As if there were no ifs Annika Haas über das CTM Festival 2019 in Berlin
Was heißt es, die Bühne zu betreten? In jenem Moment, bevor die Musikerin Maria w Horn hinter ihrem Tisch mit Laptop, Controllern, Effektgeräten und Synthesizer an diesem Abend des Club Transmediale (CTM) auf der Bühne des Hebbel am Ufer auftaucht, stellt sich die Frage nicht zum letzten Mal. In der darauf folgenden Performance von Colin Self und seinem queeren „Xhoir“ erscheint gleich ein weiterer, paradigmatischer Aspekt dieser 20. Ausgabe des Festivals für elektronische Musik: Nicht nur das Experiment mit Instrumenten und Aufführungspraktiken, sondern auch die auffallende Präsenz und Vielfalt der Körper prägen die Konzerte und Clubnächte.
Deviante Personae und diverse Identitäten haben die Bühnen des CTM Festivals 2019 vollends erobert. Unter dem Motto „Persistence“ füllt das Line-up des Festivals nun aus, was sich in den vergangenen Jahren mit „New Geographies“ (2016), „Fear Anger Love“ (2017) und „Turmoil“ (2018) andeutete und begleitet wurde von Debatten um Geschlechterquoten und Fragen der Intersektionalität, wie etwa initiiert durch female:pressure. Der CTM hat sich damit längst von der „kleinen Schwester“ der Transmediale zu einer eigenen Institution entwickelt, die ihre Selbstbefragung nicht scheut. Mit einem Diskursprogramm, Ausstellungen, dem Musicmakers Hacklab und Workshops für Akteur*innen der Szene ist über die letzten beiden Jahrzehnte eine Plattform entstanden, auf der elektronische Musik nicht nur präsentiert wird. Darüber hinaus wird auch thematisiert, welche ökonomischen Bedingungen einem Auftritt vorausgehen und welche politischen Implikationen es hat, wer auf der Bühne steht. Damit bekommt das Gefühl von Solidarität zwischen Publikum und Performancekollektiven neben dem etablierten Laborcharakter des Festivals for adventurous music and art mehr Raum.
Diese positive Spannung prägt auch den eingangs erwähnten Abend unter der Überschrift „As if we were kin“. Self bildet für die Aufführung seines Albums „Siblings“ (zugleich Teil der Sci-Fi-Operette „Elation“) eine chosen family mit seinem „Xhoir“, der wie er selbst in New York und Berlin beheimatet ist. Die Körper der Performer*innen werden beliebig erweitert, ob mit Theorie, LED-Augen, Pussy-Riot-Masken oder in klassizistisch angehauchte Cyberpunkgewänder gehüllt. „We are just humans!“, kommentiert Self ironischerweise vor der Projektion von Einzellern, als ihm kurz die sanfte Stimme versagt. Er wird bejubelt, während das heterogene Chor-Knäuel weiter bewusst asynchron in einer eklektischen Assemblage aus elegischem Gesang, Streicher*innentrio und pumpenden, imperativen Beeps umherschwirrt, getreu dem von Donna Haraway inspirierten Motto „Stay with the Trouble“.
Maria w Horn aus Stockholm zeigt im Kontrast dazu, regelrecht klassisch hinter ihrem Setup verharrend, dass auch auf der sehr basalen Ebene der sinnlichen Wahrnehmung Gemeinschaft im weiteren Sinne entstehen kann. Sie sensibilisiert durch die präzise Arbeit mit optischen und akustischen Reizen für die Koexistenz und den Kontakt mit jenen Materialitäten, die in den meisten Fällen eher als Beiwerk wahrgenommen werden: Licht und Nebel orchestrieren einhergehend mit Farbwechseln den Verlauf des Konzerts. Diese Reize bilden eine verbindende Sphäre zwischen Publikum und Bühne, deren Gegenüberstellung sich zunehmend auflöst, je intensiver das Blenden des zum Set-up gehörenden LED-Scheinwerfers wird: Immer mehr Augen schließen sich, das Publikum will sich auf die Synästhesie eines visuellen Hörraums einlassen, in dem Horn u. a. Material ihres neuen Albums „Kontrapoetik“ installiert. Auf subtiles Knistern, unaufdringliche drones und eine minutenlang referierende schwedischsprachige Stimme folgt mit einem „puren“ RGB-Blau ein Tauchgang. Wie unter einer Neoprenhaube ist eine nahezu perfekte Simulation des Klangs von stechend-pulsierendem Ein- und Ausatmen mit Sauerstoffflasche zu hören, während das Geräusch von Wasserblasen am Ohr entlangperlt. Das Rauschen ebbt schließlich wieder ab und wird zu einem sanften, weißen Licht über Meereshöhe.
Neben solchen subtilen Interventionen auf den Bühnen des Hebbel am Ufer, sind es in den Clubnächten aufregende Spekulationen, die Sound und Performance als soziopolitisches Mittel begreifbar werden lassen. Inmitten diverser Crowds wird erfahrbar, welche widerständigen, gemeinschaftsbildenden Aspekte die elektronische Musikszene in Zeiten globaler politischer Krisen und subjektiven unsettlings zu bieten hat. Mit Gazelle Twin (Brighton), dem* in Berlin lebenden Lotic aus Austin oder auch Fatima al Qadiri (New York), die in Kuwait aufwuchs, stehen Musiker*innen auf der Bühne, die den Fokus nicht nur auf die Dynamiken innerhalb einer transkulturellen Musikwelt lenken. Genreübergreifend geht von diesen pluralen Identitäten eine erhöhte Aufmerksamkeit für jene Affekte aus, die in der temporären Gemeinschaft zwischen Bühne und Floor zirkulieren, wie auch für ein Begehren. Sie werden besonders mit Mitteln des Drag, der Travestie und dem Vokabular verschiedener queerer Szenen adressiert; ob offensiv mit einem Phallus aus schwarzem, tropfendem Wachs während einer Séance mit der Brasilianer*in Linn da Quebrada im SchwuZ oder durch die burlesken Gesten der New Yorkerin Alexandra Drewchin als Eartheater, die genuiner Bestandteil ihres Sets im Berghain sind. Auf andere Weise erinnert nach vielen schrillen Nächten die britische Sängerin Tirzah beim Abschlusskonzert im Heimathafen Neukölln daran, dass Begehren in der Musik aber auch immer noch nach einem optimistischen Säuseln von Liebe klingen kann: „All I want is you …“
Der CTM feiert 2019 damit zu Recht, dass es sich lohnt, auf eine andere, z. B. dekoloniale, queere Zukunft zu bestehen und sie, zumindest für den Moment eines Konzerts, Wirklichkeit werden zu lassen. „Persistence“ steht dabei wie die Überschriften zu den einzelnen Abenden auch dafür, dass es darum geht, beharrlich weiterzumachen und utopische Horizonte als kritischen Vergleich im Blick zu behalten: „As if we had a voice“, „As if we were heard“, „As if we had power“. Vielfalt verkörpert auf die Bühne zu bringen, ist dafür nur eine Strategie.
Dass schließlich Sound selbst ein Mittel der Subversion ist, daran erinnern z. B. Gabber Modus Operandi oder auch Sodadosa, die dafür in Konzerten und öffentlichen noise bombings in Indonesien an die Grenzen von BPM- und Hertz-Frequenzen gehen. Dass für den CTM immer auch Politiken jenseits der Clubtür eine Rolle spielen, zeigt zudem Nik Nowaks Installation „The Mantis“ zum Sonic Warfare an der deutsch-deutschen Grenze in den frühen 60ern. Auch die Körper des Publikums werden damit zu einem Ort, an dem sich das realisiert, was sowohl von Klangmaschinen wie Nowaks gewaltigen Lautsprecherskulpturen als auch von den Bühnen ausgeht, auf denen mitunter der Körper selbst zum Ausgangspunkt von Klangproduktion wird.
Auf besondere Weise wird damit in der Work-in-progress-Performance des Projekts „Bird Bird, Touch Touch, Sing Sing“ von Nguyễn + Transitory gearbeitet, das im Zeichen eines intersektionalen Feminismus und der südostasiatischen Diaspora steht, der sie, selbst nomadisch zwischen Vietnam, Thailand und Deutschland lebend, angehören. Das Duo beweist den Mut, noch wenig ausgereifte Klänge in ihrer Dauer, streckenweisen Monotonie und mit der Langsamkeit eines Probenprozesses auf die Bühne zu bringen. Während es sich, kontinuierlich begleitet von einem leisen, allzu pathetischen Herzschlag, immer wieder rituell zu waschen scheint, bevor es einen zentral aufgestellten Tisch mit weitestgehend nicht zum Einsatz kommender Elektronik umkreist, entstehen improvisierte Interfaces wie die mit Drähten umwickelten und feucht benetzten Unterarme des Duos, die bei Kontakt einen Stromkreis schließen und das omnipräsente Brummen minimal ändern. Auch ein simples Mikrofon und ein Lautsprecher lassen Nähe und Ferne zwischen den beiden Körpern zum akustischen Modulationsprinzip werden: Der Grat zwischen Übersteuerung und dem Verebben des Feedbacks ist schmal. Klang und Bewegung stehen miteinander in einem wechselseitigen Verhältnis. Momenthaft wird hier deutlich, wie unausweichlich die „Persistence“ von Sound und elektronischer Musik ist und dass davon eine anhaltende Energie ausgeht, die immer wieder neue ästhetische Formen annimmt und nicht zuletzt Auswirkungen auf das Verhältnis von Körpern zueinander hat. Für Nguyễn + Transitory endet dieses vorerst Kopf an Kopf: Sie werden einander zum Hallraum, indem sie sich nicht an-, sondern mit geradezu existenzieller Zärtlichkeit gegenseitig in den Mund schreien.
Das CTM Festival fand von 25. Januar bis 3. Februar 2019 unter dem Titel „Persistence“ in Berlin statt.
Annika Haas ist Medientheoretikerin und promoviert an der Universität der Künste, Berlin.
Credits: Camille Blake, selflovetribute