Hinter #MeToo und #NotSurprised vermuteten manche puritanische Verurteilungen von Flirt und Galanterie (siehe etwa der offene Brief in Le Monde, unterzeichnet unter anderem von Catherine Denueve, Ingrid Carven und vielen weiteren) und verwechselte dabei sexy mit Sexismus. Ob sexuelle Freiheit auch ohne eine Objektifizierung von Frauen auskommen kann, ist seit Jahrzehnten eine Streitfrage der feministischen Debatte.
Im Vorlauf zur neuen Ausgabe wollen wir einige Texte aus dem Archiv von Texte zur Kunst zugänglich machen, die zentralen Fragen des aktuellen Diskurses schon in früheren Ausgaben thematisieren. Juliane Rebentisch und Sabine Grimm diskutierten für Texte zur Kunst in Ausgabe 22 (1996), ob und wie es den „Sexual Politics“ gelingen kann, dass Frauen sich über ihre Körper, also ausgerechnet jene Instanz, über die ihre Unterdrückung maßgeblich durchgesetzt wird, "befreien“.
1. Sexual Politics - Sexualpolitik - Sexuelle Politik
"Sexuelle Politik“ verweist unüberhörbar auf den Terminus "Sexual Politics“, der bislang meistens mit dem zugegebenermaßen unattraktiveren Begriff "Sexualpolitik“ übersetzt wurde. "Sexuelle Politik“ dagegen suggeriert unter anderem, daß es besser wäre, wenn das als kopflastig und lustfeindlich empfundene Politische mit dem nötigen Sex-Appeal versorgt würde - Sexy Politik? Der Begriff erinnert außerdem an seine Vorgängerin, die „sexuelle Revolution“, das heißt an kulturrevolutionäre Vorstellungen, wie sie Ende der 60er Jahre vertreten wurden. Eine Sexualisierung des Politischen erscheint allerdings als Emanzipationsstrategie für Feministinnen kontraintuitiv, wandte sich die neue Frauenbewegung doch auch gegen die mit solchen Vorstellungen einer „sexuellen Revolution“ einhergehenden neuen Normen (die Degradierung von Frauen zu Sexualobjekten und den Orgasmusterror der „sozialistischen Eminenzen“) und trat für eine Politisierung des Sexuellen ein, die das vermeintlich „Private“ als von Macht- und Gewaltverhältnissen durchzogen und Sexualität als Schauplatz politischer Auseinandersetzung sichtbar machte. Die feministischen Kämpfe richteten sich aber vor allem gegen die herrschende „Sexualpolitik“: gegen die institutionellen, rechtlichen, moralischen und gesundheitspolitischen Formen der Normierung sexueller Praktiken ebenso wie gegen die gesellschaftlich geduldeten und sanktionierten Formen sexistischer Gewalt (§ 218, Vergewaltigung, Gewalt in der Ehe etc.).
Für die feministischen Sexualitätsdebatten von den 70ern bis heute läßt sich jedoch allgemein feststellen, daß sich neben diesen Formen feministischer Kritik ein Diskurstyp hält, in dem „das Sexuelle“ in einer weiteren Richtung als „politisch“ bestimmt ist, insofern an den „Sex“ - im doppelten Wortsinne von Geschlecht und sexuellen Praktiken - selbst Befreiungsvorstellungen geknüpft werden. Während die Forderung nach sexueller Selbstbestimmung von Frauen in der feministischen Kritik an Zwangsheterosexualität und Sexismus negativ bestimmt und damit offen bleibt, wird sie in den Versuchen einer positiven Bestimmung der „richtigen“ feministischen Sexualität normativ und richtet sich an die Frauen zurück.
Women’s March on Washington, 2017
Uns interessiert der Umschlag einer nach wie vor notwendigen Kritik an den heterosexistischen Beschränkungen und Normen in einen normativen Anspruch, dem gemäß Frauen sich über ihre Körper, also ausgerechnet jene Instanz, über die ihre Unterdrückung maßgeblich durchgesetzt wird, „befreien“ sollen. Diesen Umschlag möchten wir an einigen früheren und aktuellen Beispielen feministischer Theoriebildung verfolgen. Wir beziehen uns dabei zum einen auf Andrea Bührmanns vor kurzem erschienene Studie zur feministischen Sexualitätsdebatte der 70er Jahre, die diese ausgehend von Michel Foucaults Machttheorie und seinen Schriften zur Geschichte der Sexualität einer kritischen Analyse unterzieht. Bührmann legt den Schwerpunkt ihrer Untersuchung auf die normativen Konzepte „sexueller Politik“, die Feministinnen in den 70er Jahren selbst hervorgebracht haben, und kritisiert deren Repressionshypothesen, das heißt ihre Annahmen eines authentischen Sexes, den es aus der patriarchalen Entfremdung zu befreien gelte. Zum anderen möchten wir uns einige aktuelle theoretische Entwürfe „sexueller Politik“ ansehen, die der Authentizitätsfalle zu entwischen scheinen, jedoch weiterhin davon ausgehen, daß mit Sex Politik zu machen sei.
2.Authentische Frauen Sexualitätsdebatten der 70er Jahre
In Authentische FrauenSexualitätsdebatten der 70er JahreIn welcher Weise, so Bührmanns allgemeine Fragestellung, schreiben sich die feministischen Debatten über Sexualität in das herrschende Sexualitätsdispositiv ein? Wie tragen sie zur „Produktion der Geschlechterverhältnisse“ bei, und welche Normierungen bringen sie selbst hervor? Auch wenn sie den in diesen Fragen erhobenen Anspruch nur teilweise einlöst, bietet ihre Analyse doch einen sehr guten, materialreichen Überblick über einflußreiche radikalfeministische Auffassungen sexueller Politik. Als „Sexualitätsdebatte“ bezeichnet Bührmann den Korpus jener Texte, die das Untersuchungsmaterial ihrer Studie bilden. Er umfaßt zum einen breit diskutierte Schriften wie Germaine Greers „Der weibliche Eunuch“ (1974), Kate Milletts „Sexus und Herrschaft“ (1971), Shulamith Firestones „Frauenbefreiung und sexuelle Revolution“ (1975) und Alice Schwarzers „Der ‘kleine Unterschied’ und seine großen Folgen“ (1975), zum anderen die Dokumentationen der jährlich veranstalteten Sommeruniversitäten (1976 bis 1983), die Frauenjahrbücher (1975 bis 1983) sowie zum Teil aus der US-amerikanischen Frauenbewegung importierte Regelwerke zur Praxis der Selbsterfahrungsgruppen. Bührmann begreift die Diskurse der Freudschen Psychoanalyse (in ihrer klinisch-therapeutischen Form) und der empirischen Sexualwissenschaften (Kinsey, Masters/Johnson) als „historisches Apriori“ der feministischen Politisierung des Sexuellen. Mitte der 60er Jahre repräsentieren diese Diskurse ihr zufolge zwei gegensätzliche Auffassungen von Sexualität und ihrer „normalen“ Entwicklung: Während die Psychoanalyse die Kleinfamilie zur Grundlage und zum Ziel der Entwicklung eines „normalen“ Sexuallebens erkläre, den Koitus als Sexualnorm setze und so die „weiblichen Sexualität“ an die Fortpflanzung binde (die „weibliche Sexualität“ muß sich nach Freud zum Kinderwunsch transformieren, um eine „normale“ Entwicklung zu nehmen), postulierten die empirischen Sexualwissenschaften durch die Einführung der Orgasmus-Norm eine radikalere Trennung zwischen Fortpflanzungs- und Lustfunktion des Sexuellen.
Im Gegensatz zur Psychoanalyse, so Bührmann, „verabschieden die empirischen Sexualwissenschaften die Codifizierung der Frau als Gattungswesen“, derzufolge die normative Frau Mutter ist, „zugunsten einer Disziplinierung zum sexuellen Individuum“, die an den Orgasmus als allgemeine Sexualnorm gebunden wird. Leider verbleibt Bührmanns Analyse des „historischen Apriori“ auf der Ebene einer Rekonstruktion der wissenschaftlichen Diskurse. Sie untersucht nicht, wie die hier entwickelten unterschiedlichen Konzepte zum damaligen Zeitpunkt die Geschlechterideologie bestimmten und welche Auffassungen gesellschaftlich dominierten. Wie auch Bührmann zumindest andeutet, ist jedoch davon auszugehen, daß die familiale Ideologie und die Normierung der Frau als Mutter weiterhin wirksam waren und durch die Erkenntnisse der Sexualwissenschaften nicht „verabschiedet“ wurden. Nicht zuletzt deshalb wenden sich Feministinnen von Beginn der neuen Frauenbewegung an vor allem gegen die Psychoanalyse und greifen ihre Legitimation der bürgerlichen Kleinfamilie ebenso an wie ihre Unterordnung der „weiblichen Sexualität“ als defizitär gegenüber der „phallischen“ Norm. Doch während Firestone und Millett die Unterscheidung zwischen Sex und Gender einsetzen, um den biologischen Determinismus zurückzuweisen, wie er in Freuds Diktum „Anatomie ist Schicksal“ zum Ausdruck kommt, bleiben sie diesem in ihren Patriarchats-Theorien selbst verhaftet. Bührmann unterscheidet daher zu Recht zwei Transformationen, die den Verlauf der feministischen Sexualitätsdebatten bestimmten: In einem ersten Schritt werde die Geschlechterdifferenz durch die Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht und die darüber mögliche Kritik patriarchaler Ideologien „minimalisiert“. In einem zweiten Schritt jedoch werde die Trennung zwischen Sex und Gender wiederum aufgegeben zugunsten feministischer Vorstellungen darüber, „wie die ‘eigentliche’ Geschlechtsidentität und der authentische Sexualtrieb von Frauen und Männern beschaffen sei“ .In ihrer Analyse solcher Vorstellungen stellt sie zwei Ausrichtungen fest: zum einen „sexual-revolutionäre“ Positionen, die sich - wie etwa Firestone und Germaine Greer - an die psychoanalytisch orientierten Triebtheorien Wilhelm Reichs und Herbert Marcuses anlehnten, zum anderen „orgasmologische“ Positionen, die - vertreten etwa durch Alice Schwarzer - stärker an die Erkenntnisse der Sexualwissenschaften anknüpften. Während die „Orgasmologinnen“ den zu befreienden Sexualtrieb eher an eine bloße Verschiebung von der Vagina zur Klitoris binden, bestimmen die „Sexualrevolutionärinnen“ diesen als ursprünglich nicht-genital und halten eine solche Verschiebung für unzureichend. Auch die Strategien „sexueller Befreiung“, die beide Richtungen entwerfen, unterscheiden sich. Während die einen eine Befreiung zur „menschlichen Sexualität“ verfolgen - so fordert zum Beispiel Germaine Greer, Frauen sollten „den Penis humanisieren, den Stahl aus ihm entfernen und ihn wieder zu Fleisch machen“ -, binden Schwarzer und stärker noch jene Feministinnen, die die Parole „Feminismus ist die Theorie - Lesbianismus die Praxis“ ausgeben, die Befreiung der „weiblichen Sexualität“ an eine „nicht mann-fixierte“ Entwicklung. Welche normativen Vorstellungen Feministinnen über diese Entwicklung vertraten, untersucht Bührmann vor allem anhand der Literatur zur Selbsterfahrungspraxis und der Frauenjahrbücher. Als zentrales Ergebnis ihrer Analyse stellt sie heraus, daß die feministische Sexualitätsdebatte eine „Authentizitätsnorm“ hervorgebracht habe, die in zwei konkurrierenden Widerstandsmodellen ihren Niederschlag finde: der Figur der „Mutter“ (bzw. Der Mutter-Kind-Beziehung), die sich von „männlichen Werten“ lossagt, und der Figur der „Lesbe“ (bzw. Der Frau-Frau-Beziehung), die sich sexuell von Männern abwendet.
Time Magazine’s People of the Year „The Silence Breakers“, 2017
„Spezifische sexuelle Aktivitäten bzw. Sexualfunktionen von Frauen“ erscheinen so per se als emanzipative Tätigkeiten; in beiden Fällen wurde die Geschlechterdifferenz - nun im Sinne einer „feministischen Normalisierung der Frauen“ - erneut dramatisiert.Bührmanns vorrangige Orientierung an einer Kritik der feministischen Repressionshypothesen führt jedoch teilweise zu einem abstrakten Anti-Essentialismus, der die politische Bedeutung der jeweils behaupteten „Authentizitäten“ nicht mehr berücksichtigt. So kommt etwa dem von ihr als feministische Norm kritisierten (Bewegungs-)Lesbianismus gesellschaftlich eine andere Bedeutung zu als dem ihm als Äquivalent zur Seite gestellten Modell der neuen Mütterlichkeit, das die Geschlechterdifferenzen in anerkannter Weise festschreibt. Aufschlußreich ist ihre Analyse dagegen dann, wenn es um die Transformation der feministischen Politisierung des „Privaten“ - im Sinne eines Angriffs auf die herrschende Sexualpolitik - in eine psychologisierende „Privatisierung“ der Politik geht, die die Befreiung an den eigentlichen Sex bindet.
Was sie allerdings über die innerfeministischen Kontroversen hinaus kaum in den Blick bekommt, ist, in welcher Weise die feministischen Diskurse das herrschende Sexualitätsdispositiv verändern. Bührmann interpretiert die Dokumente und Texte zur Selbsterfahrungspraxis am Leitfaden der Foucaultschen Machttheorie als Geständnisrituale, die der Frage nach der „Wahrheit des Sexes“ nachgehen und über den „Imperativ des Alles-Sagens“ die subjektivierende Unterwerfung der Individuen vorantreiben, doch untersucht sie nicht die staatlich-institutionellen Veränderungen, die mit der feministischen „Sexualpolitik“ und ihrer Verankerung in juristischen und therapeutischen Bereichen einhergehen. So bleibt es bei relativ schematischen Erörterungen über Fort- und Rückschritte. Am Ende vertritt sie die Ansicht, die feministische Sexualitätsdebatte habe die Normalisierungsmacht optimiert und sei ein „Baustein zur Ausweitung der Normalisierungsgesellschaft“ . In diesem Ergebnis verschwinden aber auch jene Momente, die über die Beschwörung eines authentisch Weiblichen, eine der „Wahrheit des Sexes“ verpflichtete Therapiekultur und andere Selbstfindungskulte hinausgingen, obwohl diese ohne die Tatsache, daß Frauen sich gegen ihre Reduktion auf „Weiblichkeit“, auf Hausarbeit, Gebärzwang und sexuelle Passivität gewandt hatten, nicht möglich gewesen wären. Die „Normalisierungsmacht“ erscheint so nicht als Kräfteverhältnis, sondern lediglich als eine die Widerstände verschlingende Instanz: Da die Kämpfe bei Bührmann im Prinzip keine andere Grundlage haben als das Begehren nach Macht (das Sex-Begehren), tragen sie schließlich auch nur zu ihrer Konsolidierung bei.
In dieser Hinsicht repräsentiert Bührmanns Analyse eine Richtung der an Foucaults Schriften zur Geschichte der Sexualität orientierten feministischen Theoriebildung und deren Probleme. Grob ließen sich zwei Lesarten Foucaults unterscheiden: Die eine, die von Bührmann verfolgte „Machtanalyse“, neigt zu der pessimistischen Auffassung, daß der Macht nicht zu entkommen ist, und entdeckt tendenziell in jedem Befreiungsversuch noch eine heimtückische List derselben. Die andere, optimistische Version setzt dagegen auf eine „Subversionstheorie“ - die sich auf Foucaults These berufen kann, daß Macht niemals ohne Widerstand gegen sie existiere - und entdeckt tendenziell überall Widerstände. Daß die eine Lesart in die andere umschlagen kann, zeigt sich an Bührmann selbst, wenn sie in ihrem Ausblick („Wie weiter?“) im „Konzept des spielerischen Umgangs mit markierten Identitäten bzw. der Neuerfindung von Identitäten zur Erosion von ontologisierten (Geschlechts-)Identitäten im funktionierenden Macht-Wissen-Komplex“ Möglichkeiten einer „Veränderung moderner Machtverhältnisse“ erblickt.
3. Fucking with Gender „Sexuelle Politik“ in den 90er Jahren
Versteht man die von Bührmann untersuchten Texte wiederum als „historisches Apriori“ aktueller Sexualitätsdebatten, so ist - zumindest in Theorien, die von der Konstruiertheit sexueller Identitäten ausgehen und auf die auch Bührmann am Ende Bezug nimmt -, ein anti-essentialistischer Impuls gegen Authentizismen jeglicher Art und für einen verschiedene sexuelle Orientierungen von Frauen einbeziehenden Feminismus festzustellen. Jane M. Gaines etwa schreibt in ihrem Text über „Feministische Heterosexualität und ihre politisch unkorrekten Freuden“: „Der Lesbianismus ist jetzt für den Feminismus nicht mehr ein so starrer und unabdingbarer Bezugspunkt wie früher, und Queerness als Begriff, der anzuwenden ist, wenn etwas nicht der durch die Mehrheit gesetzten sexuellen Norm der Normalität entspricht, ist heute nicht mehr auf Homosexualität begrenzt, sondern umfaßt alle Arten der Perversität und schließt keine unorthodoxe Lebensweise aus. Vielleicht ist der großzügigere Feminismus, den wir brauchen, überhaupt kein Feminismus mehr, sondern eine Theorie der Queerness.“ Vor diesem Hintergrund plädiert sie dafür, die „politisch unkorrekten Freuden der feministischen Heterosexualität“ ernstzunehmen. Gaines spricht explizit nicht von „weiblicher Sexualität“ oder „weiblichem Begehren“, sondern von „feministischer Heterosexualität“: Gemeint ist sexuelle Aggressivität bzw. ein aggressiv zum Ausdruck gebrachtes Begehren nach Männern, auch Machos, eine Haltung also, die dem „feministischen Mainstream-Moralismus“ (wie auch konservativen und rechten Weiblichkeitsideologien) zuwiderlaufe.
Madonna at the Women’s March on Washington, 2017
Indem Gaines diese Haltung den feministischen Ansprüchen, Theorie und Lebenspraxis reglementierend in Einklang bringen zu wollen, gegenüberstellt, sieht sie sich jedoch mit dem Problem konfrontiert, Heterosexualität zu legitimieren. Sie bringt am Schluß ihres Textes das theoretische Dilemma, daß die Legitimation einer solchen Praxis in die Affirmation der bestehenden heterosexistischen Verhältnisse umschlagen kann, auf den Punkt. Heterosexualität sei für Frauen gleichbedeutend damit, gefährdet zu sein, wobei ihnen zusätzlich oft auch noch die Verantwortung für diese Situation zugeschrieben werde.
„Wenn aber eine ‘feministische’ Heterosexuelle“, schreibt Gaines, „die ‘weiß’, daß sich die Frau, die etwas herausfordert, die Folgen selbst zuzuschreiben hat, es trotzdem haben will, so ist das pervers“ . Wieso aber sollen Frauen sich überhaupt dafür verantwortlich erklären, daß sie sich in Gefahr begeben, wenn sie ihrer Lust nachgehen? Das wäre gefährlich nahe an der antifeministischen Position, die Camille Paglia innerhalb der US-amerikanischen Date-Rape-Diskussion vertritt. Während sich bei Gaines die Differenz von theoretischer Heterosexismus-Kritik und einer von Widersprüchen bestimmten Praxis, die diese nicht so einfach „einlösen“ kann, am Beispiel des prekären Verhältnisses von feministischer Theorie zu heterosexuellen Feministinnen zeigt, mündet andernorts die Anrufung eines „großzügigeren Feminismus“ in die Rehabilitierung von Heterosexualität als „sexueller Politik“ mit Befreiungspotential - Stichwort „Queer Heterosexuality“.
Was aber soll das sein? Obwohl Queerness ein relativ weiter Begriff zur Bezeichnung aller nicht der Norm entsprechenden Sexualitäten ist , erscheint seine theoretische Ausdehnung auf den Bereich der Heterosexualität nicht gerade einsichtig. Denn warum die Norm mit einem Attribut der Abweichung versehen? Die mit einer solchen Kennzeichnung vorgenommene falsche Gleichsetzung von Homo- und Heterosexualität scheint einem „flexiblen Normalismus“ zu entsprechen, wie er von Jürgen Link im Rahmen seiner Analyse moderner Normalisierungsprozesse beschrieben wird. Die Entwicklung einer sich erweiternden Normalitätszone mit flexiblen Grenzbereichen läßt sich etwa auch in der Bisexualität-Ausgabe des Spiegel (5/96) ablesen (bi = hetero + mehr lust). Aus einer solchen Perspektive erscheinen dann übrigens umgekehrt gerade die schwulen und lesbischen „sexual politics“ als rigide und ausschließend. Das allerdings entspricht einer Verkehrung der Machtverhältnisse durch ein sich als Peripherie inszenierendes Zentrum.
Still from „Pussy Riot: A Punk Prayer“, 2013
Die Vorstellung einer „Queer Heterosexuality“ hat laut Sue Wilkinson und Celia Kitzinger aber nicht deshalb eine - wenn auch begrenzte - Anerkennung auf dem Feld der Queer Theory bekommen, weil besonders viele Leute von ihrer Möglichkeit überzeugt wären oder weil man damit eine irgendwie statistisch faßbare, sozial diskriminierte Randgruppe queerer Heterosexueller im Auge hätte, sondern weil es eine Komponente des auf der Ebene der Theorie entworfenen sogenannten „Fucking with Gender“ ist. „Fucking with Gender“ ist wie „Gender Bending“ oder „Gender-Play“ ein Name für das Spiel mit den Geschlechtsidentitäten. Prominentestes Beispiel hierfür ist weiterhin die Inszenierung unterschiedlicher Personae durch Madonna. Nicht selten wird aus kulturwissenschaftlichen Analysen ästhetischer Subversionsstrategien etwa in Film, Video, Literatur oder Musik auf deren Verallgemeinerbarkeit geschlossen. In einer so zur „sexuellen Politik“ avancierten Form allerdings suggeriert die Vorstellung eines Spiels mit Geschlechtsidentitäten, die Subjekte verfügten tatsächlich über deren Konstruktion und könnten daher die Geschlechterungleichheit zitierend-spielerisch überwinden. Das erzeugt dann den Easy-Theorizing-Sound, den man derzeit vor allem dort hören kann, wo „Girlism“ als Modell eines „neuen Feminismus“ (gerne auch „Postfeminismus“ genannt) propagiert wird. In einer Ankündigung für eine Veranstaltung von Katharina Weingartner und Anette Baldauf mit dem Titel „Revolution Girl Style - Neue Strategien im Feminismus/Beauty Salon (Workshop für Girls only)“ im Wiener Depot heißt es zum Beispiel: „In der klassischen kommunikationsfördernden Atmosphäre des Beauty Salons [...] werden wir unter Trockenhauben sitzen und mit Lockenwicklern, Haarspray, Nagellack, Lidschatten und Lippenstift bewaffnet die Theorie auf ihre Praxis prüfen: Maskerade, Ironie, Brechung, Spiegelung, Hysterie, Entmystifizierung, Imitation von Männlichkeitsriutalen, hyperbolische Inszenierung, Solidarität, Separatismus und Witz sind einige der Waffen, mit denen die US-amerikanischen Girls Neue Prüderie und Sexualpolitik, ‘Family Values’, Schönheitswahn und Gewalt gegen Frauen bekämpfen.“ Für die Richtigkeit und Durchsetzungskraft solcher „neuen Strategien im Feminismus“ haben dann vor allem individuelle und möglichst originelle Frauenbiographien einzustehen.
Mit der von Bührmann vorgeschlagenen Begrifflichkeit ließe sich nun folgender, wenn auch arg schematischer Vergleich anstellen: Beide, die von der Sexualitätsdebatte der 70er Jahre hervorgebrachte „Authentizitätsnorm“ und - wenn man so will - die von der „Genderfuckdebatte der 90er“ hervorgebrachte „Konstruktionsnorm“ weisen dem Sexuellen eine Befreiungsfunktion zu. Während erstere eine von allen Frauen potentiell zu erreichende authentische Sexualität postuliert, ist es bei letzterer die voluntaristische Vorstellung eines Spiels mit den Geschlechtsidentitäten, die es unter anderem auch in der sexuellen Praxis zu inszenieren gelte. Kurz: Es stehen sich die Imperative „Entdecke Dich selbst!“ und „Entwirf Dich selbst!“ gegenüber. Erscheinen der Authentizitätsnorm entsprechend viele Frauen mit einem Mangel („den Feind lieben“) behaftet, der sie davon abhält, zum Ideal der „authentischen Frau“ aufzusteigen, so fehlt es der Konstruktionsnorm entsprechend vielen Frauen vermeintlich an Kritikfähigkeit („noch an die Natur glauben“) und Erfindungsgeist, um sich dem Ideal der sich selbst stilisierenden, inszenierenden und Identitäten subvertierenden Frau in Anführungszeichen anzunähern.
Die ästhetisierenden, von dekonstruktivistischen Theorien, insbesondere auch der Judith Butlers , beeinflußten Konzepte „sexueller Politik“ überschätzen aber nicht nur die Möglichkeiten symbolischer Auseinandersetzungen, insofern eine Veränderung von Bedeutungen an eine Veränderung der ökonomischen und sozialen Machtverhältnisse gebunden ist, die auch die Möglichkeiten der Individuen bestimmen, in den in der Theorie projektierten und praktizierten Kampf um Bedeutungen einzugreifen. Sie verkennen dabei auch, daß weder mit der theoretischen Erkenntnis der sozialen Konstruiertheit von Geschlechtsidentitäten noch mit den diese sichtbar machenden ästhetischen Strategien die ideologische Subjektanrufung strukturell außer Kraft gesetzt werden kann, die die Geschlechterdifferenz, d.h. das „hetero“ der Heterosexualität konstituiert. Denn die Subjektkonstitution theoretisch als Prozeß der ideologischen Unterwerfung zu analysieren, ist eine Sache, daß Individuen innerhalb der Ideologie immer als Subjekte handeln, eine andere.
Der Umschlag in normative Konzepte „sexueller Politik“ betrifft daher im Kern die Frage, wie die Differenz von Theorie und Praxis theoretisch gefaßt wird. Ein abstrakter Antiessentialismus, wie wir ihn sowohl an Bührmanns Kritik der feministischen Repressionshypothesen (an ihrer Gleichsetzung der Modelle „Mutter“ und „Lesbe“) wie auch an den Vorstellungen des „Fucking with Gender“ kritisiert haben, vermag nicht mehr angemessen zu unterscheiden, welche „Essentialismen“ politisch anzugreifen wären und welche zwar theoretisch zu kritisieren, aber praktisch kaum zu umgehen sind. Versteht man Essentialismus als „Metaphysik der Präsenz“, so ist genaugenommen jede Aussage, jede Positionierung essentialistisch - und in diesem Sinne wird der Essentialismus-Begriff politisch indifferent. Entsprechend bezeichnet Gayatri Spivak die Dekonstruktion als „acknowledgement of the dangerousness of something one cannot not use“ . Und sie weist darauf hin, daß der Begriff des „strategischen Essentialismus“, den sie eingeführt hat, oft im Sinne einer Distinktion verstanden werde, mit der sich Intellektuelle von den „poor essentialists“ abzusetzen glauben. (Im Sinne von: Die meinen ja wirklich, ihr „Wesen“ zu artikulieren, doch wir wissen ja, daß es das nicht gibt.) Kurz, aus dem Dekonstruktivismus ist keine politische Praxis „abzuleiten“. Das bedeutet jedoch nicht, daß die hier betriebene Essentialismus-Kritik die Möglichkeit feministischer Politik auflöst, wie oft unterstellt wird. Die Alternative ist nicht die theoretische Beschwörung eines „weiblichen Subjekts“, sondern die Reflexion auf die Differenz zwischen theoretischer Kritik und politischer Praxis. Die feministische Theoriebildung kann sich nur auf die tatsächlich stattfindenden Praktiken beziehen und deren Grenzen kritisieren, will sie nicht die Theorie selbst zur bevorzugten politischen Praxis erklären und damit Feminismus auf einen „Kampf um Bedeutungen“ reduzieren.
Selbstfahrungsgruppe
In der letzten Ausgabe von Texte zur Kunst findet sich eine andere Verkürzung der Theorie-Praxis-Problematik. Carole A. Stabile wendet sich hier - im Rahmen einer Kritik an Donna Haraway, deren Cyborg-Modell auf eine „Politik ohne metaphysische Identitätseinschlüsse“ zielt - ebenso gegen eine Ineinssetzung von Dekonstruktion und feministischer Politik, mit der die Theoriebildung zur privilegierten politischen Praxis, das Professionelle zum „Politischen“ erklärt würde. Gegen diese Tendenz scheint sie allerdings die Theorie einem Politikzwang unterwerfen und den Intellektuellen eine organisierende Funktion zuweisen zu wollen. Stabile fordert von den Theoretikerinnen eine stärkere Ausrichtung auf den „Aufbau einer politischen Opposition“ , die sich an der Klassenfrage orientieren müsse. - Ein Aspekt, den dekonstruktivistische Theorien, für die Haraway hier stellvertretend steht, vernachlässigten. Doch macht es unserer Ansicht nach keinen Sinn, den einen Reduktionismus durch einen anderen bekämpfen zu wollen und die Kategorie der Klasse gegen die Kritik an Sexismus und Rassismus so auszuspielen, als sei das Ökonomische in reiner Form zu haben - eine Vorstellung von Materialismus, die Stabile auch in einem Interview nahelegt.Gerade das Feld der Sexual- und Bevölkerungspolitik ist ohne eine Analyse der ideologischen Konstruktionen von Geschlecht und „Rasse“ und deren Funktionen im Ökonomischen kaum zu begreifen - wie sie auch die von Stabile kritisierten Theorien zumindest zu entwickeln versuchen.
Im Rahmen einer solchen Analyse an einer radikalen Kritik von Heterosexualität als einem Gewaltverhältnis, als zentral für die Konstitution der Geschlechterdifferenz, festzuhalten, bedeutet, diese Kritik weder zugunsten reglementierender Konzepte der „richtigen“ sexuellen Praxis noch zugunsten legitimierender Theoretisierungen des heterosexuellen Vergnügens aufzugeben. Denn, wie Sue Wilkinson und Celia Kitzinger schreiben, „since when is a good fuck any compensation for getting fucked?“
Sabine Grimm, Juliane Rebentisch
Title image: Darstellung von Sorayama, "Cyborg", 1990
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