DIE STÄRKE DES OFFENEN DIALOGS Hanna Krug über „Worin unsere Stärke besteht. 50 Künstlerinnen aus der DDR“ im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Berlin
Als Andrea Pichl eine der großen Überblicksschauen zu Kunst der DDR besuchte und wieder mal feststellen musste, dass Werke von Künstlerinnen stark unterrepräsentiert waren, sagte sich die Künstlerin: Das mache ich jetzt mal selber. [1] Gerade einmal 14 Prozent der gezeigten Werke seien es beispielsweise 2019 in der Ausstellung „Point of No Return“ des Museums der bildenden Künste Leipzig gewesen und nur etwa 23 Prozent in „Utopie und Untergang“ des Kunstpalasts in Düsseldorf. [2]
Es war 1985, als sich die feministische Künstlergruppe Guerilla Girls als Antwort auf die Ausstellung „An International Survey of Recent Painting and Sculpture“ im New Yorker Museum of Modern Art gründete. Sie prangerte mit zunächst illegalen Plakataktionen öffentlich die fehlende Repräsentation von Künstlerinnen in zeitgenössischen Überblicksausstellungen und den Sammlungen großer Kunstinstitutionen und Galerien an, indem sie die prozentualen Anteile der vertretenen Frauen und anderer marginalisierter Gruppen offenlegten. Der Kampf um die Anerkennung von Künstlerinnen ist seitdem nicht abgeebbt. Doch erst in den letzten Jahren gelang es, eine größere Sichtbarkeit für sie zu generieren. Als Kuratorin widmet Andrea Pichl ihre Ausstellung jedoch nicht nur der Sichtbarkeit von Künstlerinnen, sondern insbesondere Künstlerinnen aus der DDR, zu denen sie sich selbst zählt. Über 30 Jahre nach dem Mauerfall hört man immer noch vom Vorurteil, dass die Kunst der DDR „zweitklassig“, langweilig und einfallslos sei. Weder die zahlreichen Überblicksausstellungen der letzten Jahrzehnte, die das Gegenteil bewiesen haben, noch die Bemühungen zahlreicher Künstler*innen und Kunsthistoriker*innen konnten die pauschale Abwertung bisher gänzlich ausräumen. Demnach sind vor allem Künstlerinnen auch heute noch von einer doppelten Benachteiligung betroffen.
Beim Betreten der Ausstellung werden Besucher*innen mit Manuela Warstats Plakatserie APRÈS ? (2016/2019) auf der linken und Lisa Junghanss’ Videoinstallation Last Holidays I (2014) auf der rechten Seite konfrontiert. Warstats Arbeit erzählt nüchtern von Ausgrenzungserfahrungen Ebola-Erkrankter, während Junghanß mithilfe eines wippenden Stehaufmännchens durch die ehemalige Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit Hohenschönhausen führt. Die Erwartungshaltung, eine der üblichen, meist in einen historischen Kontext eingebetteten Überblicksausstellungen zur DDR-Kunst zu besuchen, wird direkt durchbrochen, was umso mehr die Neugier auf das Gezeigte weckt. In 13 kleinen und größeren Räumen treffen die diversen Positionen – von Malerei und Grafik über Fotografie und Video bis hin zu ortsgebundenen Installationen – aufeinander.
Bei der Auswahl der Künstlerinnen und ihrer Positionen konzentrierte sich Andrea Pichl unter anderem auf jene der sogenannten zweiten Öffentlichkeit, denen in der DDR aufgrund ihrer künstlerischen Tätigkeit Repressionen drohten und die kaum Ausstellungsmöglichkeiten hatten. Hinzu kommt eine zweite Generation von Künstlerinnen, zu denen Andrea Pichl auch sich selbst zählt, die zwar in der DDR aufwuchsen, ihre künstlerische Karriere jedoch erst nach dem Mauerfall begannen. Die dritte, in der Schau vertretene Generation erlebte die DDR nur während ihrer Kindheit. [3] Sie alle eint ihre durch die DDR geprägte Sozialisation. Neben bereits fest mit dem Label „DDR“ verbundenen Namen wie Tina Bara, Else Gabriel, Erika Stürmer-Alex, Gabriele Stötzer oder Karla Woisnitza finden beispielsweise Wiebke Loeper, Peggy Buth oder Eva-Maria Wilde Raum.
In jedem der Ausstellungsräume sind die Positionen der drei Generationen gegenübergestellt, deren gemeinsame Herkunft auf rein visueller Ebene zunächst nicht wahrnehmbar ist. Von Helga Paris eindrücklich in Schwarz-Weiß porträtierte Berliner Jugendliche (1981/82) blicken in einem der zentralen Räume auf einen großformatigen C-Print eines blauen Autowracks an der gegenüberliegenden Wand, Garage 7 (2008) von Ricarda Roggan. Dazwischen platzierte Pichl zwei abstrakte Gebilde aus Acrylglas der Serie one folded piece (2020/22) von Antje Blumenstein und an den übrigen Wänden zwei ebenfalls gefaltete, einfarbig bemalte Leinwände (2015/2021) von Franziska Reinbothe. Optisch vereint werden die Objekte durch eine im Raum stehende Vitrine, die mit kleinformatiger Schreibmaschinenkunst von Ruth Wolf-Rehfeldt gefüllt ist, die die abstrakten Faltungen in ihrer Ausführung wieder aufgreift. Es scheint fast so, als seien die Objekte Resonanzkörper für die von Helga Paris festgehaltenen Gesichtsausdrücke der Jugendlichen, unter deren ernsten Blicken sich die erdrückende DDR-Lebensrealität zusammenzufalten scheint. Dieser Eindruck verdeutlicht sich im angrenzenden Nebenraum, wo Tina Baras 60-minütiger Fotofilm Lange Weile (2016) Zuschauer*innen in den Prenzlauer Berg der 1980 Jahre entführt und einen ganz individuellen und subjektiven Einblick in das Leben der Künstlerin zeigt. Die Filmemacherin und Fotokünstlerin erzählt von Begegnung, Verlust und einer zunehmenden Befremdung ihrer Heimat gegenüber.
Ähnlich sind auch die anderen Räume der Ausstellung konzipiert: Aktuelle und historische Positionen werden einander gegenübergestellt und bieten damit die Möglichkeit, die unterschiedlichen Werke der Künstlerinnen für sich und gemeinsam sprechen zu lassen. Der nur durch die räumliche Anordnung bestimmte Dialog zwischen den Werken birgt wohl die größte Aussagekraft der Ausstellung. Beispielsweise wird man beim Anschauen der in einem Zwischenraum installierten Videoarbeiten Feixtanz/Veitstanz (1988) von Gabriele Stötzer und Frauenträume (1986) der Künstlerinnengruppe Exterra XX, an der Stötzer auch beteiligt war, Zeug*in dieser fast schon vibrierenden, vom Wunsch nach Veränderung und Freiheit getriebenen Atmosphäre der 1980er Jahre, wodurch man beim Erkunden des anschließenden Raums die Lebenswelt der Künstlerinnen stärker zu spüren scheint.
Anschließend an den zentralen Flur der Ausstellung türmen sich an einem Pfeiler angeordnete Schrankwandelemente der DDR-Möbelserien Armin und Wi-We-Na in Inken Reinerts Werk Korpus Palisander schlicht (2022). In die Installation wurden nicht nur die Holzelemente, sondern auch die Beleuchtung und Glasoberflächen der Möbel integriert, sodass man bei der Betrachtung das eigene, speziell ausgeleuchtete Spiegelbild sehen und sich selbst als Teil des Möbelstapels und in der zugleich erzeugten Raumillusion wiederfinden kann. Schräg gegenüber setzt sich Katrin Glanz in Behind II (2022) ebenfalls mit Räumlichkeit auseinander, indem sie mit grüner Farbe auf weißem Grund ein Negativabbild des hinter der Wand liegenden Zimmers darstellt. Auch Andrea Pichl beschäftigt sich mit dem Thema auf kleinformatigen Bögen in ihrer Serie Stasizentrale (2020), die Ausschnitte der leeren Räumlichkeiten des titelgebenden Gebäudes zeigen. Im Flur des Kunstraums Kreuzberg/Bethanien wird man hingegen Zeug*in eines gänzlich anderen und überaus provokativen Dialogs. Die von Susanne Rische und Henrike Neumann porträtierte, ehemalige Präsidentin der Treuhandanstalt Birgit Breuel blickt auf das von Else Gabriel inszenierte Abbild der NSU-Terroristin Beate Zschäpe. Was sich beide Frauen wohl zu sagen hätten? Die gegensätzliche ideologische Haltung der beiden Figuren erzeugt hier eine fast greifbare Spannung, als ob sie sich im nächsten Moment über den Flur hinweg in ein bizarr anmutendes Zwiegespräch verstricken könnten. Die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Werke und Medien ergibt eine spannende, überraschende und vielseitige Ausstellung, die zum Nachdenken über die Situation von Künstlerinnen anregt und Betrachter*innen ohne ein einengendes Konzept allein durch die Zusammenstellung der Positionen zu einer freien Interpretation einlädt. Der kuratorische Ansatz von Andrea Pichl ist erfrischend, da er weder historisiert noch wertet und dadurch mit gewohnten Parametern bricht.
Vielleicht ist es gerade diese selbstbewusste Auseinandersetzung mit der Geschichte, die sich einer nachhaltigen Dekonstruktion der doppelten Benachteiligung der DDR-Künstlerinnen annähert und zugleich die feministische Aussagekraft der Ausstellung stärkt. „Worin unsere Stärke besteht“, könnte ebenso als provokante Frage gestellt werden, die die Künstlerinnen mit ihren Werken ganz subjektiv und individuell beantworten, womit sie sich nicht nur einer pauschalisierenden Beurteilung entziehen, sondern sich auch der Einbindung in einen bis dato immer noch weitestgehend hegemonial geprägten Kanon verwehren.
„Worin unsere Stärke besteht. 50 Künstlerinnen aus der DDR“, Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Berlin, 3. September bis 30. Oktober 2022.
Hanna Krug ist Kunsthistorikerin und derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am kunstgeschichtlichen Institut der Philipps-Universität Marburg. In ihrem Dissertationsprojekt beschäftigt sie sich mit dem Werk der Dresdner Künstlerin Herta Günther und untersucht das Wirken weiterer DDR-Künstlerinnen. Zudem erforscht sie die feministische Kunstgeschichte im Zusammenhang mit der Nutzung neuer Medien und deren Einfluss auf den kunsthistorischen Kanon in Ost und West.
Image credit: Courtesy of Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, photos Eric Tschernow