STRAHLKRAFT IM RÜCKSPIEGEL Hanna Magauer über den Preis der Nationalgalerie 2026
Maurizio Cattelan, Neue Nationalgalerie, Berlin, 2025
Fast zwanzig Jahre ist es her, dass Maurizio Cattelan gemeinsam mit Massimiliano Gioni und Ali Subotnick die vierte Berlin Biennale kuratierte, die institutionelle und kunstferne Orte in der Berliner Auguststraße zum Spielfeld der Kunst machte. Anfang November wurde nun verkündet, dass Cattelan den Preis der Nationalgalerie 2026 erhält. Quasi zum Jubiläum „seiner“ Biennale wird er mit einer Einzelausstellung in der Neuen Nationalgalerie geehrt – und kehrt damit auf großem institutionellem Pflaster nach Berlin zurück. [1]
Verbunden ist dies mit einer Neukonzipierung des erstmals im Jahr 2000 verliehenen Preises, der nun direkt in einer Einzelpräsentation im Mies-van-der-Rohe-Bau münden wird, statt wie bisher zunächst in einer Ausstellung der Shortlist von vier Positionen im Hamburger Bahnhof. Mit dem Preis der Nationalgalerie – bis 2013: Preis der Nationalgalerie für junge Kunst – sollen ab jetzt jeweils Künstler*innen geehrt werden, „deren Werk in Berlin bislang noch nicht umfassend präsentiert wurde“ und „deren Positionen Berlin geprägt haben – und die zugleich internationale Strahlkraft besitzen“. [2] Der Dialog mit der Architektur soll dabei ebenfalls im Fokus der jeweiligen Ausstellung stehen, was dem neuen Austragungsort geschuldet ist und am Beispiel des Preisträgers nun schon anhand von Pressebildern angedeutet wird: Wie eine seiner hyperrealistischen Wachsfiguren sitzt Cattelan dort mit baumelnden Beinen auf dem ikonischen Dach des Mies-van-der-Rohe-Baus.
Wir erinnern uns: In einer radikalen Entscheidung der Jury nach einer Corona-bedingten Pause wurde die Auszeichnung letztes Jahr allen vier Bewerber*innen der Shortlist zugesprochen. Pan Daijing, Dan Lie, Hanne Lippard und James Richards wurden damit beauftragt, eine neue Arbeit zu produzieren, die für die Sammlung der Nationalgalerie angekauft wurde, anstatt die vom Freundeskreis zur Verfügung gestellten Mittel in die Einzelausstellung des*der Preisträger*in zu investieren. Die Preisvergabe an alle vier Künstler*innen nahm dabei, wie es hieß, „den Gedanken der Ausstellung als kollektiven Austausch auf“. [3] So reagierte man auf Stimmen, die „im Zeichen von Inklusion und Miteinander“ den Aspekt des „Gewinnens oder Verlierens“ kritisch sahen. [4]
Die Neukonzeption in diesem Jahr ist nicht weniger radikal, wenn auch in gegenläufige Richtung: Nach dem kurzen, progressiven Intermezzo wird jetzt Raum gemacht für die Rückkehr zu großen Einzelfiguren, der Solidaritätsgedanke im Nachhinein zum einmaligen Programmpunkt erklärt. [5] In einem Umfeld, das von einer starken Aufmerksamkeit für junge, vielversprechende Positionen geprägt sei, gehe es nun darum, die Chancen des Preises für eine „museale Ehrung“ angemessen zu nutzen. [6] Auch für den Auswahlprozess bedeutete dies den Abschied von einem Pluralismus, der wohl lästig geworden ist: Während 2024 eine siebenköpfige Jury über die Vergabe entschied – darunter drei Vertreter*innen des ausstellenden Hauses und vier Direktor*innen und Chefkurator*innen von anderen Institutionen –, ist die Jury für 2026 auf drei Personen geschrumpft. Letztere werden nicht, wie zuvor, auf der Website unmittelbar unter den jeweiligen Preisträger*innen genannt, sondern sind lediglich in der Pressemitteilung zu finden: Klaus Biesenbach, seit 2022 Direktor der Neuen Nationalgalerie, standen Emma Lavigne (Direktorin der Pinault Collection, Paris) und Sam Keller (Direktor der Fondation Beyeler, Basel) zur Seite. Die Kurator*innen der Nationalgalerie wie auch die Mitglieder der Freunde der Nationalgalerie waren vorschlagsberechtigt.
Große Jurys sind sicher nicht der Garant für gute Auswahlprozesse, und Meinungspluralismus ist in der Praxis nicht immer konstruktiv. Oft genug werden nach viel Streit diejenigen Positionen prämiert, die einen kleinsten gemeinsamen Nenner bilden, also am wenigsten provozieren, da man sich ja auf sie einigen muss. Doch zumindest ein Minimum an Diversität zu gewährleisten – ausreichend unterschiedliche künstlerische Umfelder, Werte und Erfahrungshorizonte in die Entscheidungsfindung einzubringen –, das wird bei drei Personen schon strukturell schwierig. Wohl ohne sich an diesem Problem zu stören, entschieden sich die Jurymitglieder in diesem Jahr für jemanden, der sich mit ihnen fast ebenso viel Biografisches teilt, wie sie sich untereinander: Geburtsjahr in den 1960ern, primäre Arbeitsorte Westeuropa und USA, institutionelle Etabliertheit und relative Kunstmarktnähe, um nur die groben Parameter zu nennen. Die Einigung auf einen Künstler, der so eindeutig eine Position seiner Zeit ist, ist einfacher, wenn die Schnittstellen groß sind.
Es gibt also naheliegende Einwände gegen seine Auswahl – Einwände, die für Kritiker*innen politischer Korrektheit, zu denen auch Biesenbach sich zählt, [7] vermutlich recht schablonenhaft daherkommen. Dass kritische Stimmen nach der Verkündigung des Preises an einen bereits erfolgreichen, weißen, männlichen Künstler schnell laut wurden, [8] wird die Verantwortlichen wenig überrascht haben. Dies gilt umso mehr im aktuellen kulturpolitischen Kontext der Stadt: In der Berliner Kunstlandschaft brechen an allen Seiten die Fördermittel weg, wichtige Maßnahmen in Bereichen wie Diversitäts- und Atelierförderung werden gekürzt, etablierten Programmen wie dem Berliner Programm für künstlerische Forschung droht die Streichung, während die kommunalen Galerien darum zittern müssen, ihren Künstler*innen Ausstellungshonorare bezahlen zu können. Darunter leiden all diejenigen besonders, die entweder am Anfang ihrer Karriere stehen oder aufgrund struktureller Benachteiligungen übersehen werden. „Ein Preis wird in der Regel nicht danach vergeben, wer ihn am dringendsten braucht“, bemerkt Laura Helena Wurth in der FAZ – er könnte aber „ein Instrument sein […], um eine Markt- und Aufmerksamkeitsökonomie zu korrigieren“. [9] Einen Preis in dieser Kunstlandschaft aktiv so umzugestalten, dass er, statt wie bisher an junge Kunst, nun an eine etablierte und marktstarke Position vergeben wird, wird folgerichtig als ein klares Signal gegen eine solche Korrektur gelesen.
Man kann all dies sicher auch wohlwollender interpretieren: Die Rede von der internationalen Strahlkraft und musealen Bedeutung des Preises als klares Bekenntnis zu Berlin als Kunststadt und ihrer nachhaltigen Relevanz. Auch der Bezug auf die vierte Berlin Biennale in der aktuellen Jurybegründung legt dies nahe: 2006 war noch die Hochzeit der „Arm-aber-sexy-Ära“, als niedrige Mieten zahlreiche Künstler*innen in die Stadt zogen, die Kunstlandschaft wuchs und neue Formate ins Leben gerufen wurden (das Gallery Weekend etwa wurde 2005 gegründet, die vom Land Berlin geförderte Berlin Art Week folgte 2012). Wer diese Relevanz retten will, darf sich nicht vor großen Gesten scheuen, könnte man argumentieren.
Warum dann aber die Rückbesinnung auf Positionen, die Berlin in der Vergangenheit geprägt haben? Dass Berlin als Kunststadt relevant war, hinterfragt niemand. Dass sie es bleibt, schon eher. [10] Selbst unter der Liga derjenigen künstlerischen Positionen, die hier in den vergangenen Jahren einflussreich waren, gäbe es viele, denen es nicht an „Strahlkraft“ fehlt, wohl aber am Marktwert, den Cattelan mitbringt. Damit Berlin als Kunststadt nicht nur relevant, sondern auch lebenswert bleibt, fehlen Mittel und Räume, keine Bekenntnisse zur eigenen Erfolgsgeschichte.
Es stellt sich also die Frage, welches Versprechen der Preisträger darüber hinaus mitbringt. Warum gerade Maurizio Cattelan, der in den letzten Jahren vor allem Presse mit dem Markterfolg provokanter Aktionen – der Banane mit Gaffa-Tape, dem goldenen Klo mit dem Titel America – gemacht hat? Womöglich erschien er vor dem Hintergrund des Umzugs in die Neue Nationalgalerie als sichere Wahl, als einer, der mit dem Pathos institutioneller Räume umzugehen weiß. Tunnel quer durch die Stockwerke, Tauben auf den grünen Marmorsäulen – es ist nicht schwer, sich eine mögliche Ausstellung vorzustellen. Gesten aus der Kunstgeschichte der 1960er und 1970er Jahren werden bei Cattelan oft comichaft angeeignet (man denke an sein Alter Ego im viel zu großem Beuys’schen Filzanzug); als einer der ersten Künstler*innen, der in den frühen 2000ern Internet-Memes als Skulpturen im Ausstellungsraum umsetzte, war dabei auch das resultierende Bild immer mitgedacht und immer medienwirksam. Zudem kokettiert er mit dauerhaft aktuellen Themen wie Arbeitsverweigerung und Systemkritik; im Vokabular der 1990er und 2000er Jahre wurde Cattelan entsprechend als Trickster rezipiert, eine Figur des Dritten, die sich an den Rändern des Systems bewegt und es zu ihrem Vorteil wendet. Hinter dem Witz an der Oberfläche steckt dabei oft eine Beschäftigung mit Ungesagtem und Tabus, mit Gewalt, Religion, Tod. [11]
Eben hierin will die Jury die aktuelle Relevanz von Cattelans Positionen verorten: „Gerade im deutschen Kontext, in dem gesellschaftliche Debatten häufig moralisch aufgeladen sind, eröffnet seine Kunst neue Räume des Denkens – jenseits von Empörung und Polarisierung“, heißt es. Cattelan nutze „das Potenzial des Schocks, der Irritation und der moralischen Ambivalenz […], um zentrale Fragen unserer Zeit aufzuwerfen: nach Schuld, Verantwortung, Macht und kollektiven Traumata“. [12]
In lauten Zeiten nach Zwischentönen zu suchen, Ambivalenzen zuzulassen, Humor und Poetik einen Raum zu geben, ist nachvollziehbar und grundsätzlich begrüßenswert. Nur: Braucht die Debattenkultur der heutigen Zeit „das Potenzial des Schocks“, wenn wir doch dauerschockiert angesichts multipler Katastrophen sind? Erzählt uns Hitler als betender Schuljunge (Him, 2001) irgendetwas über kollektive und individuelle Schuld und den Umgang damit, was wir heute nicht ohnehin laufend – und in Verzweiflung angesichts der herrschenden Komplexität – diskutieren würden? In den Worten der Jury tritt der moralisch ambivalente Künstler als Befreier auf den Plan: „In einer Zeit zunehmender politischer Polarisierung kann seine [Cattelans] Kunst helfen, Erinnerung nicht als Zwang oder Pflicht, sondern als ebenso lebendigen wie relevanten Umgang mit der Gegenwart und Zukunft zu begreifen. […] In einer Atmosphäre politischer und sozialer Verhärtung wirkt Cattelans subversiver Humor als befreiendes Mittel.“ Man könnte es auch anders lesen: Cattelan erlaubt es, konkrete historische und gesellschaftliche Fragestellungen in Gesten und Bildern zu fassen, sie auf allgemeine Schlagwörter – in der Pressemitteilung genannt sind „persönliche Verantwortung“, „Repräsentation von Geschichte“ oder „kollektive Erinnerung“ – herunterzubrechen, statt danach zu fragen, in genau welchen Handlungen und Entscheidungen sie sich niederschlagen würden. Er schafft den Verantwortlichen einen Ausweg, den Anschein „politischer Kunst“ zu bewahren, ohne die Gefahr allzu förderpolitisch oder ideologisch „gefährlicher“ Statements einzugehen.
Cattelans von der Decke hängenden oder in der Wand steckenden ausgestopften Pferde mögen vielleicht ein tragikomisches Bild der Erschöpfung verkörpern, die viele verspüren. Wenn er mit L.O.V.E. (2010) einen antifaschistischen Mittelfinger erhebt, mag das vielen aus der Seele sprechen; dass die Ausstellung auf Instagram funktionieren wird, ist kaum zu bezweifeln. In Berlin gibt es viele, die aktuell unter der Kulturpolitik, unter Kürzungen, den polarisierten Debattenräumen, den grassierenden rassistischen und antisemitischen Anfeindungen zu leiden haben und von einer befreienden Öffnung profitieren würden. Doch ganz unabhängig davon, wie Cattelan die Architektur der Neuen Nationalgalerie bespielen wird – wozu man ihn im Übrigen auch ohne Preis hätte einladen können, wenn man von seiner heutigen Relevanz so überzeugt ist –, wird es für sie schwer sein, diese Entscheidung anders als zynisch zu lesen: erscheint sie in diesem Kontext doch nicht als Befreiung, sondern als Teil einer umfassenderen, konservativen Wende.
Hanna Magauer ist promovierte Kunsthistorikerin. In der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) betreut sie den Bereich Publikation/Redaktion, außerdem arbeitet sie als Übersetzerin und Lektorin. Kürzlich erschien ihr Buch Kunst – Ort – Zugehörigkeit. Philippe Thomas und sein Umfeld im transcript Verlag.
Image credit: Foto © Peter Rigaud
ANMERKUNGEN
| [1] | Im Sommer 2025 fand bereits eine Ausstellung des Magazins und Kreativstudios TOILETPAPER, das Cattelan gemeinsam mit Pierpaolo Ferrari gegründet hat, im Privatmuseum Fotografiska statt – auf dem ehemaligen Tacheles-Gelände und unweit der damaligen Berlin Biennale. |
| [2] | Pressemitteilung Neue Nationalgalerie, 12.9.2025. |
| [3] | Ankündigungstext auf der Website der Staatlichen Museen Berlin zur Ausstellung „Preis der Nationalgalerie 2024. Pan Daijing. Dan Lie. Hanne Lippard. James Richards“. |
| [4] | Chronik auf der Website des Preises der Nationalgalerie. |
| [5] | Während Ankündigungstext und Pressemitteilung zum Preis 2024 noch von einem „neuen Format“ sprechen und davon, dass der Preis „im Jahr 2024 erstmals an vier Künstler*innen verliehen wird“, ist auf der aktualisierten Website zu lesen, dass der „immer wieder von einzelnen Akteur*innen kritisch betrachtete Aspekt des ,Gewinnens oder Verlierens‘ […] für diese Ausgabe abgeschafft“ wurde. Ebd., [Hervorhebung: die Autorin]. |
| [6] | Ebd. |
| [7] | „Ich hätte nie gedacht, dass Nan so kalt ist“, Interview mit Klaus Biesenbach, in: Der Spiegel, 1.6.2025. |
| [8] | Beate Scheder, „Nicht lustig“, in: taz, 6.11.2025; Laura Helena Wurth, „Warum bekommt ausgerechnet Cattelan die Auszeichnung?“, in: FAZ, 7.11.2025. |
| [9] | Ebd. |
| [10] | So die Prämisse des Spike-Round Table „Post-Cool Berlin?“, der während der Berlin Art Week am 14.9.2025 in der Julia Stoschek Foundation stattfand. |
| [11] | Für einen Überblick siehe Nancy Spector, Maurizio Cattelan. All, Ausst.-Kat., Solomon R. Guggenheim Museum, New York, 2011. |
| [12] | Pressemitteilung Neue Nationalgalerie. |
