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TAKTILE ÜBERSETZUNGEN Esther Buss zur Werkschau von Lynne Sachs auf dem Sheffield Doc/Fest

Lynne Sachs, „Film About a Father Who“, 2020, Filmstill

Lynne Sachs, „Film About a Father Who“, 2020, Filmstill

Versuch über die Begegnung. Das diesjährige Sheffield Doc/Fest, das Pandemie-bedingt ausschließlich online stattfand, widmete der Filmemacherin Lynne Sachs eine sorgfältig kuratierte Werkschau. Dabei zeigt sich das Gemeinschaft stiftende Moment von Sachs’ Filmen, die häufig das Ergebnis enger Kollaborationen sind – ob mit Familienmitgliedern, migrantischen Communities oder künstlerischen Weggefährtinnen wie Barbara Hammer oder Carolee Schneemann –, gerade unter den Einschränkungen durch die Pandemie: Wie die Filmkritikerin Esther Buss argumentiert, sind diese Filme stets Zeugnisse der Ambivalenz von ,einsamer‘ Kunstproduktion einerseits und geteilter Erfahrung andererseits.

Am Anfang der Filme von Lynne Sachs steht meist eine taktile Annäherung: Berührungen mit Oberflächen und Texturen von Körpern, Landschaften und Stoffen – Berührungen, die immer auch die Materialität des Bildes miteinschließen oder gar affizieren. Ihre jüngste Arbeit, Film About A Father Who (2020) – der Titel bezieht sich auf Yvonne Rainers Film About a Woman Who … von 1974 –, beginnt etwa mit dem Close-up auf zwei Hände, die die verknäulten weißen Haare in einem Haarschopf entwirren. Lynne Sachs schneidet Ira Sachs, ihrem über 80-jährigen Vater, Hauptfigur des Films und Gravitationszentrum in einem komplizierten Geflecht von Familienbeziehungen, die Haare. Von diesem so konkreten wie symbolisch lesbaren Eingangsbild aus entfaltet sich eine fragmentarische Erzählung, die 35 Jahre umspannt.

Zwischen 1984 und 2019 hat Sachs immer wieder den eigenen Vater gefilmt: einen bis heute für seine Familienangehörigen nur schwer zu entziffernden Mann. Als promiskuitiver Hippie-Businessman, dem der Ruf eines „Hugh Hefner von Park City“ nachhing, ist Ira Sachs, Vater von neun Kindern von unterschiedlichen Frauen, ganz ein Produkt der 1960er Jahre. Sachs geht es aber nur am Rande um den Befund einer patriarchalen Ordnung, die sich im Bruch mit den bestehenden moralischen und sexuellen Normen fortschrieb. Film About A Father Who ist vielmehr der Versuch, die enigmatische Figur des Vaters in Form eines vielstimmigen, mitunter auch widersprüchlichen Essays zu dezentrieren und in einer horizontalen Erzählung familiärer Verbindungen aufgehen zu lassen. Mit jeder neuen Erinnerung, jedem neuen Gesicht, knüpft sich eine weitere Masche im Gewebe der im Laufe des Films stetig anwachsenden Sachs-Familie. Das Ergebnis ist eine Collage unterschiedlicher Perspektiven und Stimmen, die auch auf der Ebene des Materials brüchig bleibt. Körnige 8- und 16-mm-Bilder sowie matschiges VHS reihen sich zu hochaufgelöstem digitalem Material, alte und neue Aufnahmen zu Interviews und Home Movies – ein wesentlicher Teil davon wurde von Ira Sachs gedreht sowie von Ira Sachs jr., Lynne Sachs‘ jüngerem Bruder und ebenfalls Filmemacher. [1]

Im Rahmen vom Sheffield Doc/Fest war der Film About A Father Who Anfang Oktober nun erstmals für ein internationales Publikum zu sehen. Das in diesem Jahr ausschließlich online stattfindende Dokumentarfilmfestival widmete Sachs außerdem ein sorgfältig kuratiertes Programm von fünf Filmen aus den Jahren 1994 bis 2018. Die Auswahl fokussierte sich auf den Begriff des „Übersetzens“, mit dem sich Sachs in ihren Arbeiten mal mehr, mal weniger explizit befasst (ersteres etwa in The Task of the Translator, 2010, ein Film, der auf Walter Benjamins gleichnamigen Essay mit drei Körperstudien antwortet). Gemeint waren dabei nicht nur das Übersetzen von der gesprochenen in die visuelle Sprache oder der Transfer von einer Ausgangs- in eine Zielsprache. [2] Die thematische Klammer war hier ganz allgemein das Übersetzen als eine Praxis der Begegnung und Kommunikation und, damit verbunden, als eine Bewusstwerdung von Differenz. Im Film About A Father Who gibt es dazu ein plastisches Bild: Die Mutter habe die Grammatik beherrscht, so Sachs im Gespräch mit ihren Geschwistern Dana und Ira. Alles sei transparent, linear und am richtigen Platz gewesen, es gab Kommata und Punkte. Die Satzzeichen beim Vater dagegen: Ausrufe- und Fragezeichen.

Die Arbeiten von Lynne Sachs, 1961 in Memphis, Tennessee, geboren und am San Francisco Art Institute ausgebildet, wo sie u. a. mit Künstler*innen wie Bruce Conner und Trinh T. Minh-Ha zusammenarbeitete, sind hybride Gebilde. Seit ihren ersten Filmen, Drawn and Quartered und Still Life with Woman and Four Objects (beide von 1987), die stark von Laura Mulveys feministischem Essay Visual Pleasure and Narrative Cinema (1975) bestimmt sind, entstanden mehr als 30 meist kurze und mittellange Filme. Die zuvor genannte „Begegnung“ ist für Sachs’ künstlerische Praxis essenziell. Ihre Filme sind häufig das Ergebnis enger Kollaborationen: etwa mit nahen oder auch weit entfernten Familienmitgliedern, migrantischen Communities oder auch künstlerischen Weggefährtinnen wie Barbara Hammer, Carolee Schneemann oder Gunvor Nelson – ihnen hat sie 2018 den Film Carolee, Barbara and Gunvor gewidmet.

Als experimentelle Dokumentarfilmerin sucht Sachs stets die Durchlässigkeit von auktorialer Instanz und filmischem Subjekt. Zu dem für das US-amerikanische Direct Cinema bestimmende Konzept der „Fly on the Wall“ – der möglichst unsichtbaren Beobachterin – geht sie programmatisch auf Abstand: „As a documentary filmmaker, I am always reckoning with what it means to shoot ‚from the outside in‘, using my camera to peer into the lives of people from other places, cultures, or communities. Honestly, it’s the foundation of the documentary paradigm that most disturbs me“, so die Künstlerin in einem Interview mit dem Dokumentarfilm-Magazin Modern Times Review. [3] Sachs ist in ihren Filmen stets präsent: als Körper, als Off-Stimme, als Text. Hinzu kommen fiktionale und performative Elemente.

Lizzie Olesker und Lynne Sachs, „The Washing Society“, 2018, Filmstill

Lizzie Olesker und Lynne Sachs, „The Washing Society“, 2018, Filmstill

Your Day is My Night (2013) und der in Zusammenarbeit mit der Theaterautorin und -regisseurin Lizzie Olesker entstandene Film The Washing Society (2018) geben beide Einblicke in undokumentierte kulturelle Mikrokosmen New Yorks, seit vielen Jahren Sachs’ Heimatstadt. Gegenstand von Your Day is My Night ist ein so genanntes shift-bed-Apartment in Chinatown – eine Wohnung, in der sich chinesische Einwander*innen aus der Arbeiterklasse ein Bett schichtweise (das heißt in Koordination mit ihren jeweiligen Tages- und Nachtjobs) teilen, zum Teil über viele Jahre hinweg. Mit einem so präzisen wie poetischen Blick für die Ökonomie der Räume porträtiert Sachs einen Haushalt mit sieben Bewohner*innen oder vielmehr ‚Charakteren‘ an der Ecke zur Hester Street. In Form von autobiografischen Monologen und nachinszenierten Gesprächen geben diese Auskunft über politische Erschütterungen und familiäre Trennungen, sprechen über strapaziöse Reisen, Ängste und Sehnsüchte. In einem abstrakten Setting, das wie ein Theaterraum anmutet, werden die Betten zur Bühne eines stilisierten Körperspiels. Dabei streift die Kamera in haptischen Bewegungen liegende, schlafende und sich streckende Körper.

The Washing Society ist ein Dokument der mit dem Ausbruch von Covid-19 verstärkt in die öffentliche Wahrnehmung gerückten ,unsichtbaren Arbeit‘. Schauplatz sind die im urbanen Raum von Großwäschereien zunehmend verdrängten Waschsalons. Mit einer gemischten Besetzung aus Schauspielerinnen und realen Wäscherinnen beobachtet Sachs die repetitiven Gesten reproduktiver Arbeit und gibt den Erfahrungen der vorwiegend afroamerikanischen und hispanischen Arbeiterinnen eine Stimme. Dabei konturiert sich der Waschsalon zunehmend als ein Raum, in dem unterbezahlte Arbeit, Rassismus und Klassismus ebenso offensichtlich werden wie Solidarität und Gemeinschaft. Historischer Anker des Films ist die titelgebende „Washing Society“, eine 1881 von 20 afroamerikanischen Wäscherinnen gegründete Organisation, die für bessere Arbeitsbedingungen kämpfte. Im Blick auf die Überreste des Waschvorgangs – immer wieder richtet sich die Kamera auf ein abjektes Gemisch aus Staub und Haaren – und der Allgegenwart von Berührungen macht Sachs aber auch ein Moment körperlicher Intimität aus – „ … there are still two hands … washing your skirt, your shirt, your socks, almost touching you, almost connecting with your skin. Another layer“, heißt es am Ende aus dem Off.

Eine Berührung ganz anderer Weise vollzieht sich in A Month of Single Frames (2019), einem 14-minütigen Kurzfilm „made with and for Barbara Hammer“. Sachs hat darin das 8- und 16-mm-Filmmaterial verarbeitet, das die 2019 verstorbene Pionierin des lesbischen Avantgardekinos Ende der 1990er Jahre während einer einmonatigen Residency in einer einsamen Hütte ohne Strom und fließend Wasser am Cape Cod, Massachusetts, aufnahm. Als Hammer wegen ihrer fortschreitenden Krebserkrankung ihren Nachlass zu ordnen begann, übergab sie der jüngeren Kollegin die Aufnahmen mit der Einladung, daraus einen Film zu machen. Sachs montiert Tonbandaufnahmen, die sie kurz vor dem Tod ihrer Mentorin in ihrem Atelier machte und auf denen sie diese aus ihrem Duneshack-Journal vorlesen ließ mit Hammers Bildern: Aufnahmen von Insekten, der kargen Vegetation in den Dünen, von Lichtreflexionen, Schattenspielen und Wetterveränderungen sowie von banalen Alltagsdingen, die sich im Blick der Kamera in lyrische Objekte verwandeln. „I am overwhelmed by simplicity“, hört man Hammer einmal zu dem Bild eines im Wind wehenden Fetzens Plastikfolie sagen. Ein anderes Mal blickt sie fasziniert auf eine Fliege, in der sie eine Miniatur der an der Küste patroullierenden Armee-Helikopter wiedererkennt. Von einer essenzialistischen Naturbetrachtung ist A Month of Single Frames jedoch bei allem Staunen weit entfernt. „Why is it I can’t see nature whole and pure without artifice?“, wundert sich Hammer einmal. Ausgiebig experimentierte sie mit den Möglichkeiten der Kameratechnik: etwa, indem sie den Durchlauf des Filmmaterials mitunter bis zur Aufnahme von Einzelbildern verlangsamte und mit Farbfolien spielte, die bunte Lichter in den Sand werfen oder die Landschaft in flirrend-leuchtendes Magenta tauchen. Markantestes Zeichen der posthumen Bearbeitung durch Sachs sind eingeblendete Texttafeln, in denen sie die gleichermaßen gegenwärtige wie abwesende Freundin anspricht.

Die Ambivalenz von Isolation und ,einsamer‘ Kunstproduktion einerseits und geteilter Erfahrung andererseits ließ sich selten so physisch erfahren wie in diesem Film. A Month of Single Frames ist Naturbetrachtung, Hommage an das analoge Kino und Zeugnis einer Frauenfreundschaft ohne Anspruch auf Exklusivität, ganz im Gegenteil. Das Du im Film richtet sich immer auch auf ein Gegenüber, das eingeladen ist, sich über die sozialen und geografischen Distanzen hinweg zu einer Gemeinschaft zu verbinden. [4] „You are alone“ – „I am here with you in this film“ – „There are others here with us“ – „We are all together“.

Einige von Lynne Sachs‘ Filmen sind auf ihrer Website zu sehen: https://www.lynnesachs.com. A Film About A Father Who wird demnächst auf verschiedenen Festivals, darunter bei Indie Memphis, gezeigt. Die Einschränkungen durch die Pandemie machen eine Onlinesichtung möglich.

Esther Buss arbeitet als freischaffende Filmkritikerin in Berlin. Sie schreibt u. a. für kolik.film, Jungle World, Der Tagesspiegel und Cargo. Letzte Veröffentlichung in: Eine eigene Geschichte: Frauen Film Österreich seit 1999, hg. von Isabella Reicher, Wien 2020.

Foto Credits: Lynne Sachs

Anmerkungen

[1]Mit Filmen wie Keep the Lights On zählte Ira Sachs jr. Anfang der 2010er Jahre zu den Protagonisten der New Wave of Queer Cinema.
[2]Der scheinbar nahtlose Übergang von der ‚anderen‘ in die eigene Sprache wird von Sachs immer wieder infrage gestellt. In ihrem Travelogue Which Way is East: Notebooks from Vietnam (1994) gibt es etwa dezidiert unübersetzte Passagen, die die sprachliche Differenz erst bewusst machen. Sachs arbeitet in diesem Film auch mit vietnamesischen Parabeln, deren Übersetzungen rätselhaft bleiben.
[3]https://www.moderntimes.review/lynne-sachs-on-sheffield-doc-fest-retrospective/?fbclid=IwAR3OR4Y1Fo13SLsvoRJG39EE3EuFgl7jRmbHqRJW9K3Tpf5mV2z_UCVPsVY.
[4]Als A Month of Single Frames im Rahmen der digitalen Ausgabe der 66. Kurzfilmtage Oberhausen während des Lockdowns präsentiert wurde, bekam seine Gemeinschaft stiftende Botschaft noch mal eine größere Dimension. Die Jury bedachte den Film mit dem Hauptpreis.