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FEMINISTISCHE REISE Christa Blümlinger über „Gli appunti di Anna Azzori/Uno specchio che viaggia nel tempo“ von Constanze Ruhm

Constanze Ruhm, „Gli appunti di Anna Azzori“, Videostill

Constanze Ruhm, „Gli appunti di Anna Azzori“, Videostill

Versuch über ein anderes Kino. Die Wiener Filmemacherin und Künstlerin Constanze Ruhm, deren Arbeiten häufig die ästhetische Figur der Probe verhandeln, unternimmt auch in ihrem neuesten Film „Gli appunti di Anna Azzori/Uno specchio che viaggia nel tempo“, der auf der diesjährigen Berlinale Premiere feierte, eine spekulative Rekonstruktion von Dreharbeiten. Die Filmwissenschaftlerin Christa Blümlinger analysiert für TEXTE ZUR KUNST Ruhms filmische Notizen in Form einer Re-Inszenierung von Probeaufnahmen. Kein Remake. Ein postfeministischer Echoraum.

In ihrem jüngsten Film entwickelt Constanze Ruhm eine experimentelle Form dokumentarischer Filmpraxis, die sie frei nach Pasolini „appunti“ nennt: filmische Notizen, in denen sich fiktionale und nicht fiktionale Elemente mischen. Gli appunti di Anna Azzori/Uno specchio che viaggia nel tempo (2020) [1] stammt zwar nicht aus der Feder der im Titel genannten Protagonistin Anna Azzori. Dennoch sind die besagten Notizen keine reine Erfindung. Ruhm widmet ihren Film, den sie an der Schnittstelle zwischen experimenteller Archivforschung, dokumentarischem Reisebericht und poetischer Spekulation ansiedelt, den marginalia eines großen Werks des modernen Kinos, das erst vor wenigen Jahren im Rahmen seiner Restaurierung neu beachtet wurde: Anna (1975) von Alberto Grifi und Massimo Sarchielli.

Der italienischen Protagonistin dieser legendären Cinéma-vérité-Studie erteilt Ruhm erneut das Wort, indem sie auf einige im Schnitt des Ausgangsfilms weggefallene Anmerkungen über das partizipatorische Konzept der audiovisuellen Arbeit zurückgreift. Daraus entwickelt sie ihrerseits dokumentarische Notizen (appunti) über das Projekt eines Künstlers und eines Schauspielers sowie über einen Ort: die Piazza Navona in Rom. Rückblickend wird Annas Handlungsraum von Ruhm feministisch umgewertet; Idee und Adaptierung des ursprünglichen Films Anna werden erneut zum Gegenstand künstlerischer Spekulation. Anna, der Ausgangsfilm, zeigt aus heutiger Sicht denn auch eine andere Revolte an als diejenige, über die Grifi und Sarchielli im Lichte damaliger Utopien diskutierten. Rachel Kushner wies jüngst in einer Kritik zu Recht auf die Ambivalenz dieses Porträts einer Gestrandeten hin, deren Schönheit an Warhols anonyme Stars erinnert, über deren Geschichte jenseits der Leinwand nichts bekannt ist und die als solche nur auf Zelluloid existieren. [2]

In ihrer italienischen Zeitreise setzt Ruhm eine Reihe künstlerischer Reprisen des modernen Kinos fort, die sie bereits 2005 mit einer Variation über Godards Figur Nana S. einleitete. Grifi und Sarchielli versuchten seinerzeit, ein künstlerisches und soziales Dokument im Herzen von Rom zu gestalten, indem sie die Trennlinie von Vorgefundenem und Inszeniertem im Geiste des Cinéma vérité bewusst offen hielten. Anna entstand 1972 aus der Begegnung der Filmemacher mit einer minderjährigen, drogenabhängigen Schwangeren und wurde mit einer der ersten portablen Videokameras aufgenommen. Zum Zeitpunkt seines Kinostarts wurde dem filmischen Porträt einer Obdachlosen besondere Beachtung zuteil, weil es die Rolle der Filmemacher zur ethischen Frage machte, kategorische Zuschreibungen wie Spiel- und Dokumentarfilm infrage stellte und weil hier durch erfinderische Medientransfers das Drehverhältnis entscheidend erhöht worden war. Die Methode der teilnehmenden Beobachtung sollte es erlauben, das soziopolitische Milieu des Drehorts mit einzubeziehen und dem Anspruch möglichst gerecht zu werden, den je eigenen Blick zu hinterfragen.

Doch erst in Ruhms Wiederaufnahme erhält die Hauptfigur – posthum – einen Nachnamen. Anna Azzori tritt hier nicht nur aus ihrer Anonymität heraus, sondern zeigt auch den Spiegeleffekt des Kamerablicks als geschlechtlich bedingten Modus an, mit dem sie ins Bild gesetzt wird. In einer essayistischen Doppelbewegung rekonstruiert die Künstlerin das reale Umfeld der damaligen Dreharbeiten und schreibt die Person Anna als fiktive Konstruktion um. Anhand von Archivbildern und -tönen ergründet Ruhm den Wahrheitsgehalt einer dokumentarischen Inszenierung, während sie, geleitet von Ovids Metamorphosen, nach dem dichterischen Verwandlungspotenzial von Figuren, Objekten und Orten des Films Anna sucht.

Constanze Ruhm, „Gli appunti di Anna Azzori“, Videostill

Constanze Ruhm, „Gli appunti di Anna Azzori“, Videostill

Eignet dem Ausgangsfilm zwar das Bestreben, seine Produktionsbedingungen auszustellen, stößt er damit doch mehrfach an seine Grenzen, wie Ruhm nahelegt. Grifis Montage macht etwa aus dem Beleuchter Vincenzo, der ungeplant das Set betritt, ein handelndes Subjekt, das Sarchiellis ursprüngliche Vorstellungen über Bord wirft. Ruhms Entnahmen aus Schnittresten dagegen zeigen, wie die Protagonistin selbst das Drehbuch wendet. Die streunende Anna ist nun Nomadin im Deleuze’schen Sinne, da sie hier zur Figur wird, die die Schwelle zur Repräsentation – sei es als erotisches Objekt, sei es als Madonna oder als selbstbewusst handelnde Proletarierin – nur negativ überschreitet, das heißt in Form von Gesten des Widerstands. Wie schon in Ruhms X Love Scenes/Pearls Without a String (2007), wo der Gegenschuss zur Schauspielerin am Set durch ein „X“ ersetzt wird, geht es auch hier darum, den männlichen Part symbolisch durchzustreichen. Nicht zufällig taucht das „X“ aus X Love Scenes in Gli appunti di Anna Azzori als Requisite und Platzhalter wieder auf. Tritt dort die Wiedergängerin von Godards Nana S. in den „Szenen“ einer Probe zu einem Film über die Liebe als Skriptgirl auf, so geht es hier, in den Anna zugeschriebenen „Notizen“, ebenfalls um die Neugestaltung eines Drehbuchs aus der Feder der Protagonistin: um die imaginäre Rückkehr zum ursprünglichen Filmset in Form einer Re-Inszenierung von Probeaufnahmen.

Die elektronische Störung fungiert dabei als Verweis auf den medialen Transfer und als Metapher: Frequenzwechsel markieren die Fehlstellen des Ausgangsfilms. Gli appunti entführt Annas fragile videografische Schatten immer wieder aus ihrem ursprünglichen Milieu, um die historische Gestalt in Schwarz-Weiß auf einen Reigen junger Schauspielerinnen treffen zu lassen, der beinahe 50 Jahre später zu einem farbenfrohen Casting für Anna antritt. Bisweilen folgt die Kamera den Bewegungen der Darstellerinnen durch ein filmisches Universum, das im Brachland, jenseits des ursprünglichen Drehorts liegt. In der Montage setzen sich die Wege dieser Wiedergängerinnen Annas durch die Pfade virtueller Abenteurerinnen aus einem Computerspiel fort. Aus ihrer einstigen Sedentarisierung entlassen, stellt die Nomadin Anna nun erneut ritualisierte Blickanordnungen auf die Probe. Es entsteht damit kein Remake, sondern ein postfeministischer Echoraum, in dem Parolen der zweiten Frauenbewegung nachklingen: „Non abbiamo paura“ („Wir haben keine Angst“).

Das Casting zur Reprise von Anna führt zur performativen Öffnung der Perspektive des Films. Die zur Probe versammelten jungen Schauspielerinnen agieren einmal als wandelnde Amazonen in fabelhaften Aulandschaften, posieren ein andermal nahe vor der Kamera. Ruhm betreibt an diesen Stellen im Rückgriff auf Traditionen der Malerei und auf Godard filmische Gesichterstudien. Dabei tragen die weiblichen Off-Stimmen wie schon in Ruhms Computeranimation A Memory of the Players in a Mirror at Midnight (2001) dazu bei, entlang einer spekulativen Rekonstruktion von Dreharbeiten zu einem dezidiert reflexiven und von daher (post-)modernen Film ein neues Text-Bild-Verhältnis zu entwerfen. Niemals dienen hier die Schnittreste aus dem Grifi-Archiv der Illustration des Erzählten, sie sind selbst immer auch Teil eines Versuchs über das Kino, sollen als kritische Notizen über das Filmemachen begriffen werden.

Gli appunti sind von daher in zweierlei Hinsicht archäologisch angelegt: hinsichtlich der videografischen und der fotografischen Medien, die bei Grifi im Einsatz sind, aber auch hinsichtlich des Archivmaterials, dessen Potenzial hier erforscht wird. Ruhm entwickelt mit diesem Film ihre Methode weiter, in deren Zentrum das Bewusstsein um das Virtuelle eines Drehbuchs, um die Abzweigungen und Möglichkeiten narrativer Pfade und um die grundlegende Funktion des Bildraums als Vektor unterschiedlicher Blickrichtungen steht. In der Form des filmischen Entwurfs öffnet sich der Erzählraum, mischen sich Vorstellung und Gedächtnis, treffen mehrere Zeitschichten aufeinander.

Anna war an der Piazza Navona entstanden, kurz bevor dort und anderswo in Italien engagierte Frauen gemeinsam in Massen für ihre Rechte demonstrierten. Mit diesem Bezug auf die nahe Zukunft längst vergangener Dreharbeiten zeigt sich Ruhms essayistischer Blick auf einen Meilenstein der Dokumentarfilmgeschichte bewusst häretisch. Ihrer Methode der künstlerischen Entwendung ist ein kritischer Anspruch inhärent, der sich unter anderem in der Analyse des männlichen Blicks von Grifi und Sarchielli äußert, sie will den Film als Kunst jedoch keineswegs abschaffen. Diese Methode liegt auch nicht in der nihilistischen Tradition eines Guy Debord, sondern in einer Neubestimmung des Appropriationsgestus der Picture Generation. Ruhm macht neue Anknüpfungspunkte an die Figuren eines bestehenden Werks möglich, indem sie deren Bedeutungen und Kontexte erhellt und die Kraft der Geschichte als Möglichkeit der Enteignung von Blickmacht deutet. Die virtuellen Bewegungen einer aus einem Computerspiel entwendeten weiblichen Abenteurerin sind in diesem Film Signum einer auch auf die Zukunft ausgerichteten Öffnung. Das essayistische Verfahren der appunti bekommt somit nicht nur eine (post-)feministische Wendung. Der Denkansatz ist zutiefst zeitgenösssich: Ruhms Kunst verweist stets zugleich auf die postkonzeptuelle und auf die postmediale Bedingung ihrer Entstehung.

Dieser Text ist die stark überarbeitete Fassung einer Kritik zum Film, die in kolik.film, 33, 2020, erschien.

Christa Blümlinger ist Professorin für Filmwissenschaft an der Université Paris 8 Vincennes-Saint Denis, wo sie ab September 2020 das Forschungsinstitut ESTCA leitet.

Image credit: Katharina Müller, mit freundlicher Genehmigung von sixpackfilm

Anmerkungen

[1]Der Film lief in diesem Jahr in der Reihe Forum bei der Berlinale, im Wettbewerb von FID Marseille und beim Internationalen Filmfestival Jeonju.
[2]Vgl. Rachel Kushner, „Woman in Revolt : Alberto Grifi and Massimo Sarchielli’s Anna“, in: Artforum International, 3, 2012.