Cookie Warnung
Für statistische Zwecke und um bestmögliche Funktionalität zu bieten, speichert diese Website Cookies auf Ihrem Gerät. Das Speichern von Cookies kann in den Browser-Einstellungen deaktiviert werden. Wenn Sie die Website weiter nutzen, stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Akzeptieren

Muttersprachen Michaela Melián über Hélène Cixous’ „Meine Homère ist tot …“

Hélène Cixous und Peter Engelmann, Passagen Verlag

Hélène Cixous und Peter Engelmann, Passagen Verlag

Vier Jahre lang hat die französische Schriftstellerin und Philosophin Hélène Cixous das Sterben ihrer Mutter Eve begleitet. Diesen qualvollen wie berührenden Prozess, in dem die Tochter zur Mutter des 103 Jahre alten Kindes wird, hat Cixous schreibend nachvollzogen und mit Notizen der Mutter aus deren Ausbildungszeit zur Hebamme verknüpft. Das Ergebnis ist nicht nur eine einfühlsame Chronik des langsamen Abschieds von der eigenen Mutter. Es ist auch ein leidenschaftliches Spiel mit den verschiedenen Stimmen der Frauen einer jüdischen Familie. Im Wiener Passagen Verlag liegt nun die deutsche Übersetzung dieser Odyssee des Sterbens vor, deren Klangspuren die Künstlerin und Musikerin Michaela Melián nachgeht.

Eve Cixous stirbt am 1. Juli 2013 mit 103 Jahren. Vier Jahre lang wurde sie von ihrer Tochter, der französischen Schriftstellerin und Philosophin Hélène Cixous, bei ihrem langsamen und qualvollen Aus-der-Welt-Gehen begleitet. Drei Hefte hat Hélène Cixous in diesem Zeitraum mitgeschrieben. Homère est morte … (so lautet der Titel der französischen Originalausgabe) ist eine Reise, die Eve und Hélène zusammen durchleben und aufschreiben. „Ich schreibe, um mich an dir zu trösten. Ich schreibe durch dich, ich schreibe, was du mir schreibst, du schreibst mir, du schreibst mich …“ [1] , notiert Hélène gleichsam mit der Hand der Mutter. Diese Mitschriften verschmilzt Cixous in der Homère mit Aufzeichnungen der Mutter aus deren Ausbildungszeit zur Hebamme. Texte über eine Geburt ohne Schmerzen verbinden sich so mit dem langen, schmerzvollen Abschied zu einer großen Erzählung. Von der beherzten Hebamme bleibt am Ende nur die Kraft der Hände, die der Tochter sprichwörtlich den Kopf beim Verfertigen der Gedanken halten und die Hand beim Niederschreiben des Textes führen. „Wenn Eve scheidet, muss, unter Rückstellung aller anderen Dringlichkeiten, ihr Buch geschrieben werden.“ [2]

Hélène Cixous’ Homère est morte … wird 2014 von Éditions Galilée in Paris veröffentlicht, 2019 legt es der Wiener Passagen Verlag in der Übersetzung von Claudia Simma mit dem deutschen Titel Meine Homère ist tot … vor. Der Homère waren 2017/2018 Osnabrück [3] , 2018 Osnabrück Hauptbahnhof nach Jerusalem [4] und 2019 Eine deutsche Autobiographie (zusammen mit Cécile Wajsbrot) vorausgegangen. All diese Texte kreisen zentral um Hélènes Mutter Eve Cixous, um ihr Leben und Überleben, ihr Sprechen und Handeln. Es ist ein eine Aufzeichnung der Existenz von Eve, der Zeitzeugin des 20. Jahrhunderts, „die in Europa gelebt hat, vierhundert Jahre nach Shakespeare, ungefähr zur Zeit Kafkas und des Mobiltelefons“ [5] . Die Mutter wird in diesen vier Abschiedsjahren zum alten Baby, die Tochter zur Mutter, zur Omi, zur Ahnin, und so spinnt sich damit auch die Geschichte der Vorfahrinnen weiter. Eve Cixous kommt aus Osnabrück, dort ist sie als Eva Klein aufgewachsen. Ihre Mutter – Hélènes Omi – heißt Rosi Klein, geborene Jonas, und deren Mutter – Hélènes Urgroßmutter – Helene Jonas, geborene Meyer: alle aus Osnabrück. Von dort entkamen Eve und ihre Schwester Eri in den 1930er Jahren, im Gegensatz zu vielen weiteren Familienmitgliedern, die in den Lagern starben. Meine Homère ist tot … ist eine Odyssee des Sterbens, in der Eve in ihrem medizinischen Pflegebett, ihrer gemieteten Barke, an den Ufern des Lebens entlanggleitet und darauf wartet, auf die andere Seite zu gelangen. Die Sterbende hält den Tod (la mort) mit Riesenkräften auf. Tochter und Mutter teilen diese Reise in einer geweiteten Zeit, in einem rasenden Stillstand.

Diese Irrfahrt ist in zahlreiche Kapitel und Abschnitte unterteilt. Sie beginnt nach dem Sterben der Mutter, springt vor und zurück in der Zeit und endet mit dem Tod der Mutter, wenn die Tochter den Mund (nicht die Augen) der Mutter mit einem Kuss schließt. Hélène Cixous versiegelt Eves Lippen mit einem letzten Kuss – nach dem Sprechen, nach dem Aushauchen. Die einzelnen Kapitel der Homère sind Gesänge in verschiedenen Tonlagen und Rhythmen, Rezitative, die „traurig traurig nur den Rhythmus der Qual auffangen“ [6] . Fragmentierte Textteile stehen nebeneinander, immer wieder unterbrochen durch einfache oder doppelte Leerzeilen, wie Atempausen. Typografische Entscheidungen markieren die einzelnen Aufschreibeverfahren. Verbindendes Element ist die Sprache, die ihren Ursprung im Mündlichen hat, in der Muttersprache, im Osnabrücker Platt/Jiddischen (Cixous bezeichnet das Französische als ihre Lieblingsfremdsprache), im Familiären. Worte und Redewendungen reihen sich homophon und alliterativ auf, quer durch die in der Familie gesprochenen Sprachen, werden oft auch in einer Cixous’schen Lautschrift notiert. Kalauer stehen ebenbürtig neben Poesie und Chorälen, ganze Satzteile verschmelzen und strömen ohne Satzzeichen, fließen und mäandern assoziativ dahin. Wenn man das Buch aufschlägt, sieht man eine auf dem Frontispiz vor Cixous’ Prolog abgebildete kalligrafische Tuschezeichnung von Pierre Alechinsky, die bereits den Ton für den kommenden Text setzt: eine Art Geister- oder Totenkopf, gebildet aus den Buchstaben ÇaVa. Geht’s? – Es geht. – Wie geht’s? – Ja, es geht schon. Es empfiehlt sich, das Nachwort der Übersetzerin Claudia Simma zu lesen, bevor man mit dem Prolog zur Homère beginnt. Simma erläutert die Vorgehensweise ihrer Übertragung; die Verluste, die sich einstellen beim Übersetzen: Cixous’ Amalgamieren der französischen und deutschen Wörter, das mündliche Verschleifen und die Vielstimmigkeit des Textes. Claudia Simma hat hier eine wunderbare Übertragung und Interpretation geschaffen, vielleicht in der Art, wie eine Stimme eine Partitur neu zum Klingen bringen kann.

Als Homère wird die Mutter zum weiblichen Gegenpart des Homer (der sich im Französischen auch Homère schreibt). Französisch ausgesprochen, klingt Homère gleich wie Oh, mère, wie eine Anrufung also der toten Mutter, und auch der homme schwingt hier noch mit. Cixous’ Homère ist indes weiblich. Sie ist es, die das Sprechen und Schreiben in die Welt bringt: Eine éctriture féminine, die uns mit den Ohren lesen lässt. Aufschreiben ist Aufzeichnen, und so werden immer, wenn im deutschen Text die Geschlechtlichkeit der französischen Wörter verloren geht, in den Text kleine grafische Zeichen eingefügt. Es sind gezeichnete Tränen, ein Traueralphabet. Drei dieser Tränen ersetzen im deutschen Titel Meine Homère ist tot … die Punkte. Ich habe 36 verschiedene Tränenformen gezählt, hineingetropft in den Text – mal wie winzige Vogelspuren oder kleine Körperkürzel, mal buchstabenartig. So wird auf ganz eigene außersprachliche Weise das musikalisch-poetische Sprachgewebe des Französischen (aber auch des Deutschen/Jiddischen und Englischen) zwischen Mutter und Tochter übersetzt – immer da, wo das Deutsche keine geschlechtersensiblen Klänge bereitstellen kann.

Cixous sagt „Allemagne“, sagt „Deutschlande“ auf „Französisch“, denn ihre Mutter („Maman“) und Großmutter („Omi“) zogen es vor, „auf Französisch deutsch zu sprechen“, und so „ging das Französische als Deutsch durch und das Deutsche strömte ins Französische“. [7] Die überlieferte Sprache: Deutsch/Jiddisch. Jiddisch, auch als „Frauendeutsch“ benannt, weil die weltliche Überlieferung im Judentum durch die jiddische Sprache der Frauen weitergegeben wurde. [8] Cixous bezeichnet die mehrsprachige Kindheit als ein Riesenvergnügen, die deutsch-französischen Erweiterungen und Pfropfungen als Urszene des Genießens, als ein Ins-Restaurant-der-Wörter-Gehen: „Zwei zu sein, zu zweit zu sein, … nicht in der Zelle des Eigenen, des Nationalen eingeschlossen zu sein, über alle Transportmittel zu verfügen, nach Lust und Laune über die Ufer zu treten. Wonne sich mühelos zu fremden.“ [9] Mit dem fortschreitenden körperlichen Verfall wechselt Eve die Sprache, vom Französischen und Deutschen hinüber ins Englische. „Im Land aus dem kein Reisender je wiederkehrt spricht Eve Englisch.“ [10] Englisch als Sprache der Abreise und Emigration, als Sprache in der Fremde. „Toolate! Toolate! Toolate! … Goodnight!“ [11]

Meine Homère ist tot … handelt vom Berühren mit und Überleben durch Sprache. Die Metamorphose, das nackte Elend des sterbenden Körpers der Mutter wird, im geteilten Sprechen der Sprachen durchlebt und aufgeschrieben. „Alles was wir wollten: Unsere Stimmen ineinander verschlingen.“ [12] Mit Wörtern wird – avant la lettre – musiziert, Wörter verfangen sich ineinander, sie bilden eine Klangspur. Eve spricht und liest Deutsch, Französisch, Englisch, Spanisch, Hebräisch, Jiddisch, sie wechselt spielerisch zwischen den Sprachen und überschreitet damit bewusst die Grenzen des Nationalen. Sein zwischen den Sprachen und mit den Sprachen. Die Mutter Eve, in ihrer Barke für immer, erfindet für ihre Tochter Hélène „ein Sterben, das ein Bleiben ist.“ [13]

Michaela Melián ist Künstlerin, Musikerin und Professorin an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, sie lebt in Hamburg und München.

Image credit: Passagen Verlag, Wien

Anmerkungen

[1]Hélène Cixous, Meine Homère ist tot …, übersetzt von Claudia Simma, Wien 2019, S. 26.
[2]Ebd., S. 127.
[3]Hélène Cixous, Osnabrück, übersetzt von Esther von der Osten, Wien 2017.
[4]Dies., Osnabrück Hauptbahnhof nach Jerusalem, übersetzt von Esther von der Osten, Wien 2018.
[5]Cixous, Homère, S. 54.
[6]Ebd., S. 67.
[7]Hélène Cixous/Cécile Wajsbrot, Eine deutsche Autobiographie, übersetzt von Esther von der Osten, Wien 2019, S. 22.
[8]Jiddisch war auch die Muttersprache der Frauenrechtlerin und Freud-Patientin Bertha Pappenheim, die sich während ihrer „hysterischen Erkrankung“ nur noch auf Englisch oder Französisch verständigen konnte und während ihrer ärztlichen Behandlung (die als Fall der Anna O. in die Wissenschaftsgeschichte einging) herausfand, dass die Symptome ihrer Erkrankung verschwanden, sobald sie diese Symptome beschrieb. Sie nannte dieses Verfahren „talking cure“. Später, 1910, hat Pappenheim die Memoiren von Glikl bas Judah Leib (1647–1724), die die erste erhaltene Autobiografie einer Frau in Deutschland und ein bedeutendes Werk der jiddischen weiblichen Literatur darstellen, ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht.
[9]Cixous/Wajsbrot, Eine deutsche Autobiographie, S. 22.
[10]Cixous, Homère, S. 79.
[11]Ebd., S. 100f.
[12]Ebd., S. 142.
[13]Ebd., S. 4.