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MIT DEM MAULWURF DENKEN Marc Rölli über Daniel Loicks „Die Überlegenheit der Unterlegenen. Eine Theorie der Gegengemeinschaften“

Beatrix Potter, Illustration aus „Appley Dapply‘s Nursery Rhymes“, 1917

Beatrix Potter, Illustration aus „Appley Dapply‘s Nursery Rhymes“, 1917

Der unermüdlich im Untergrund wühlende Maulwurf, der am Ende verzweigter Höhlengänge Hügel aufwirft, hat bereits als Metapher für viele Texte und Theorien herhalten müssen. Während Immanuel Kant sein beharrliches Graben sinnbildlich als vergeblichen Akt bar jeder Vernunft darstellte, machten Friedrich Hegel und Karl Marx den kleinen Tunnelgräber zum tüchtigen Unterminierer, dessen Basisarbeit den Boden für Revolutionen bereitet. Die Fragen, welche Rolle der Maulwurf in Daniel Loicks neuem Buch spielt und wie man sein unterirdisches Buddeln im Kontext sich umwälzender materiell-diskursiver Verhältnisse von heute sonst lesen könnte, wirft Marc Röllis Rezension unter anderem auf.

In seinem neuen Buch bringt Daniel Loick es fertig, die in den letzten Jahren zunehmend intensiven Debatten um Dekolonialität, feministische Standpunkte, Queer-Theory, Abolition und Black Aesthetics, Care und (Under)Commons aufzugreifen und sie mit der Geschichte des kritischen Denkens seit Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Marx zu verbinden. Das ist bemerkenswert, sofern sich die kritische Theorie (nach Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas) eher schwergetan hat und auch heute noch schwertut, deutlich anders aufgestellte Denkweisen als die ihren anzunehmen bzw. ihre europäisch-westliche Orientierung zu lockern. Was die einen freuen wird, dürfte die anderen ärgern: die Annäherung von miteinander als verwandt angesehenen kritischen Praktiken, die womöglich unvereinbare Positionen – die europäische Kritiktradition einerseits und das dekoloniale Denken andererseits – zusammenbringt und damit ihre jeweils spezifischen emanzipatorischen Potenziale vereinheitlicht.

In jedem Fall setzt Daniel Loick neue Maßstäbe in der Adaption dekolonialer und queer-feministischer Forschungen beziehungsweise in der Erschließung ganzer Diskursfelder. Seine Ausführungen sind klar strukturiert und gut verständlich, nicht unangenehm akademisch und trotzdem dicht und konzentriert. Er beginnt bei Hegel, indem er die Verhältnisse zwischen „Herrschaft und Knechtschaft“ mit der „Überlegenheit der Unterlegenen“ interpretiert. Nicht nur sind die Knechte als Arbeiter*innen den Herren (oder Kapitalist*innen) überlegen – auch seitens der Beherrschten finden sich alle möglichen subalternen Gruppen, die den geltenden (kolonialen, patriarchalen, binär-geschlechtlichen, heterosexuellen, ableistischen usw.) Normen nicht entsprechen. Trotz ihrer gesellschaftlich unterlegenen Stellung verfügen sie über normative, epistemische, affektive und ästhetische Vorteile, wie Loick beharrlich und unter Verwendung eines beeindruckenden Textmaterials herausarbeitet: von Frantz Fanon zu Sara Ahmed und Fred Moten, von James Baldwin zu Audre Lorde und bell hooks, von Michael Warner zu Lauren Berlant und Saidiya Hartman.

Wie aber kann das Unterlegene zugleich überlegen sein, die Schwachen stark? Findet hier eine romantisierende Verklärung der Verhältnisse statt? Loick zielt darauf ab, dass sozial Unterlegene, wenn sie sich in Gegengemeinschaften politisieren, aufgrund ihrer spezifischen Erfahrungen mehr über ein gutes (nicht herrschaftlich geprägtes) Leben wissen. Privilegierte wissen eben gerade nichts darüber, wie ihre Privilegien auf Nicht-Privilegierte wirken. Wie zum Beispiel Linda M. Alcoff erläutert, haben unterdrückte Gruppen in der Regel nur wenig Interesse daran, eine epistemische Ignoranz zu kultivieren, weil sie über keine Privilegien verfügen, die sie vor sich verheimlichen müssten. Die Überlegenheit der Unterlegenen ist damit zugleich eine andere Überlegenheit. Immer wieder wird betont, dass die Gegengemeinschaften – unterdrückte, ausgeschlossene, marginalisierte Gruppen – in ihren Kämpfen an ihrer „anti-assimilatorischen Perspektive“ festhalten. Sie bleiben in einer Gegenposition. Die idealistische Geschichtsphilosophie, die allen die Freiheit verspricht und niemanden exkludiert, ist offenbar eine Illusion.

Dennoch ist nicht ganz ersichtlich, wie die Gegengemeinschaften ihre antagonistische Stellung universalisieren wollen. In der von Loick vertretenen „abolitionistischen Stoßrichtung“ klingt weiterhin Hegels Versöhnungsgedanke der Aufhebung durch: nicht nur die Abschaffung von Sklaverei und Gefängnissen, sondern die Abschaffung einer Gesellschaft, in der Sklaverei und Gefängnisse möglich sind. Hier könnte die Frage aufgeworfen werden, wie genau sich die Gegennormativität (der Gegengemeinschaften) von der normativen Struktur des Sittlichen unterscheidet, wenn zwar Hegels Familie, Eigentum und Staat zurückgewiesen werden, nicht aber das Wahre, Schöne und Gute, das noch immer die wirkliche Überlegenheit definiert?

Wie Daniel Loick schreibt, ist der Held seines Buchs der Maulwurf. Wir kennen ihn von Hegel und von Marx als Fabeltier der Weltgeschichte, das unterirdisch gräbt und plötzlich eintretende Umbrüche oder Umwälzungen verursacht. Mit dem Maulwurf fabulieren könnte bedeuten, nicht nur im Untergrund zu wühlen, sondern auch im Untergrund zu bleiben. Seine aufgeworfenen Hügel sind unzählig. Die Umstrukturierung der materiell-diskursiven Verhältnisse, die in den kämpferischen Praktiken von Gegengemeinschaften errungen wird, ist stets transitorisch und prekär. Sie erfolgt nicht länger nach fortschrittslogischen Prämissen und kann ihre situativen Beziehungen gerade nicht insgesamt transzendieren. Für Hegel, Marx & Co. wäre dieses Resultat vielleicht enttäuschend. Aber viele von uns heute setzen wie Loick auf die Potenziale partialer Zusammenschlüsse.

Daniel Loick, Die Überlegenheit der Unterlegenen. Eine Theorie der Gegengemeinschaften, Berlin: Suhrkamp Verlag, 2024, 297 Seiten.

Marc Rölli ist Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) / Academy of Fine Arts Leipzig. Seine neuesten Publikationen sind Kosmopolitismus und Rassismus (Wien: Turia + Kant, 2024) und Fabulieren. Zehn Essays und ein Exkurs zu Kunst, Philosophie und Kritik, (Frankfurt/M: Campus, 2024).

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