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Für Okwui Enwezor, von Renée Green Blick zurück auf einen Zeitgenossen im globalen Mix

Man kann nie mit Sicherheit wissen, was andere über einen sagen oder schreiben werden, wenn man nicht mehr da ist. Das ist eine Erfahrung, mit der alle Lebenden konfrontiert sind.

Seit mehr als einem Monat versuche ich nun schon, meine Gedanken zu Okwui Enwezor, Okwui, in Worte zu fassen.

Als ich die Nachricht von seinem Tod erhielt, war meine erste Reaktion Trauer und Überraschung, obwohl ich wusste, dass er schon seit einiger Zeit krank gewesen war. Ich folgte meinem ersten Handlungsimpuls und schrieb an Freund*innen in London, um in Kontakt zu bleiben, wie in den Jahren, als wir alle mit Okwui zusammenarbeiteten, als sie mit einem von Okwui geförderten Projekt beschäftigt waren. „Eine Bitte ist zum Vermächtnis geworden“, schrieb ich. Er war für jede*n von uns auf ganz unterschiedliche Weise wichtig im Laufe der Zeit.

Wo beginnen, wenn es darum gehen soll, über diesen Menschen zu sprechen, den ich über mehr als 25 Jahre zu verschiedenen Zeiten unter verschiedenen Bedingungen und in unterschiedlichen Teilen der Welt kennengelernt habe?

Ich erfuhr, dass der Dichter W. S. Merwin am selben Tag gestorben war. Ich fragte mich, was Okwui wohl darüber denken würde. Ein seltsamer Gedanke mir wurde klar, er konnte ja nicht mehr darüber nachdenken. Die Erkenntnis, dass er tot ist, setzt sich nur langsam durch; seine Präsenz war einmal so lebendig. Komplexe Gefühle mischen sich in die Trauer.

Wenn ich über Okwui nachdenke, erinnere ich mich an ihn immer über seinen aktiven Bezug auf Kontexte und Orte, den er auf seine besondere Weise herstellte, lebendig und leidenschaftlich. So bleibt er in meinem Gedächtnis.

Ich versuche an die Zeit unserer ersten Begegnung zurückzudenken. Es war in New York, das weiß ich, auch wenn ich keine klare Erinnerung an unser erstes Treffen mehr habe. Er schien vollkommen ausgeformt aufzutreten, als er selbst. Dieses Selbst hatte sich kulturellen Produktionen verschrieben. Ich schaue mir eine Veröffentlichung aus dem Jahr 1993 an, in der sein Name auftaucht, eine 1993 erschienene Ausgabe der Zeitschrift The Portable Lower East Side. Einer der Mitherausgeber bei diesem Heft war mein Freund Joe Wood. Das Thema der Ausgabe hieß „New Africa“. Ein interessantes Dokument, finde ich. Sein Beitrag darin ist ein Gedicht, „tombs and flowers [for lionel teko]“. Seine Autorzeile: „Okwui Enwezor ist ein Igbo-Dichter aus Nigeria, der zurzeit in Brooklyn lebt.“ Das finde ich anrührend, wenn ich an die Jahre denke, die damals noch vor ihm lagen, an all seine Mühen, die Entfernungen, die er auf seinen Reisen überbrückt hat, die vielen Gespräche, Verhandlungen, Kämpfe, Schriften, Ausstellungen, Kataloge, und daran, was sie alle inhaltlich erfüllte, bis zu seinem Abschied.

Der Umfang dessen, was er erlebte, ist riesig, und das trifft auch auf das zu, was er anderen eröffnet hat. Es wird noch eine Weile in Anspruch nehmen, sorgfältig über die Bandbreite seiner Ambitionen und Errungenschaften wie auch über die unvollendeten Aufgaben und Gespräche nachzudenken.

Es gab eine Zeit, in der ich ihn fast täglich sah, aber zuletzt waren wir schon einige Zeit nicht mehr regelmäßig im Gespräch, auch wenn ich ihm immer das Beste wünschte, und ich hatte das Gefühl, dass dieses Wohlwollen auf Gegenseitigkeit beruhte. Ich habe mich an Momente freudiger Erregung und des Lachens erinnert, zu denen es besonders bei der Beschreibung eines Buches kam, das sein Interesse geweckt hatte. Mir sind zwei davon eingefallen: Blink: The Power of Thinking Without Thinking von Malcolm Gladwell und Disgrace von J. M. Coetzee. Das war im Jahr 2005. Das war die Zeit in San Francisco, damals …

Es gab einen Okwui, der in hohem Maße von der in den Medien aufbereiteten öffentlichen Meinung entworfen war. Es gab immer eine Geschichte, die man weitererzählen konnte, zum Beispiel von dem Eindruck, den Okwui irgendwo hinterlassen hatte; eine Geschichte vom Hörensagen oder irgendetwas anderes Anregendes, über das man reden, reden, reden konnte.

Doch etwas fehlt, wie ich beim Lesen der Nachrufe festgestellt habe. Was? Wie ein gemeinsamer Freund richtig erwähnte, hat bei allem, was bisher über Okwui zu lesen war, überrascht, dass es den Beschreibungen von Okwuis Rolle und Hinterlassenschaft an Tiefe und Breite mangelte. Ich glaube, es wird eben einige Zeit brauchen, um das Ausmaß dessen zu begreifen, was er geschaffen und geleistet hat, um anzuerkennen, das seine anscheinend so unerschütterliche und seine unverwechselbare Kraft nicht mehr da ist; seine ganz besondere Art der Sozialität, die Spuren, die er in vielen Menschenleben hinterlassen hat sie werden noch in vielen Erinnerungen Bestand haben.

Mir liegt daran, mich an das, was mir in persönlichen Episoden an Okwui so bemerkenswert scheint, zu erinnern und darüber nachzudenken; ich denke an spezifische Episoden, die diesem Nachdenken andere Dimensionen eröffnen. Ich habe einige der Komplexitäten, mit denen er persönlich zu kämpfen hatte, wahrgenommen, oft durchlief er dabei die verwickelten Rituale vieler Welten und vieler Sprachen. „Big lives“ – ein Ausdruck, den er als Oberbegriff für die verschlungenen Erbschaften, das Unvorhersehbare von Diaspora und Exil erwähnte, das zeitlich begrenzte Aufenthalte in vielen Welten erforderte. Ein Ausdruck, den ich verstehen konnte. Und dennoch hat jede*r eigene und einzigartige Formen des Umgangs mit diesen Leben. Es war äußerst faszinierend zu erleben, wie sich Okwui Herausforderungen stellte und alle möglichen Vorstellungen, öffentliche wie persönliche, übertraf.

Am Anekdotischen bin ich nicht interessiert, denn das gibt es im Überfluss. An Okwui denke ich gern in Bezug auf Orte. Ich versuche mir vorzustellen, ob es wohl Dinge gab, die ich ihm gerne gesagt hätte, wozu es dann aber nicht mehr kam. Ich schreibe spekulativ, denn es gründet sich nur auf meine Wahrnehmung bestimmter Momente und darauf, worüber ich in diesem Moment nachdenke.

Was ich fand, als mir bewusst wurde, dass er nicht mehr da war: Bücher in meiner Bibliothek. Viele schwere Kataloge, die man auf Reisen ungern mit sich herumträgt, und die kleine rote Zeitschrift mit weißen Druckbuchstaben, die ich bereits erwähnte, #KNew Africa#K. Ich las Disgrace. Und The Fateful Triangle von Stuart Hall (hg. von Kobena Mercer), um mich an Stuarts wie auch Okwuis Stimme zu erinnern, an unsere Gespräche beim Mittagessen an der Wiener Akademie der bildenden Künste, während einer der anspruchsvollen „Plattformen“ im Rahmen der Documenta11, nach einer – inzwischen historisch zu nennenden – Podiumsdiskussion, an der sich auch Stuart Hall und Immanuel Wallerstein beteiligten. Ich suche den dazu als Teil der Plattformen-Reihe erschienenen Band Democracy Unrealized_Plattform 1 heraus. Ich lese die Namen der sieben Herausgeber*innen, Okwuis an erster Stelle, ich blättere zum Inhaltsverzeichnis weiter und stoße auf die Texte, die man jetzt auf andere Weise lesen kann als damals, zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung im Jahr 2002; zu der Diskussion unter dem Titel „Democracy Unrealized: Alternatives, Limits, New Horizons“. Neben den Beiträgen von Hall und Wallerstein stehen da auch die von Akeel Bilgrami, Bhikhu Parekh, Slavoj Žižek und Chantal Mouffe. Das sind inzwischen Referenztexte, die für ein Erbe stehen, mit dem sich eine Brücke zwischen dem 20. und dem 21. Jahrhundert schlagen lässt, sie sind noch da und können gelesen und studiert werden.

Beim Schreiben dieses Textes war es mir wichtig, gemeinsam mit anderen zu denken, deren Stimmen ich in Beziehung zu den von mir gefundenen Spuren von Okwuis Stimme setzen wollte. Ich las Texte aus meiner Bibliothek. Einige dieser anderen Stimmen vermochten Perspektiven auf die Welt zu eröffnen, an die zu bewohnen wir uns gewöhnt hatten, genau wie sie sich auch in Worten fanden, die lange vor unserer Geburt geschrieben oder gesprochen worden waren. Zwei der Verfasser waren New Yorker. Ein anderer war in Jamaika gebürtig, lebte aber als Exilant im Vereinigten Königreich. Und es gab Gesprächspartner*innen, andere Menschen mit „big lives“, mit komplizierteren Biographien aus diasporischen Mischungsverhältnissen, die aus Großbritannien, ganz Afrika, ganz Asien, der Karibik, dem Indischen Ozean, dem Pazifik, den Amerikas, der arabischen Region, ganz Europa stammten; manche lebten in den Vereinigten Staaten, andere in Europa. Eine unumgängliche Mischung informierter und nuancierter Perspektiven, jede aus einem großen Wissensfundus in der Lage, viele Formen von Komplexität zu adressieren, und dies ohne Reduktionen. Die im Laufe der Jahre an unterschiedlichen Orten einige der Defizite mutmaßlicher Wahrnehmungen oder Fehleinschätzungen hinter sich ließen, was die Wahrnehmung Okwuis und seines Projekts betraf.

Noch einmal, ich kann mich nicht mehr genau an meine erste Begegnung mit Okwui erinnern. In New York habe ich ihn immer wieder zufällig getroffen. Einmal , als ich nachts mit meinem Freund, dem Autor und Herausgeber Joe Wood die Lafayette Street hinunterlief. Die Zeitschrift Nka war da schon im Entstehen. Es gab eine Diskussion über ein Buchprojekt. Man konnte dabei unterschiedlicher Meinung sein, wie ich mich erinnere, denn die Vielzahl der Perspektiven nahm immer weiter zu. Bei all diesen Debatten und Meinungsverschiedenheiten blieb Okwui unverdrossen, eine Haltung, die er später als befähigenden Aspekt von „Antinomien“ zu begrüßen wusste. Diesen Aspekt mochte ich sehr an ihm. Man konnte sich mit ihm über Perspektiven streiten, die gute Stimmung blieb dabei aber immer erhalten. Einmal saßen wir gemeinsam in einer Jury in Wien. Wir beide hatten jeweils unsere Favorit*innen. Keiner von uns wollte nachgeben, aber schließlich fanden wir nach langen Diskussionen und langem Meinungsaustausch doch eine Lösung. Verhandlungen, in Kontaktzonen.

Im Laufe der Zeit haben wir auf unterschiedliche Arten zusammengearbeitet. 1997 zum ersten Mal, damals luden mich Okwui und Octavio Zaya zur Teilnahme an der 2. (und letzten) Johannesburg Biennale ein. Das war in vielfacher Hinsicht eine faszinierende Erfahrung. Was auch immer passierte, Okwui war nicht aus der Ruhe zu bringen. Von ihm wurde ich auch zur Teilnahme an der Documenta11 eingeladen, und im Jahr 2006 arbeitete ich erneut als Teilnehmerin einer sehr spannungsreichen Biennale in Sevilla mit ihm zusammen, unter den Protesten lokaler Biennale-Gegner*innen, die er zu besänftigen versuchte.

Ich wurde auch Zeugin anderer Dimensionen Okwuis, etwa in seiner Rolle als Dekan für Hochschulangelegenheiten am San Francisco Art Institute, wo er mich einlud, mich ihm anzuschließen. Das tat ich auch, und so gewann ich erneut großen Respekt vor ihm, bemerkte aber auch Anzeichen der Schwierigkeiten, denen er begegnete.

Es ist unmöglich, Okwuis zahlreiche Denk- und Handlungsmodi weiterzugeben. Er verfügte über eine philosophische Perspektive auf Lebensweisen, die er sich für sich selbst vorstellte, und über ein ethisches und ästhetisches Feingefühl Haltungen, die von einigen in seiner näheren Umgebung nicht unbedingt geteilt wurden. Was ich sehr genoss, war die Bandbreite seines zirkulatorischen Sinns und seiner Neugier.

Ich war froh, als er die künstlerische Leitung des Hauses der Kunst in München übernahm. Er sollte seine eigene Institution leiten können. Was er aus seiner breiten, umfassenden Vision heraus bewerkstelligen konnte, erwies sich im Nachhinein oft als historisch bedeutsam. Ich denke da auch an seine Tätigkeit am International Center of Photography in New York und an das gewaltige Arbeitspensum, das er dort neben anderen, gleichzeitig stattfindenden Projekten und Schreibtätigkeiten ableistete.

Zuletzt habe ich Okwui 2015 in Venedig gesehen. Ich gratulierte ihm zu all dem, was er geleistet hatte, seit ich ihn das letzte Mal getroffen hatte. Seit er aus San Francisco weggezogen war, hatten wir nicht mehr viel miteinander gesprochen. Er hatte mich zur Teilnahme an einer Triennale in Paris eingeladen, aber dazu sollte es nicht kommen. Nichts für ungut. Das letzte Projekt, an dem ich während seiner Münchner Lebensphase mit ihm zusammen beteiligt war, betraf sein Buch ECM: A Cultural Archaeology [1] . Dazu trug ich Bilder und einen Aufsatz bei.

In meinen Gedanken und meinen Texten lebt er fort. „Other Planes of There“, der Aufsatz, den ich als Reflexion auf die Documenta11 geschrieben habe, ist auch Teil eines gleichnamigen Bands mit ausgewählten Texten von mir. Okwui Enwezors eigener Zugang eröffnete in unseren zeitgenössischen Momenten den Zugang zur Verwirklichung unzähliger „unvollendeter Gespräche“. Er hat viele Herausforderungen gemeistert, und er hat tatsächlich „den Tiger geritten“. Ich sehe ihn weitergehen, durch andere Ebenen des Dort reisen, dort, wo wir seine Spuren suchen können.

Anmerkungen

[1]Die von Okwui Enwezor und Markus Müller kuratierte Ausstellung „ECM – A Cultural Archaeology“ fand vom 23. November 2012 bis 10. Februar 2013 im Haus der Kunst in München statt.

Übersetzung: Clemens Krümmel

Renée Green ist Künstlerin, Filmemacherin und Autorin.