Guillaume Paoli über die Volksbühnendebatte Ein Fels in dem Branding
Die letzte Spielzeit der Volksbühne unter der Leitung von Frank Castorf hat soeben begonnen. In der auf blogs, in öffentlichen Diskussionen und im Feuilleton geführten Debatte um die neue Leitung des Theaters und die local mentality der gegen diese Leitung protestierenden Berliner Kulturschaffenden, meldet sich hier noch einmal Guillaume Paoli polemisch zu Wort.
Als ehemaliger „Hausphilosoph“ (des Centraltheaters in Leipzig) steht er dem Sprechtheater Castorfscher Prägung nahe und als „glücklicher Arbeitsloser“ ist er selbst Protagonist einer Auseinandersetzung um den richtigen, un/produktiven Umgang mit den strukturellen Veränderungen der deutschsprachigen Kulturlandschaft in den letzten Jahren.
Nichts muss bleiben wie es ist – so oder anders formuliert gehörte das Motto schon immer zur raison d'être der Berliner Volksbühne. Daher mag es verwundern, dass sich nach einem Vierteljahrhundert Castorf-Intendanz die Mitarbeiter und Freunde des Hauses vehement gegen die Ernennung eines neuen Leiters wenden. Es wäre eine Neuauflage des ewigen Konflikts zwischen Nostalgikern und Traditionalisten auf der einen Seite, Visionären und Erneuerern auf der anderen. Dieser banalen Interpretation kann mit einigen Einwänden entgegnet werden. Erfahrungsgemäß gibt es gute Gründe, einer solchen Einschüchterungsrhetorik gegenüber misstrauisch zu sein. Ist Veränderung per se begrüßenswert - Hartz-IV, BER-Geisterflughafen, Pokemon Go? Offenkundig ist die Tradition der Volksbühne eine des ungewissen Ausgangs, des permanenten Regelbruchs und der Unangepasstheit. Die Befürchtung ist also legitim, der angekündigte Wandel könne das genaue Gegenteil davon hervorbringen. Sicherlich sind das vorerst Mutmaßungen. Noch ist das Konzept des designierten Intendanten leer. Ob es gefüllt werden kann, ist nicht sicher.
Von offizieller Seite wird vor „alarmistischen“ Gerüchten gewarnt: Niemand habe die Absicht, ein Theater abzuwickeln. Dennoch lassen einige Aussagen aufhorchen. Der künftige Intendant eines der berühmtesten Sprechtheaters der Welt scheint nämlich gegen das gesprochene Wort eine bedenkliche Abneigung zu haben. Zumindest dieses Mantra wiederholt er konsequent: Es gebe immer mehr Neuberliner, die kein Deutsch sprechen. Gemeint sind natürlich nicht die geflüchteten Syrer/innen und Afghanen/Afghaninnen, die tunlichst Deutsch lernen müssen, um überleben zu können, sondern die global class der jungen Innovatorinnen und Kreativen, die sich in ihrem Alltag leisten können, die Landessprache souverän zu ignorieren. Statistisch gesehen mag diese Schicht eine unbedeutende Minderheit darstellen, konsumtechnisch ist sie immerhin die wichtigste Zielgruppe. Allmählich setzt sich die Praxis überall durch. Die jüngste „Manifesto“-Ausstellung im Hamburger Bahnhof war for english speakers only, selbst die Texte von Bruno Taut oder Kurt Schwitters hätte man dort in Originalsprache vergeblich gesucht. Je mehr die Kultureinrichtungen der Stadt auf maximale Besucherzahlen angewiesen sind, desto mehr müssen sie sich der (angenommenen) Bedürfnisse ausländischer Besucher anpassen. Von denen wird man wohl nicht erwarten, dass sie René Polleschs akrobatische Wortkaskaden oder Frank Castorfs extravagante Textkollisionen goutieren können. Also müsse sich das Theater umstellen, sei es, indem es nicht-verbale Formen der performing arts (vor allem Tanz) privilegiert, oder Symposien auf Küchenenglisch veranstaltet, oder gar „neue Formen der Sprache, die für mehr Menschen verständlich sind“ (Dercon) entwickelt. Schließlich wurde bereits Shakespeare in SMS-Sprache übersetzt. Den internationalen Gästen zuliebe soll vom Sprechtheater ein Sound übrig bleiben, etwa die eindrucksvolle Stimme von Sophie Rois, ganz gleich, ob sie Müllers Bildbeschreibung oder das Berliner Branchenbuch rezitiert.
Aus Sicht des Stadtmarketings gibt es nur zwei Gruppen von Kulturkonsumenten: economy class und business class. Einerseits Riesentouristenschlangen, die sich einbilden, etwas von Berlin mitzunehmen, obschon sie dasselbe genauso gut in Barcelona bekommen hätten, mit schönerem Wetter obendrein. Andererseits den Kern der gut ausgebildeten, mobilen, dynamischen und wohl betuchten Residenten, die oft selbst Symbolproduzenten sind und mit ihren Mitkreaturen in anderen Metropolen in engerem Kontakt sind, als mit den Reststadtbewohnern. Zweifellos ist da die Volksbühne ein Anachronismus. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist der Brief, den namhafte Vertreter des Kunstestablishments (darunter kein Theatermensch) an den Berliner Bürgermeister zur Unterstützung ihresgleichen adressiert haben, standesgemäß auf Englisch verfasst. Die Proteste von Belegschaft und Publikum werden als „Putschversuch“ abgetan, gut neoliberal wird der „Missbrauch eines Privilegs“ moniert, „das sich einer öffentlichen Einstellung verdankt“; vor allem wird ausdrücklich betont, dass es mit der Neubesetzung der Intendanz ums Ganze geht: das „weltweite Ansehen Berlins“, den „globalen Überblick“ und den „Anspruch, eine offene, kosmopolitische Stadt“ zu werden.
Um eine persönliche Note einzuwerfen: Ich fühle mich damit doppelt angegriffen: als Berliner und als Ausländer. Ich wohne hier genau so lange, wie Frank Castorf Intendant ist. In der Zwischenzeit sind beinah alle Merkmale verschwunden, die aus dieser Stadt eine unvergleichbare Stadt machten. Noch ist die Volksbühne da. Wie der Journalist Jan Küveler treffend bemerkt: Sie „repräsentiert genau den Sehnsuchtsort, für den die ganze Welt nach Berlin zieht, den es aber nicht mehr so richtig gibt, außer hier.“ Angefangen mit der verlebten, verrauchten Kantine, von der genau gesehen die Bühne bloß eine Extension ist (und ich möchte mir nicht ausmalen, welche weißgestrichene, gefriergetrocknete Lounge an ihrer Stelle eingerichtet wird). Nichts gegen das HAU oder das HKW, nur könnten solche Institutionen problemlos nach München oder Hamburg transplantiert werden. Die Volksbühne nicht. Nach meinem Verständnis als korsischer Berlinfranzose ergötzt sich ein kosmopolitischer Mensch an der Vielfalt der Kulturformen, die ihm begegnen. Er weiß, dass Sprache nicht bloß Grammatik und Wortschatz ist, sondern Wahrnehmungsweise. Schätzt das deutschsprachige Theater samt Geschrei und Exzessen nicht obwohl, sondern weil „typisch deutsch“. Möchte also keine austauschbaren, extra für ihn geschusterten Produkte serviert bekommen.
Ungeklärt bleibt außerdem, weshalb ein Museumsmann das Haus leiten soll. Wir hören nur die aufgewärmten Floskeln: Innovation, Vision, Crossover und vor allem: Verflüssigung. Es muss alles ineinanderfließen: innere und äußere Räume, Ökonomie und Kunst, Alltag und Kultur. Passender als „Verflüssigung“ wäre vielleicht hier doch das sinnverwandte Wort „Liquidierung“ mit seinen Nebentönen von Abwicklung, Finanzialisierung und Mord. Mittlerweile haben wir doch gelernt, die Metaphorik der Herrschaft zu entziffern. Fließen, das tun hauptsächlich die Kapitalströme. Abgebaut gehören die konventionellen Schranken, die noch eine Marktüberschwemmung eindämmen. „Kein Theater ist eine Insel“ bedeutet im Klartext: Leisten Sie keinen Widerstand!
Bemerkenswert ist allerdings der Totenschein, den Mr. Dercon jener Sphäre verpasst, die er gerade verlassen hat. In der bildenden Kunst sei nichts mehr los, alles sei vom Markt aufgefressen worden, verblichen, durchökonomisiert, standardisiert. Künstler produzierten nur noch „Ikea-Arbeiten“. Darum kehrt der enttäuschte Held der Tote Modern den Rücken und begibt sich dorthin, wo noch Leben pulsiert. Von der maßgeblichen Rolle, die seine Peer-Group, die Obristengang, in der besagten Durchökonomisierung spielte, sagt er nichts. Stattdessen behauptet er: „Nicht die bildende Kunst soll das Theater retten, sondern umgekehrt das Theater die Kunst.“ Das klingt recht bedrohlich. Wie man weiß, haben Kunstbetrieb und Kapital mindestens Eines gemeinsam: Vampirisch sind sie ständig auf neue, äußere Quellen der Wertschöpfung angewiesen. Bislang wurde das Stadttheater von der Ausweitung der Marktzone weitgehend verschont. Daher die Befürchtung aller Intendanten der Republik, die jetzige Umstellung sei nur das Vorspiel eines Systemwechsels. Undiplomatischer als sein Freund Dercon wettert Ai Weiwei, der wie kein Zweiter Kunstgeschäft, Neukosmopolitismus und Immobilienspekulation vereint, gegen das "linke Establishment“ um die Volksbühne: "Was ist das Problem mit Kommerz? Alles ist Kommerz. Ohne Kommerz würden wir noch im Erdloch leben."
Sehr viel Wasser ist die Spree hinabgeflossen, seitdem die Berliner Arbeiter begannen, ihre Spargroschen zu spenden, um sich eigene, gute und bezahlbare Veranstaltungen zu verschaffen. So war die Volksbühnenbewegung entstanden. Dezidiert Anti-Kommerz. Im Gründungsaufruf hieß es: „Der Geschmack der Masse ist in allen Gesellschaftsklassen vorwiegend durch gewisse wirtschaftliche Zustände korrumpiert worden.“ Freilich kam schon immer der Vorwurf, eigentlich diene die Volksbühne dazu, die Ausgeschlossenen in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren anstatt diese zu bekämpfen. Nein, nie war das Haus ein Bollwerk des Widerstands und der Reinheit. Erst recht nicht unter Castorf. Immer rieben sich Wut und Zynismus mit dem gewollten Effekt, Widersprüchlichkeiten und Zerwürfnisse wahrnehmbar zu machen. Nicht erst seit gestern wird über die staatssubventionierten Anarchisten am Rosa-Luxemburg-Platz gespottet. Jetzt wird damit aber angedeutet: Genug in die Suppe gespuckt! Die Zeichen stehen auf reibungsloses, integriertes Reinheitsmanagement. Währenddessen schreitet in der konkreten Stadt die soziale Desintegration fort. Wie wir lesen, werden Leiter gebraucht, die „auf der Höhe unserer Zeit“ sind. Besser wär's, sie bewegten sich in die Tiefe unserer Zeit, um dort die wachsenden Risse und Abgründe zu erkunden. Vielleicht wäre es opportun, die Volksbühnenbewegung neu zu gründen.
Guillaume Paoli ist Schriftsteller und Philosoph und lebt in Berlin.