ÜBER NEUES MATERIAL DER KONZEPTKUNST MICHAEL ROTTMANN ÜBER CHRISTIAN BERGERS „CONCEPTUALISM AND MATERIALITY. MATTERS OF ART AND POLITICS“
Das Verhältnis von Kunst und Material besitzt – nicht erst unter dem Eindruck des Digitalen – große Relevanz. Es impliziert unter anderem ästhetische, medientheoretische, ontologische, ökonomische, ökologische sowie politische Fragen. Ein Spannungsverhältnis zum Material (zuvorderst im Sinne des Stoffs eines Werks) wird gemeinhin der Konzeptkunst zugeschrieben, wobei die Betonung der (künstlerischen) Idee – ein Topos – als Materialkritik aufgefasst wird. [1] Debattiert wurde und wird hierbei insbesondere, ob Material eine Voraussetzung für Kunst und dessen Transformation eine originäre Aufgabe von Kunstschaffenden ist. Diesem Themenfeld widmet sich der reichhaltige, anspruchsvolle und aufschlussreiche englischsprachige Konferenzband Conceptualism and Materiality. Matters of Art and Politics (2019). Dreh- und Angelpunkt ist die einflussreiche und umstrittene Diagnose einer „Dematerialisierung der Kunst“ [2] (1968) von Lucy Lippard und John Chandler – es war einst gar von einem „Mythos“ [3] die Rede.
Es ist gut, dass der Herausgeber des Bands, Christian Berger, diese Diagnose in seinem einleitenden Beitrag auffächert, indem er für den Untersuchungszeitraum 1966 bis 1972 eine (Vor-)Geschichte skizziert und die Materialaffinität diverser Protagonist*innen dieser Zeit differenziert: So besaßen, wie Berger feststellt, auch idealistisch-sprachorientierte Positionen (etwa Joseph Kosuth und Art & Language) – mit denen Konzeptkunst in der Forschungsliteratur teilweise gleichgesetzt wird – ein Bewusstsein für Material und unterhielten andere Akteure (wie z. B. Mel Bochner, Sol LeWitt, Douglas Huebler, Robert Barry und Lawrence Weiner) ohnehin eine unkomplizierte Beziehung zum Material. Weniger bekannt war, dass seit der Moderne von „Dematerialisierungen“ (28ff.) die Rede ist (u.a. bei Wassily Kandinsky und Medardo Rosso) und eine Linie zur Musik (John Cage) existiert. Wünschenswert und der Buchthematik zuträglich gewesen wären weiterführende, systematischere Überlegungen zum Materialbegriff sowie Materialanalysen zu den angeführten Fallbeispielen.
In den ersten beiden Kapiteln, „Intangible Materials“ und „Language as Material“, werden die ‚immateriellen‘ Materialien Luft, Antimaterie, Licht/Schatten und Sprache behandelt, die es naheleg(t)en, mit Dematerialisierung in Verbindung gebracht zu werden. Dass mit der Rezeption von Antimaterie vielmehr eine Aktualisierung des Verhältnisses von Kunst, Material und Wirklichkeit verfolgt wurde, zeigt Larisa Dryansky. En passant und implizit erinnert ihr Beitrag, der etliche Material- und Materiebegriffe einführt, daran, dass Materie wegen ihrer fehlenden „Gebrauchsbestimmtheit“ [4] selbst kein Material ist, dass dagegen ein physikalisches Konzept (wie Antimaterie), obwohl nicht stofflich, künstlerisches Material sein kann. Seit der Moderne war Antimaterie zur Trope des Austauschs, Flüchtigen oder Anti-Ökonomischen (beispielsweise bei Giuseppe Pinot-Gallizio, Yves Klein und Piero Manzoni) avanciert. Der Konzeptkunst – zu der Dryansky gern hätte mehr schreiben können – erlaubte Antimaterie, Substanz und Form (Mel Bochner, Robert Smithson [5] ) nicht mehr über Energie und Strahlung (Terry Atkinson, Robert Barry) – in der Tradition einer „vibrierenden Moderne“ [6] (123) – sowie Erinnerung und (Umkehr-) Zeit zu behandeln (John Latham).
Klingt bei Dryansky die Relevanz des politischen Kontexts für das Verhältnis von Kunst und Material an, so ist dieser für Magdalena Moskalewicz ein spezifischer und zentraler Aspekt, um das Gefüge von künstlerischen De- und Materialisierungen im Polen der 1960er Jahre zu verstehen. In ihrem Beitrag – der von einem dualistischen Denken durchdrungen wirkt, wenn Sehen und Denken gegeneinander- und Wissenschaft mit Geist sowie Kunst mit Material gleichgesetzt werden [7] – legt sie dar, dass gewisse Bestrebungen im Staatskommunismus eine Materialaffinität der Kunst beförderten. Dazu würde sich die auf der Grundlage von physikalischen Formeln Licht und Schatten erzeugende, von der Malerei ausgehende Serie von Objekten Jan Chwalczyks – die an Dan Flavin, James Turrell und ZERO erinnert – mit ihrer Tendenz zur Objektivierung, Verwissenschaftlichung und Immaterialität (zurecht wird der paradox große Materialeinsatz von Moskalewicz benannt) verhalten. Auch der spätere Verzicht der Ausführung der Objekte zugunsten der Formeln, die so zu Metaphern einer „(diktierten) Dematerialisierung“ (114) würden, und Diagrammen stehe in Korrespondenz.
Sabeth Buchmann führt im Kapitel „Language as Material“ vor, dass Sprache nicht bloß ein ‚ideales‘ Material ist, weil es oftmals aus der Beschäftigung mit Materialität hervorgeht und diejenige der Sprache exponiert – das ist bekannt. Vielmehr könne für den sprachlich orientierten Zweig, dem Dematerialisierung zugesprochen wird, im Anschluss an Gilles Deleuze ein „differentielles Konzept von Materialität“ (166) als ein vibrierendes, sich stets transformierendes und aktualisierendes Prinzip mit einer nicht am Körperlichen ausgerichteten Beschaffenheit gedacht werden. Exemplifizieren würden dies Lawrence Weiners Werkserien Statements, die eine wiederholte Transformation in andere Materialien ermöglichten, sowie Removals, welche – ähnlich wie Carl Andres Schnitte im Raum – zwischen Un- und Körperlichkeit oszillierten. Als ein plausibles Fundament dienten Theorien, die Sprachkunst und Computertechnik über die energetischen, variablen Zustände von Programmen in Analogie setzten und eine neue, durch endlose Transformationsmöglichkeiten bestimmte Materialität von Sprache im Digitalen und Kunst als Materialisierung von Codes ausmachten.
Das Kapitel „Materials of Communication“ nimmt Material als Infrastruktur in den Blick. Mit seiner Analyse des transnationalen Gebrauchs des Fernschreibers in Nord- und Südamerika (Marta Minujín, Roberto Jacoby, David Lamelas, Hans Haacke) bearbeitet Niko Vicario einen blinden Fleck der Dematerialisierung: So überführe diese Informationstechnologie nicht bloß Objekte in Information, sondern stelle als Fernmedium auch ein Material der Vernetzung, Kommunikation und Zirkulation mit soziopolitischen Effekten dar. Bei aller Kritik am Gebrauch von Technologien ermöglichten sie nicht bloß eine zeitgemäße Aktualisierung von Kunst, sondern auch eine Ermächtigung und Emanzipation, so Vicario – etwa durch das ‚Einklinken‘ in ein Diskurs-Netzwerk von Hotspots wie New York. Vicario zeigt zudem auf, dass die behandelten Künstler*innen (auch Waldemar Cordeiro und Cildo Meireles) über die Aneignung und den subversiven Gebrauch wie das Schaffen von Gegendiskursen (etwa zur Nachrichtenlage) nicht zuletzt die materielle Grundlage von Dispositiven der Massenmedien, Arbeitswelt, Ökonomie und (Kriegs-)Politik herausstellten.
Im Rahmen des letzten Kapitels, das zeigen will, dass Konzeptkunst auch mit Gefühlen und Affekten verbunden sein kann, schlägt Luiza Nader gut nachvollziehbar am Beispiel des performativen Letters of Milan (1972) von Zofia Kulik und mit Verweis auf die Neuropsychologie vor, dass nur eine Konzeptkunst, die über Sprache und Emotionen wirke, ansprechend, adäquat und anregend sein könne.
Zusammengenommen stellen die allesamt lesenswerten elf Beiträge eher ungewöhnliche Materialien der Konzeptkunst vor und zeigen, an eine von Anbeginn schwelende Debatte anknüpfend, komplexe Beziehungsgefüge zwischen Konzeptkünsten und Materialien sowie diesbezügliche politische Dimensionen auf. Es ist dabei eine Stärke des Buchs, dass es den Materialbegriff breit denkt und einen oftmals auf Nordamerika und Westeuropa bezogenen Diskurs um weitere Vorgänge in Argentinien, Brasilien, Japan und Polen erweitert und an (aktuelle) Theorien der Materialität und Digitalität anschließt. So kann Dematerialisierung im Speziellen als Vermittlung von Ideen – gleichsam des Internets – über Informationstechnologien bestimmt werden. Ob die Materialperspektive jedoch geeignet ist, um – wie vom Herausgeber angesprochen – einen „global conceptualism“ (15, 34) zu bekräftigen, sei dahingestellt, was zudem quer zu der im Buch vorgenommenen Differenzierung der (nationalen) Konzeptkünste liegt. Wenig berücksichtigt und nur vereinzelt angesprochen bleiben das Diagramm als Umschlagplatz von Dematerialisierung in der historischen Conceptual Art und die Mathematik als Bezugsfeld für eine Auseinandersetzung mit Materialität – man denke nicht zuletzt an Henry Flynts Charakterisierung seiner Concept Art. [8]
Für die weitere Forschung bildet das Buch jedenfalls eine gute Ausgangsbasis, auch weil es viele Anschlüsse bietet. Reaktiviert wird insbesondere die von einer angenommenen größeren Wertschätzung theoretischer Positionen in der Kunst seitens der Kunstgeschichte (Buchmann spricht es im Anschluss an Pamela Lee an) flankierte Frage nach der zukünftigen Kunstförmigkeit und Materialkompetenz. [9] Gerade in Anbetracht des aktuell vorherrschenden Spannungsverhältnisses zwischen dem gesellschaftlichen Wunsch nach einer nachhaltigen, reduktiven Kultur und einem warenförmigen kapitalistischen Kunstmarkt darf man gespannt sein, wie sich Kunst und Material zueinander verhalten werden.
Christian Berger (Hg.), Conceptualism and Materiality. Matters of Art and Politics, Amsterdam: Brill Verlag, 2019; erschienen als 2. Band der Reihe Studies in Art & Materiality, Festeinband, 326 S., farbige Abbildungen.
Michael Rottmann ist Senior Researcher am Institut für Experimentelle Design- und Medienkulturen an der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW Basel und leitet dort ein SNF-Forschungsprojekt zu Maschinenkünsten.
Anmerkungen
[1] | Vgl. etwa Alexander Alberro, „Reconsidering Conceptual Art, 1966–1977“, in: Ders./Blake Stimson (Hg.), Conceptual Art: A Critical Anthology, Cambridge 1999, S. XVI–XXXVII. |
[2] | Lucy R. Lippard/John Chandler, „The Dematerialization of Art“, in: Art International, 12/2, S. 31–36. |
[3] | Vgl. Frances Colpitt, „The Formalist Connection and Originary Myths of Conceptual Art“, in: Michael Corris, Conceptual Art: Theory, Myth, and Practice, Cambridge u. a. 2004, S. 28–49. |
[4] | Vgl. Gregor Stemmrich, „Zwischen Materie und Material. Zur Kunst Lawrence Weiners“, in: Kunstverein Ruhr (Hg.), Lawrence Weiner, Essen 2003, S. 33–39. |
[5] | Sein Schaffen ist für die Buchthematik von großer Bedeutung: Wegen der Überschreitungen althergebrachter künstlerischer Medien sowie der analytischen Konzeptkunst als „postconceptual art“ aufgefasst, wird in seiner Kunst, insbesondere bezüglich der site/non-site-Dialektik, eine Differenzierung von Ontologien des Materiellen ausgemacht. Vgl. Peter Osborne, Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art, London/New York 2013, S. 99ff. |
[6] | Vgl. Linda Dalrymple-Henderson, „Vibratory Modernism: Boccioni, Kupka, and the Ether of Space“, in: Bruce Clarke/Dies. (Hg.), From Energy to Information. Representation in Science and Technology, Art, and Literature, Stanford 2002, S. 126–149, 390–397. |
[7] | Schon in den 1960er Jahren wurden Sehen und Denken etwa bei Rudolf Arnheim als ein Zusammenspiel gedacht. Die von Bruno Latour oder Hans-Jörg Rheinberger verfolgten Wissenschaftstheorien betonen die Rolle des Materials. |
[8] | Vgl. Michael Rottmann, Gestaltete Mathematik. Geometrien, Zahlen und Diagramme in der Kunst in New York um 1960. Mel Bochner – Donald Judd – Sol LeWitt – Ruth Vollmer, München 2020, insbesondere S. 197ff., S. 295. |
[9] | Vgl. auch Rosalind Krauss, „Der Tod der Fachkenntnisse und Kunstfertigkeiten“, in: Texte zur Kunst, 20, 1995, S. 61–68. |