der klassischen Arbeit in innerstädtischen Bürobauten führt, wie Niall Patrick Walsh schon am 11. März 2020 auf der Website Arch Daily prognostizierte.
Schon vor Corona wurden Shoppingmalls, einst zu Recht als Zerstörer eines gewachsenen Kleinhandels kritisiert, selbst zur bedrohten Art. In Amerika, aber auch hierzulande gehen Hunderte dieser Einkaufszentren aufgrund des Onlinehandels ein: Die Website deadmall.com verzeichnet Hunderte von ‚toten Malls‘. Was aber ist ein Stadtzentrum, wenn dort nicht mehr gearbeitet, eingekauft, ins Kino gegangen wird? Wenn Postämter, Einkaufszentren, Parkhäuser, Bürobauten bald leer stehen, muss das nicht bedeuten, dass die Zentren veröden? Es kann auch eine Chance sein. Wenn die Arbeit sich ändert, ändert sich auch die Stadt: Die Ruinen, die die technologische Revolution hinterlässt, aber auch Straßen und Parkplätze, die hauptsächlich für die Organisation des individuellen Verkehrs von zu Hause zum Büro und zurück bestimmt sind, könnten neu gestaltet werden. In ehemaligen Konsum-, Verkehrs- und Bürobauten können, wie die Umnutzung des Berliner Hauses der Statistik schon heute zeigt, Freiräume entstehen, die andere Arten fördern, Zeit miteinander zu verbringen, Kinder großzuziehen, mit Freund*innen außerhalb der Grenzen der Kernfamilie zu leben – und in denen nicht zuletzt auch neue Formen von Beschäftigung nach dem Ende exploitativer Lohnarbeit, neue Formen von Bildung, Kommunikation, Wissensproduktion und Zusammensein möglich werden.
Eine der besten und aufschlussreichsten Veranstaltungen von Disappearing Berlin war in diesem Sinne ein Abend in der einst prestigeträchtigsten Mall des neuen Berlin, dem Quartier 206 an der Friedrichstraße, das einst nicht die erhofften Gewinne abwarf und unter Zwangsverwaltung geriet. Wenn man im Quartier 206 die große Marmortreppe hinabsteigt, sieht es dort schon heute aus wie im Angsttraum all jener, die befürchten, dass ein seiner Energie- und Autoindustrie beraubtes, mietgedeckeltes Deutschland sich schnell in eine postkapitalistische Verfallshölle verwandeln könnte, in der die letzten ortsansässigen Kommunist*innen das Fleisch der im Schlossgraben erlegten Wölfe über brennenden Mülltonnen grillen. Nicht nur Gucci und Louis Vuitton sind weg – es sieht heute im Quartier 206 aus, als sei Deutschland Hals über Kopf von sämtlichen Bewohner*innen verlassen worden. Disappearing Berlin zeigte, was man mit derartigen Ruinen der Konsummoderne machen könnte: auf den marmorspiegelnden, goldschimmernden Balkonen der Mall standen an diesem Abend zahlreiche Menschen und fuhren mit der Rolltreppe immer im Kreis auf und ab, während die Glam-Punk-Trash-Band Die hässlichen Vögel die Marmortreppe emporstieg und anfing zu spielen. Die tote Luxuseinkaufsmeile verwandelte sich einen Abend lang zu einem Post-Konsum-Theater, einem „Fun Palace“ nach Cedric Price’ utopischer Ereignisarchitektur aus den 1960er Jahren, in dessen Hallen und Bühnen Menschen ohne Kauferwartungen herumflanierten, schauten, tranken oder hinter den schon leicht eingestaubten künstlichen Palmwedeln verschwinden durften. Hinter diesem Disappearing-Berlin-Abend zeichnete sich nichts weniger als die Möglichkeit einer neuen Stadtgesellschaft ab: Wenn die enormen Robotisierungs- und Automatisierungsgewinne, die viele Arbeitsplätze kosten werden, politisch gerecht verteilt würden, etwa in Form eines bedingungslosen Grundeinkommens, könnten die Ruinen eines Kapitalismus, der das Opfer seines eigenen Drangs zu immer effizienteren Abläufen und Formen wurde, zur Bühne für ganz neue Formen von Gemeinschaft, aber auch zum Baumaterial für das werden, was sie früher zerstörten: für eine neue Form von Stadt.
https://disappearingberlin.de/, eine einjährige Veranstaltungsreihe des Schinkel Pavillons, Berlin.
Niklas Maak leitet das Kunst- und Architekturressort im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und unterrichtet Architekturtheorie in Harvard. Zuletzt erschien von ihm der Roman Technophoria (Hanser Verlag).
Image credit: 1. Silke Brie, 2. Julija Goyd
Anmerkungen
[1] | Vgl. Nicola Kuhn, „Neues Museum: Andy Warhol legt am Humboldt-Hafen an“, in: Tagesspiegel, 18. Juni 2008. |
[2] | Vgl. Berlin Online Stadtportal, „Neukölln: Die Hotspots in Berlins Szene-Bezirk/Bezirk in Partystimmung: Berlin-Neukölln hat sich zum hippen Szene-Viertel gemausert“, https://www.berlin.de/tourismus/touren/2170782-956960-neukoelln-die-hotspots-in-berlins-neuent.html, gesehen am 01.05.2020. |