ZWISCHENTÖNE Kirsten Maar über Naama Tsabar im Hamburger Bahnhof, Berlin
Das Publikum wartet zwischen den Elementen von Joseph Beuys’ Straßenbahnhaltestelle von 1976. Zwei weiblich gelesene Performer*innen, in Schwarz gekleidet, betreten den Raum und gehen jeweils auf eine, in Form von aufeinander hinweisenden Dreiecken mit beigem und schwarzem Tape umrandete, Aussparung in der Wand zu. Langsam bewegt die erste Person ihren Arm in Richtung des Ausschnitts, fasst mit einer Hand hinein, als würde sie etwas aus der Wand herausholen wollen. Im selben Moment erklingt ein Sound, der zunächst ganz hell und leicht ist, doch dann in einen tiefen, dunklen, gurgelnden Laut übergeht, der zunehmend künstlich verstärkt wird. Inzwischen hat auch der*die zweite Performer*in begonnen, den Innenraum der Wand zu erkunden; beide setzen diesen Prozess fort, bis ihre Oberkörper fast gänzlich in dem geheimnisvollen Hohlraum verschwinden.
Die Kuratorin Kathrin Nichols hat die Bestände der Beuys-Sammlung der Nationalgalerie in der Kleihues-Halle neu arrangiert: Die Straßenbahnhaltestelle (1976), die Basaltstehlen aus Das Ende des 20. Jahrhunderts (1983), die Schiefertafeln aus Das Kapital. Raum 1970–1977 (1980) sowie Aufnahmen von Performances werden kontextualisiert durch eine kleine Bibliothek, die Reflexionen gesellschaftlicher Transformation von Angela Davis, Donna Haraway und vielen anderen versammelt; diese Anordnung besetzt eine Seite der Halle, während die andere zeitgenössischen Positionen vorbehalten ist, die dazu eingeladen werden, in Dialog mit Beuys zu treten und sich mit seinem Erbe auseinanderzusetzen. Fast unmerklich zwischen seinen Arbeiten finden sich am Boden paarweise aufgestellte Schuhe, einer stehend, einer liegend, wobei die stehende Schuhsohle zu einem Metronom umfunktioniert wurde. Die Schuhe lassen uns gewahr werden, wie das Zeitmaß unserer Schritte einen individuellen Rhythmus generiert, dem zu folgen wir herausgefordert sind.
Die eingangs beschriebene Choreografie von Klängen bildet den Auftakt zu einer Soundperformance und der Ausstellung „Estuaries“ von Naama Tsabar, die durch die weiteren Ausstellungsräume der Halle führt. Die nächste Perspektive eröffnet sich auf eine weitere performende Person, die sitzend auf einer dicken grauen Filzmatte eine Klaviersaite bearbeitet – zunächst mit den Fingern, dann mit einer Bürste, später mit einem Bogen entlockt er*sie dem Instrument gezupfte, geklopfte, gestrichene Töne. Filz, der sonst beim Klavier eher dazu eingesetzt wird, den Klang eines Tons zu dämpfen, wurde in den Works on Felt (2020) mit Karbonfasern behandelt, die das Material zugleich stabilisieren und beweglicher machen, womit es zum Klangkörper wird. Die entstehende Spannung der anderen, an die Wände gehängten Filzmatten, die von den Klaviersaiten gehalten werden, sowie der paradoxe Eindruck des zugleich Schweren und Leichten werden ergänzt durch eine minimale Ästhetik. Über an der Rückseite der Filzskulpturen angebrachte Kontaktmikrofone, die in einen Verstärker münden, wird der Ton präpariert, sodass kurz eine Assoziation zu den Prepared Pianos der Fluxus-Konzerte aufblitzt.
Zwei weitere aufeinander hinweisende Hohlräume in der Wand, über denen mehrere Banjo Tuner angebracht sind, machen darauf aufmerksam, wie hier das Unsichtbare zum Klingen gebracht wird. Welche Klänge können diese Räume generieren? In Naama Tsabars Inversions (2021) werden durch Berührung, Stimme oder Bewegung Sensoren aktiviert und darüber wiederum Sounddateien abgespielt; das Sichtbare sowie das Unsichtbare werden zur hörbaren Skulptur und fordern so unsere Wahrnehmungsgewohnheiten und deren normative Setzungen heraus. Die skulpturalen Klangkörper entwickeln eine eigene Handlungsmacht und fordern die Interaktion der Besucher*innen oder Performer*innen heraus.
Von Raum zu Raum wird das Zusammenspiel komplexer; es kommen weitere Musiker*innen hinzu, es ergeben sich neue Konstellationen, oft eilt das Publikum zwischen verschiedenen Klängen hin und her – während es noch die eine Performance betrachtet, erklingt bereits der Sound aus dem folgenden Raum. Diese Gleichzeitigkeit lässt Besucher*innen die Ausstellung nicht einfach nur linear erfahren, sondern fordert dazu auf, eigene Kompositionen zu kreieren. Dabei leiten sie die in vertikalen Streifen von schwarzem Gaffer-Tape (das im Musikbusiness dazu dient, Kabel zu verdecken) beklebten, temporären Wände durch die Halle und schließlich in den letzten großen Saal. Dort sind an einer Längsseite drei große Filzskulpturen in dunklem, intensivem Blau und Purpur angebracht, eine weitere hängt fast wie eine Orgel am Ende des Saals, zwei weitere in Ocker und Beige sind an den übrigen beiden Wänden verteilt, von denen die eine über eine weitere Höhlung verfügt. Diesmal singt ein*e Performer*in hinein, die Erweiterung des Klangs, die der Hohlraum erzeugt, erinnert an rituelle Gesänge.
Auf einer großen weißen Fläche sind die Überreste dreier E-Gitarren so arrangiert, als wären sie gerade bei einem Konzert zerschmettert worden. Melodies of a certain damage (2022) unternimmt die Aneignung und Umdeutung dieses ikonischen, jahrzehntelang männlich geprägten Akts – wie zum Beispiel bei Pete Townshend von The Who oder auf dem bekannten Cover des Albums London Calling von The Clash (1979). Der Akt der Zerstörung wird hier neu interpretiert, aus den einzelnen Bruchstücken wird sowohl auf der Ebene der Skulptur als auch des Klangs etwas neu zusammengesetzt. Tsabar dekonstruiert so die großen Gesten weißer Männer und betreibt im Gegenzug eine Art „Maintenance“-Arbeit: Aus den Überresten der zerstörten Instrumente reparieren und basteln sie und ihre professionellen Musiker*innen neue, durch Gitarren- oder Pianosaiten verknüpfte Klangkörper. Die Besetzung mit weiblichen, nichtbinären und queeren Musiker*innen und Performer*innen setzt dem Individuum des männlichen Musikergenies und seiner destruktiven Geste zudem eine produktive, kollektive Kraft entgegen. Tsabar hat Julia Biłat, Gabriela Burdsall, Arone Dyer, Tatiana Heuman, Naïma Mazic, Rasha Nahas, Avishag Cohen Rodrigues und Sarah Strauss über einen öffentlichen Call gesucht und vereint. Die Zusammenarbeit ist also auch geprägt vom Umgang mit dem Unbekannten, Unvorhersehbaren.
Darüber hinaus hinterfragt Tsabar die impliziten Geschlechterrollen und damit auch die unscripted rules des Rock-Business. Von ihrer eigenen Erfahrung als Mitglied einer Punkband beeinflusst, nutzt sie den Klang als Mittel, um die Bedingungen der Musicperformance und der damit verbundenen Industrie anzusprechen – von impliziten Geschlechterrollen bis hin zu den sozialen und ökonomischen Mechanismen des Feldes. An die Stelle einer spektakulären Show tritt bei ihr der Akt konzentrierten gemeinsamen Arbeitens, der eher an ein Erproben und Einüben erinnert als an einen publikumswirksam orchestrierten Prozess. Damit untersucht die Künstlerin explizit auch die Bedingungen musikalischer Darbietungen in Museen – einem öffentlichen Raum steter Neuverhandlungen von Machtgefügen. Indem sie der Frage nachgeht, wie die Soundinterventionen die Regeln des Museums verändern, setzen sich ihre Installationen und Performances mit bestehenden Strukturen und Formen der Ermächtigung auseinander, wie sie auch der Institution des Museums zugrunde liegen.
Augenfällig in der Gegenüberstellung zu Beuys ist bei Tsabar das Material: Während der Filz bei Beuys teilweise mythisch überhöht wurde, wird das Dämmmaterial bei ihr zu einem schwingenden Resonanzkörper, einem Instrument bzw. Werkzeug, das, aus seinem früheren Zusammenhang gerissen, eine andere Form von agency erlangt. Die implizite Aufforderung zur Partizipation bietet eine weitere Parallele: Beuys’ soziale Plastik bildete den Ausgangspunkt für Interaktionen des Publikums, in denen menschliches Verhalten gestaltend auf die gesellschaftlichen Verhältnisse einwirken konnte. Doch während die eigene Künstlerfigur als Schamane im Mittelpunkt stand, wird hier die Ebene eines weiblichen, nichtbinären, queeren Kollektivs starkgemacht. Sie ließe sich mit Ursula K. Le Guins Carrier Bag Theory of Fiction (1986) als ein gathering beschreiben, das sich um alternative, feministische Geschichten versammelt, das nicht den großen linearen Heldengeschichten lauscht, sondern ein spekulatives Fabulieren und damit eine andere Weise des Weltbezugs einfordert, die das Publikum einlädt und involviert.
Im Gegensatz zur Performance enthält die partizipatorisch angelegte Ausstellung jene Aufforderung an die Besucher*innen, die Instrumente zu spielen; sie verwandelt die musealen Räume in ein Live-Performance-Setting. Wie ein großer Spielplatz liegt diese Anordnung offen vor einem; die Möglichkeiten sind mannigfaltig, die Aktivierung der Skulpturen zum Instrument jedoch nicht ohne Weiteres kontrollierbar. Die Relation zwischen Form und Ton erfordert ein stetes Ausprobieren und ermöglicht es nur bedingt, nach und nach eine eigene Sprache zu entwickeln. Stattdessen rückt die Rolle des Körpers und unserer Wahrnehmung in den Mittelpunkt: Wenn die Besucher*innen die Hohlräume mit ihren Körpern erkunden, in sie hineinkriechen, werden sie Teil dieser Klangobjekte, sie generieren selbst den Sound und werden zu Verkörperungen eines Experiments. Nicht nur, dass der Klang uns wortwörtlich im Innersten berührt als etwas, dem wir uns weniger leicht verschließen können als visuellen Eindrücken; Klang durchdringt uns vielmehr direkt und wirkt ebenso über die Schwingungen, die uns fast haptisch berühren. Klang rührt somit an andere, verkörperte Formen unseres Wissens und bringt diese zur Geltung.
„Naama Tsabar: Estuaries“, Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, Berlin, 12. April bis 22. September 2024.
Kirsten Maar ist Tanz- und Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin und lehrt als Junior-Professorin an der FU Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen choreografische Verfahren im 20. Jahrhundert, Entgrenzungen zwischen bildender Kunst, Architektur und Choreografie, Ethiken des Kuratierens und der Dramaturgie, im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereichs 1512 forscht sie zum Thema „Choreografien der Intervention. Formate und Praktiken der Dekolonisierung und des Ökologischen“.
Image credits: 1-3. © Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin / Laura Fiorio, komponiert und aufgeführt von Julia Bi?at, Gabriela Burdsall, Arone Dyer, Tatiana Heuman, Naïma Mazic, Rasha Nahas, Avishag Cohen Rodrigues, Sarah Strauss, Naama Tsabar.; 4. © Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin / Jacopo La Forgia, Courtesy of Naama Tsabar, Dvir Gallery, Kasmin Gallery, Goodman Gallery, Nazarian / Curcio, Spinello Projects