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PAOLO VIRNO (1952–2025)

Paolo Virno, 2004

Paolo Virno, 2004

Beschreibt Paolo Virno in einem 2006 in dieser Zeitschrift veröffentlichten Interview den für postoperaistischen Marxismus so zentralen Begriff der Multitude als „eine Seinsweise des Möglichen […], in der sich aber auch die Mängel eines limitierten Umfelds zeigen“, klingt darin bereits die Ambivalenz an, die sein Denken zulässt und insbesondere für Künstler*innen so relevant macht. Virnos Theorie und sein Aktivismus bilden eine Brücke von den Arbeitskämpfen im Italien der 1970er Jahre zu den globalisierungskritischen Bewegungen der Nullerjahre, die Jens Kastner in seinem Nachruf auf den Anfang November verstorbenen Philosophen schlägt.

Die Performance, der aufführende Akt, wird nicht nur von den Anstrengungen harter Handarbeit getragen, sondern auch von Gefühlen, von Austausch und Kommunikation mit anderen und nicht zuletzt vom Wissen aller: Was einst Kunst war, ist heute Arbeit. So in etwa ließe sich eine der zentralen Thesen des postoperaistischen Philosophen Paolo Virno zusammenfassen. [1] Virno, geboren 1952 in Neapel, war in den 1970er Jahren Teil der radikalen Linken in Italien, die vor dem Hintergrund einer neuen Interpretation der marxistischen Theorie der Arbeit mit militanten Aktionen, Fabrikagitationen, Streiks und Lesekreisen die gesellschaftliche Stimmung prägte. Mit Kunst beschäftigten sich die Aktivist*innen, die sich der marxistischen Strömung des Operaismus zurechneten, damals weniger als mit Versuchen proletarischer Organisierungen. Dennoch wurden künstlerische Praktiken in den späteren Werken des Postoperaismus immer wieder thematisiert. [2] Während der Operaismus (vom Italienischen operaio: der Arbeiter) sich vor allem auf die Fabrik als Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzung konzentrierte und dabei die Marx’sche Klassenanalyse von den sozialen Kämpfen her anging, entstand die postoperaistische Theorie ausgehend von der Beobachtung, dass die Arbeitskämpfe seit den ausgehenden 1970er Jahren nicht mehr auf die Fabrik beschränkt waren, sondern in sämtliche gesellschaftliche Bereiche diffundierten. Um dies zu fassen, wurde zudem auf Theorie jenseits des hegelianischen Marxismus, insbesondere auf Baruch de Spinoza sowie den Poststrukturalismus zurückgegriffen. Die (post-)operaistischen Ansätze waren bereits im Rahmen der Lohn-für-Hausarbeit-Diskussionen im Anschluss an die Texte von Selma James und Mariarosa Dalla Costa [3] in den 1970er Jahren über Italien hinaus rezipiert worden. Auch in den frühen 1980er Jahren hatten sie in Debatten unter Autonomen in Westberlin und anderen Metropolen den auf Italien beschränkten Diskursraum übertreten. Weltweite Aufmerksamkeit gewannen sie spätestens mit der Diskussion um den Bestseller Empire (2000) von Antonio Negri und Michael Hardt. [4]

Virno war Anfang der 1970er Jahre Mitglied der Gruppe Potere Operaio (italienisch: Arbeitermacht), die sich bereits in den frühen 1960er Jahren jenseits der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) gegründet hatte und der unter anderen auch Negri angehörte. Er promovierte 1977 zu Theodor W. Adorno, war nach wie vor Teil der Bewegung und wurde, wie viele linke Aktivist*innen dieser Jahre, im Kontext einer großen Repressionswelle 1979 verhaftet. Er verbrachte drei Jahre im Gefängnis, wurde wegen „subversiver Aktivitäten mit bewaffneter Bandenbildung“ 1982 zu zwölf Jahren Haft verurteilt und 1987 schließlich freigesprochen.

Wie Negri und Hardt verwendet auch Virno den Begriff der „Multitude“, um etwa in Grammatik der Multitude (2003) eine Konstellation der westlichen Gegenwartsgesellschaften um die Jahrtausendwende zu beschreiben: Als Gegenbegriff zum Staatsvolk ist die Multitude eine nichthierarchische Menge. Im postoperaistischen Gebrauch ist die Multitude sowohl ein beschreibender wie normativer Begriff, als auch sozialtheoretisches Konzept und Kampfbegriff zugleich. Erst in dem historischen Moment, in dem die wertgenerierende, ausgebeutete Arbeit sich seit den 1970er Jahren aus der Fabrik auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausweitet und auch den Umgang mit Gefühlen und das menschliche Miteinander, die sozialen Kooperationen, umfasst, tritt die Multitude aus ihrem geistesgeschichtlichen Schattendasein heraus. Mit ihrem Auftauchen greift sie ein und „verstopft und zerrüttet“, wie Virno schreibt, „die Mechanismen der politischen Repräsentation“ [5] .

Virno hatte dieses Verständnis in Grammatik der Multitude (2003) ausgeführt, in dem auch die Kunst eine nicht unbedeutende Rolle spielt. [6] Wie verschiedene andere Zeitdiagnosen auch, etwa jene von Zygmunt Bauman, Éve Chiapello und Luc Boltanski, Andreas Reckwitz und anderen, stellte Virno eine, wenn auch politisch gesehen zweifelhafte, Ausweitung und Universalisierungen künstlerisch-avantgardistischer Ansprüche bzw. Lebensentwürfe fest. [7] Die zeitgenössische Multitude zeichne sich durch ein „Ineinanderfließen von Politik und Arbeit “ [8] aus. Dabei sei der general intellect zum „Stützpfeiler der gesellschaftlichen Produktion“ [9] geworden. Der general intellect ist bei Marx das allgemeine Wissen, das für gesellschaftliche Produktivität entscheidend ist.

Virno konstatiert dabei auch eine Gemeinsamkeit zwischen künstlerischen Avantgarden und sozialen Bewegungen: Sie beide stellen gesellschaftliche Standards und alltägliche Routinen infrage. Wann und wie diese Infragestellung in veränderte Normen transferiert werden kann, behandelt Virno allerdings kaum. So erschien ihm das Hinterfragen geltender Maßstäbe an sich schon so löblich, dass er über die Kunst einmal sagte, sie sei „a lot like communism“. [10] Während Kunst und soziale Bewegungen in Virnos Schriften meist ziemlich positiv aufgeladen bleiben und ihr Scheitern kaum in Erwägung gezogen wird, stellt er die Frage nach den Gelingensbedingungen in anderem Zusammenhang durchaus. „Unter welchen Voraussetzungen schlagen die Praxis und die Rede tatsächlich eine unvorhergesehene Richtung ein? Wie gerät eine Lage, ein Zustand außer Gleichgewicht, welches bis zu diesem Moment geherrscht hat?“ [11] , fragt er in Bezug auf soziale Innovation.

An der Irritation dieses Gleichgewichts setzt schließlich auch seine Widerstandsperspektive an. Virno hat sie mit dem Begriff des Exodus formuliert: eine Flucht, die in einem „offensiven Entzug“ [12] und als „das massenweise Abfallen vom Staat“ [13] beschrieben wird. In dieser Idee radikalen Ungehorsams scheint noch der operaistische Kampf gegen die Arbeit nach. Nicht für höhere Löhne und mehr Freizeit hatte sich die Bewegung einst formiert, sondern gegen die als „moderne Form der Barbarei“ [14] bezeichnete Lohnarbeit schlechthin.

Für die aktivistischen Ränder des Kunstfeldes wurden Virnos Schriften im Anschluss an die globalisierungskritischen Bewegungen um das Jahr 2000 herum vielleicht noch wichtiger als für den akademischen Diskurs: Das lag sicherlich auch daran, dass Virno immer, wie Klaus Neundlinger und Gerald Raunig schreiben, einen zwiespältigen „Ausweg aus der Verzweiflung über den Fatalismus der Geschichte“ angeboten hat, nämlich „das Studium der Grammatik und das Erfinden neuer Sprachen“ [15]. Die Rezeption seiner Gedanken und Konzepte im deutschsprachigen Raum wurde vor allem durch den Wiener Verlag Turia + Kant wie durch das Web Journal transversal.at des eipcp – European Institute for Progressive Cultural Policies ermöglicht.

Virno war ein sympathischer und freundlicher Mensch, der durch sein Engagement für verschiedene Zeitschriften, seine Bücher und Vorlesungen nicht wenig zum linken Theorie- und Praxistransfer aus den 1970er Jahren in die Gegenwart beigetragen hat. Zuletzt war er Professor für Philosophie an der Universität Rom III, wobei ihm die Stelle glaubhaft weniger wichtig war („University has been a casual choice, not a vocation or a destiny“ [16] ) als die Möglichkeiten, die sie ihm bot. Die linke italienische Tageszeitung Il Manifesto hat ihn zum Abschied, am Tag nach seinem Tod am 7. November 2025, so sympathisierend wie treffend als „Revolutionär ohne Reue“ („rivoluzionario senza pentimenti“) beschrieben. [17]

Jens Kastner

Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker. Er unterrichtet an der Akademie der bildenden Künste in Wien und schreibt für diverse Zeitungen und Zeitschriften zu Kultur- und Sozialtheorien, Kunstkritik, Geschichte und Theorie sozialer Bewegungen, Anarchismus und dekolonialistischer Theorie aus Lateinamerika.

Image Credit: Foto Nora Parcu; Die Redaktion hat sich bemüht, mit den*die Rechteinhaber*in des Fotos in Kontakt zu treten. Sollten Ansprüche offengeblieben sein, bitten wir darum, Kontakt mit TEXTE ZUR KUNST aufzunehmen.

ANMERKUNGEN

[1]Der Autor veröffentlichte bereits einen Nachruf auf Paolo Virno unter dem Titel „Verweigerung der Spielregeln“, in: taz, 11.11.2025.
[2]Vgl. dazu Jacopo Galimberti, Images of Class. Operaismo, Autonomia and the Visual Arts (1962–1988), London/New York 2022.
[3]Vgl. Mariarosa Dalla Costa, Frauen und der Umsturz der Gesellschaft. Gesammelte Aufsätze, aus dem Englischen und Italienischen übers. von Britta Grell/Gisela Bock, Münster 2019.
[4]Antonio Negri/Michael Hardt, Empire. Die neue Weltordnung, aus dem Englischen von Thomas Atzert/Andreas Wirkensohn, Frankfurt/M./New York 2002.
[5]Paolo Virno, Weltlichkeit und der Gebrauch des Lebens, aus dem Italienischen von Federica Romanini, Wien/Berlin 2017, S. 154.
[6]Ders., Grammatik der Multitude. Öffentlichkeit, Intellekt und Arbeit als Lebensform, aus dem Italienischen von Klaus Neundlinger, Wien 2005.
[7]Vgl. Zusammenfassend Jens Kastner: „Ist die Linke schuld am Neoliberalismus? Über das Erbe von Avantgarde und ’68“, in: Jungle World, 27.08.2009; https://jungle.world/artikel/2009/35/ist-die-linke-schuld-am-neoliberalismus.
[8]Virno 2005, S. 63.
[9]Ebd., S. 86.
[10]„The Dismesure of Art. An Interview with Paolo Virno“, von Sonja Laevert und Pascal Bielen, in: Pascal Gielen/Paul De Bruyne (Hrsg.), Being Artists in Post-Fordist Times, Rotterdam, S. 17–44, hier: S. 18.
[11]Paolo Virno, „Witz und innovatives Handeln“, übersetzt von Klaus Neundlinger, in: transversal web-journal, 6, 2005; https://transversal.at/transversal/0207/virno/de.
[12]Paolo Virno, Exodus, aus dem Italienischen und eingeleitet von Klaus Neundlinger/Gerald Raunig, Wien/Berlin 2010, S. 50.
[13]Ebd., S. 49.
[14]Branden W. Joseph, Interview with Paolo Virno, in: Grey Room, 21, Fall 2005, S. 26–37, hier: S. 26.
[15]Klaus Neundlinger/Gerald Raunig, „Einleitung oder: Die Sprachen der Revolution“, in: Virno 2005, Grammatik, S. 9–21, hier: S. 20.
[16]Joseph 2005.
[17]https://ilmanifesto.it/addio-paolo-virno-militante-rivoluzionario-senza-pentimenti.