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Ein Brief an den Ermittler Rainer Bellenbaum über Emily Jacirs „Letter to a Friend“

Emily Jacir, „Letter to a Friend“, 2019, Filmstill

Emily Jacir, „Letter to a Friend“, 2019, Filmstill

Ein Film ist ein Brief ist ein Resonanzraum. Die palästinensisch-amerikanische Künstlerin Emily Jacir verbindet in ihrem Brieffilm „Letter to a Friend“ zeitgeschichtliche mit persönlichen Beobachtungen. Aus dieser Verstrickung resultiert auch die spannungsvolle Adressierung ihres ‚Briefs‘: Erinnerungen an die blutigen Kämpfe zwischen Israel und Palästina treten hier an die Seite intimer Notizen an den Freund in der Ferne – den israelischen Architekten Eyal Weizman. Der Medienwissenschaftler Rainer Bellenbaum nimmt „Letter to a Friend“ zum Anlass einer Analyse dieser eigentümlichen Korrespondenz.

Wen adressiert ein Brieffilm? Dessen ‚Empfänger*innen‘ sind grundsätzlich von weiteren konkreten oder auch imaginären Teilhaber*innen umgeben. Sei es, dass einer der berühmten Werke dieses Genres, Chris Markers Sans Soleil (1983), sich einfach an ein „Du“ (vous) wendet. Oder sei es, dass, wie in Emily Jacirs Letter to a Friend (2019), der angesprochene Partner „Eyal“ heißt. Von jedem Du mögen die der kinematografischen Immersion ausgesetzten Zuschauer*innen sich grundsätzlich selbst (mit-)angesprochen fühlen. Umgekehrt darf jeder konkret genannte Empfänger sich durch die Inszenierung der öffentlichen Ansprache in der Rolle eines Repräsentanten wähnen. Letter to a Friend steigert ein solches Fiktionspotenzial filmischer Briefpartner*innen noch einmal dadurch, dass hier die ‚absendende‘ palästinensische Künstlerin die Beziehung zu ihrem israelischen Freund als ein facettenreiches, von Solidarität, Respekt, Vertraulichkeit, aber auch von Ironie gefärbtes Verhältnis inszeniert. Fragt sich, inwieweit trotz der filmischen Konturierung eines solchen Ausdruckswechsels noch die der Briefrhetorik zugeschriebene Qualität des Persönlichen und Authentischen erhalten bleibt.

Jacirs Film ist erkennbar Teil einer längeren Korrespondenz. Die zentralen Bilder: Die Aufnahmen vom Fundstück einer abgeschossenen Tränengasgranate Marke „Tripple Chaser“ aus Jacirs Garten an der israelisch-palästinischen Kampffront in Bethlehem hatte die Künstlerin im Vorfeld ihrem Freund Eyal Weizman zur Verfügung gestellt. Dieser Freund, Gründer und Leiter der Artistic Research Agency Forensic Architecture, interessierte sich für die Aufnahmen, um sie seinerseits für den Videobeitrag Tripple Chaser [1] (2019) im Rahmen der Whitney Biennale 2019 zu verwenden. Geübt in tagespolitischer Aktivierungskunst, hatte Forensic Architecture jene Tränengasgranaten, die von Armeen in vielen Teilen der Welt zur brutalen Niederschlagung von Bürger*innenprotesten eingesetzt werden, ausgerechnet für die New Yorker Biennale zum Thema gemacht, um auf die zynische Doppelgesichtigkeit von Whitneys Vorstands-Vizevorsitzendem Warren B. Kanders hinzuweisen. Kanders ist gleichzeitig Inhaber der Firma Safariland, die die besagten Tränengasgranaten industriell herstellt. Gemeinsam mit dem Biennale-Boykott anderer Künstler*innen gelang es Forensic Architecture mit ihrem Enthüllungsvideo, den umstrittenen Whitney-Vize zum Rücktritt zu bewegen. Dabei verdankte sich die mediale Wirksamkeit des Videos nicht nur der brillanten Vorführung von Methoden digitaler Bilderkennung und grafikgestützten Machine Learning zur Aufspürung von Kriegshandlungen. Als verstärkende Pointe kam hinzu, dass diese kritische Darlegung der Kriegsverstrickung Kanders von dem durch ihn beratenen Museum selbst finanziert war. Nicht zuletzt stieg die Aufmerksamkeit für das Video auch aufgrund so prominenter Akteure wie Popstar und Talking Heads-Frontmann David Byrne als Kommentarsprecher oder die für ihren Snowden-Film oscarprämierte Laura Poitras als ausführende Regisseurin.

Zu diesem Bravourstück künstlerischen Aktivismus liest Jacirs Film sich gewissermaßen wie ein Antwortbrief, zumindest dann, wenn man die Chronologie der Premieren zum Maßstab nimmt: Letter to a Friend erschien etwa ein halbes Jahr nach der Tripple Chaser-Premiere. [2] Zudem wirken einzelne Passagen in Jacirs Film wie Referenzen auf das Forensic-Architecture-Stück. Nicht nur sind in beiden Filmen dieselben Aufnahmen der Tränengaskanister-Fundstücke aus Jacirs Garten zu sehen; auch die Präsentation einer Waffenhersteller-Website in Letter to a Friend verweist deutlich auf die Bilddramaturgie in Tripple Chaser. Hinzu kommt, dass Jacir mit ihrem Film den Freund wie als Gegenbitte ansucht; er, Eyal, und Forensic Architecture mögen ein „noch nicht begangenes Verbrechen“ in Bethlehem untersuchen. Andererseits ist diese ihre Bitte laut Vorspanntitel auf den 11. April 2019 datiert, also auf einen Monat vor Beginn der Whitney Biennale. Dabei spekuliert Jacir, welche ihrer Aufnahmen der Briefpartner wohl verwenden würde, und gibt damit zu erkennen, dass ihr dessen fertiggestellter Film im Moment der eigenen Produktion unbekannt war. Noch interessanter als solche zeitlich kristallinen Beziehungen zwischen den beiden Filmen ist deren dramaturgischer Gegensatz. Folgt Forensic Architecture dem Modell eines plattformorientierten Investigativjournalismus, so ist Jacirs Film deutlich von der Rhetorik des persönlichen Briefeschreibens bestimmt. Statt auf den direkten politischen Zweck zielt die Künstlerin auf die gesellschaftlichen, zeitgeschichtlichen, geografischen und nicht zuletzt auf ihren autobiografischen Kontext in jenem Viertel in Bethlehem, in dem sie gelebt hat und in dem auch die blutigen Kämpfe zwischen palästinensischem Widerstand und israelischer Armee toben und seit den 2000er Jahren die Kontakte der ansässigen Bevölkerung durch die mäandernde israelisch-palästinensische Mauer massiv einschränkt sind.

Emily Jacir, „Letter to a Friend“, 2019, Filmstill

Emily Jacir, „Letter to a Friend“, 2019, Filmstill

Zu Anfang filmt die Künstlerin sich selbst, wie sie mit nackten Füßen über den Boden ihres Gartens geht. Mit jedem Schritt erfasst der von ihr handgeführte Kamerablick einen Moment lang die eigenen rot lackierten Zehennägel wie als intimisierende Signatur der einsetzenden Grußworte an den Freund, aber auch wie als Kontrast zur Gefahr des direkt im Schussfeld gelegenen Gartens. Vielfältig wechselt der Film zwischen privaten und öffentlichen Angelegenheiten. Newsfeed-Bilder von Straßenschlachten alternieren mit hochformatigen Handyschnappschüssen von Jacirs Hund. Prachtvolle Vintagefotografien vom familiären Grund- und Immobilienbesitz [3] weichen Aufnahmen von der Fahrt an der heutigen israelischen Siedlungsexpansion entlang. Sonnige Szenen mit einem befreundeten Weinbauer folgen auf solche eines alltäglichen Schattendaseins im Mauerlabyrinth. Berichte über gefallene Widerstandskämpfer*innen sowie über Jacirs selbst erlittene Verwundung durch einen israelischen Heckenschützen gehen über in Schilderungen zur Urbanität der Nachbarschaft. Solche für die Rhetorik des Briefeschreibens typische Heterogenität in den Modi der Ansprache, Information, Beobachtung, Erinnerung, Veranschaulichung – anders gesagt, eine solche Freiheit des Sinnlichen findet ihren Fluchtpunkt in Jacirs kontinuierlich ruhiger, von Zuneigung wie Engagement gefärbter Stimme, mit der sie im Off die Worte ihres Briefes vorträgt. Zugleich gewährt die spannungsvolle Adressierung dieses Briefes einen Resonanzraum, in dem jene heterogenen Blickwinkel des Briefeschreibens sich fortgesetzt (re-)imaginieren lassen, zumal für Zuschauer*innen, die zwischen ihren Rollen als Mitleser*innen und direkte Adressat*innen oszillieren und den Film womöglich per Onlinestreaming ihrerseits zugesandt bekommen. [4]

Anders als Tripple Chaser, dessen Fluchtpunkt die Aufdeckung jener Komplizenschaft zwischen Kunstinstitution und Militärsektor anpeilt und der seinen Zweck mit dem Rücktritt des attackierten Kunstmäzens nahezu erfüllt hat (wäre nicht davon auszugehen, dass weitere Transaktionen zwischen Kunstwelt und Kriegseinsätzen stattfinden werden), wirkt Letter to a Friend über die Ermittlung eines konkreten Falls – auch des „noch nicht begangenen Verbrechens“ – hinaus. Wenn Jacir am Ende des Films erneut ihre Schritte filmt und dabei zählt, wie viele es braucht, um von ihrem Haus zur Mauergrenze zu gelangen, dann wirkt dies als persönlicher Gestus sehr ausgestellt. Als Artistic Research hingegen wirkt diese Zählung ironisch, zumal die Künstlerin nicht weiß, warum sie sonntags zehn Schritte mehr braucht als an anderen Tagen. Doch ist es genau die Gegenüberstellung der überspitzten Modi individueller Autor*innenschaft und plattformorientierter Ermittlungsarbeit, mit der Jacirs Film, über die affektgeladenen Erörterungen der Kriegssituation hinaus, die Reflexion zweier verschiedener, doch notwendig aufeinander zu beziehender künstlerischer Strategien leistet.

Emily Jacir, Letter to a Friend, Dokumentarfilm, 2019, 43 min.

Rainer Bellenbaum lebt in Berlin und arbeitet als Autor, Kritiker, Dozent und Filmemacher.

Image credit: Emily Jacir

Anmerkungen

[1]https://forensic-architecture.org/investigation/triple-chaser (gesehen am 22.04.2020).
[2]Weltpremiere von Letter to a Friend war im November 2019 am Fisher Center des Bard College in New York.
[3]Der Urgroßvater Youssef Jacir war Bürgermeister von Bethlehem und baute das heutige Jacir Palace Hotel.
[4]Diese Review verdankt sich dem Corona-bedingten Streamingprogramm von Kino arsenal 3, Berlin.