PANAFRIKANISMUS MITTELS KINOKULTUR? Michaela Ott über „Kizobazoba! Das Cinema Spaces Network“ im Humboldt Forum, Berlin
Einen Rollkoffer zieht die junge Senegalesin hinter sich her, als sie das ländliche Heim Richtung Dakar verlässt, um dort Neurologie zu studieren. Sie flieht die Kampfzone zwischen Vater und Onkel, den brüderlichen Zwist zwischen Imam und Dorfvorsteher, zwischen spiritueller und politisch-ökonomischer Macht. Den Verlust ihres Verlobten, Opfer der aus dieser Situation erwachsenden Gewalttätigkeit, münzt sie in Autonomiestreben um. Und tritt damit das Erbe der Großmutter an, die zu Lebzeiten die Kampfhähne qua Autorität zu bannen verstand.
In dem senegalesischen Spielfilm Baamum Nafi (Nafi’s Father, 2019) des Regisseurs Mamadou Dia werden ideologisch-ökonomische Konflikte eines heutigen Dorflebens, wohltuend selbstreflexiv und ohne exotisierendes Beiwerk, in Szene gesetzt: korrupte Machenschaften in der Moschee versus skrupulöse Beachtung der Bestattungspraktiken, traditionelle Amtsübernahme versus Bildungsaufstieg, Einordnung in die Ehe versus selbstbestimmtes Leben als Frau, die in die Welt aufbricht.
Die emanzipatorische und antimachistische Note des Films ist es indes nicht allein, die ihn zum Eröffnungsfilm der Cinema-Spaces-Network-Veranstaltungsreihe „Kizobazoba“ im Berliner Humboldt Forum privilegierte. Wie der Produzent Berni Goldblat erklärte, habe er ihn nicht ob seiner Oscar-Nominierung von 2021, sondern ob seiner unabhängigen Produktionsweise und inszenatorischen Unbeirrbarkeit als wegweisend für das Vorhaben der Wiederbelebung eines afrikanischen Kinos gewählt.
Dorothee Wenner, Afrikaspezialistin des Forum-Programms der Berlinale, präsentierte diese Initiative, die das Humboldt Forum gemeinsam mit sieben afrikanischen Kino-Netzwerken gestartet hat, höchst engagiert und vielsprachig gewandt. Sie stellte Fragen wie: Was kann Kino im Jahr 2022 überhaupt sein? Welche sozialen Funktionen könnte der Kinoraum heute übernehmen? Welche Initiativen kümmern sich um die Wiederbelebung der Kinokultur? Wie kann diese finanziert werden, mit wenig Geld, unter Bedingungen von Stromausfällen und mangelndem Internetzugang – in Kinshasa, Khartum, dem südafrikanischen Eastern Cape, im kenianischen Pop-up-Kino am Lake Elementaita oder in Burkina Fasos Kulturmetropole Bobo-Dioulasso?
Zahlreiche jugendliche Aktivist*innen aus diesen Ländern, unter anderen das Nest Collective (Njoki Ngumi) und die Manyatta Screenings (Fibby Kiora und Hawa Essuman) aus Kenia, erzählten von ihren Hoffnungen und ihrem unermüdlichen Engagement, sei es, um Kinosäle wiederaufzubauen oder bewegliche Projektionen zu garantieren; sei es, um alte Traditionen der Filmkommentierung neu zu beleben oder Kurzfilmprogramme in die ländlichen Regionen Kenias zu tragen. Mit ihnen erfuhr das Humboldt Forum eine seinem Namensgeber gemäße kulturkontroverse Aufmischung: Das Lingala-Idiom „Kizobazoba“ krönte die Veranstaltungsreihe und besagt: „Mach das Beste aus dem, was es gibt!“
Dieses Motto könnte auch über dem vorgeführten kongolesischen Kultfilm La vie est belle (1987) von Mwezé Ngangura und Benoît Lamy stehen, der die extremen sozialen Gegensätze des Lebens in Kinshasa in einen musikalisch-komödiantischen Reigen versetzt. Sexuelle Kabalen und Übergriffe zwischen Protagonist*innen verschiedener Klassen, einem Mercedesbesitzer und der mittellosen Kabibi, aber auch zwischen dessen Ehefrau und einem Angestellten verflechten sich in rasantem Rhythmus zu Szenen ironisierten Potenzgehabes, aber auch schlau-subversiven Ränkespiels.
Im Zentrum des Kreisels steht der Musiker Kouron, gespielt von dem Publikumsliebling Papa Wemba, der, auf der Suche nach Gigs in die Hauptstadt trampend, das etablierte Hasch-mich-Spiel mit gesanglichem Swing befeuert. Selbst zwischen Höhenflügen und Selbstmordabsichten schwankend, gelingt ihm schließlich der große Auftritt, sodass er Kabibi aus den Fängen des Mercedesfahrers befreien kann und sie Leadsängerin wird. Tempo und Musik lassen die soziale Entwürdigung vergessen und laden Zuschauer*innen jeglichen Alters und aller sozialen Schichten zum Triumph der Underdogs ein.
Nicht weniger einsatzbereit zeigte sich Tshoper Kabambi, kongolesischer Aktivist der Cine-na-Biso-Initiative, der zusammen mit anderen eine Kinoinitiative in Kinshasa gestartet hat, „mit nichts“, wie er mehrfach betonte. Seine Cine-Lecture unter dem Motto „Light in the heart of darkness“ tritt an, das koloniale Modell von Joseph Conrad umzuwerten und der Tatsache, dass es in der Demokratischen Republik Kongo nur drei oder vier Kinosäle gibt, mit einem Filmfestival, dem Bau kleiner Kinologen, und regelmäßigen Vorführungen von Filmen zu begegnen, die in Afrika entstanden sind und nicht auf das europäische Publikum schielen.
Als ein solcher Film wurde der kenianische Spielfilm Kati Kati (2016) von Mbithi Masya präsentiert, unter anderem mit deutschem Geld und der Expertise von Tom Tykwer und Marie Steinmann produziert. Aber anstatt die Zone zwischen Leben und Tod und die Übergänge zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem auszuloten und als audiovisuelle Herausforderung zu begreifen, entfaltet sich das filmische Rätselspiel in einem Safari-Ambiente, wo Nichtvorhersehbarkeit und Verstörung behauptet, de facto aber Kleider gewechselt, starke Alkoholika getrunken und irdische Affekte weiter ausgelebt werden.
Ein sich ernsthaft auf die Wiederbelebung des Kinogeschehens konzentrierender und ihr Scheitern melancholisch kommentierender Film war der sudanesische Beitrag Talking about trees von Suhaib Gasmelbari, der 2019 zu Recht den Berlinale-Publikumspreis gewann. Nicht nur soll das Gebäude eines ehemaligen Kinos in Khartum instandgesetzt, sondern mit ihm auch die Geschichte des sudanesischen Films erneut zugänglich gemacht werden.
Fünf ältere Mitglieder des Filmclubs erzählen von ihrer Ausbildung in Moskau, zeigen Ausschnitte aus ihren einst gedrehten Filmen und kämpfen um die behördliche Zulassung der Spielstätte. Sie wird ihnen verwehrt mit dem Argument, dass an diesem Ort zu viele Personen zusammenkämen: eben das, was jede repressive Regierung fürchtet. In seinem Vortrag berichtete Mohamed Awad (von der sudanesischen Filmassoziation) über den unerschrockenen dokumentarischen Beitrag sudanesischer Filmemacher zum Sturz der Militärdiktatur al-Bashirs.
Aus eben diesen zivilgesellschaftlichen Gründen verschreibt sich das Netzwerk der Kinoräume der Wiederbelebung des Kinogeschehens mit erfinderischen, wenn auch begrenzten Mitteln. Anstelle des Baobab-Baums soll nun der Kinosaal oder die transportable Kinoprojektion etwa des Sunshine Cinema (vertreten von Sydelle Smith) aus Südafrika der Austragung gesellschaftlicher Konflikte und zeitgemäßer Selbstverständnisse zuarbeiten – im Dienste des Widerstands auch gegen Extremismus und Autokratie. Dabei werden die unterschiedlichen Erwartungshaltungen des Publikums und die Sitten-Kodizes durchaus berücksichtigt, wenn etwa in Simbabwe eine LGBTIQ+-Thematik nicht gezeigt werden darf. Dass eine Entwicklung hin zu Diversity-Diskussionen und dialogischem Storytelling schwierig ist, wurde immer wieder unterstrichen.
Für den Wiederaufbau des Ciné Guimbi in Bobo-Dioulasso (Burkina Faso) kämpft Goldblat seit zwei Jahrzehnten. Nachdem das filmische Leben unter dem Präsidenten Thomas Sankara eine Blütezeit erlebte, starb es – wie in den anderen afrikanischen Ländern – den bekannten DVD-Internet-Tod, mitbedingt durch die neoliberale Zwangsjacke von Weltbank und IWF. Nur in der Hauptstadt Ouagadougou konnten dank des FESPACO-Filmfestivals und des Drucks afrikanischer Filmemacher*innen einige Kinosäle überleben.
Nun aber kündige sich eine Medienwende an, so Goldblat: Nachdem in Kamerun vor etwa zehn Jahren das letzte Kino geschlossen wurde, eröffnet die Filmproduktionsfirma Pathé ein Kino in Dakar, freilich mit vorwiegend französischsprachigem und Blockbuster-orientiertem Programm. Dem möchten die hier versammelten Aktivist*innen das reiche lokalsprachliche Filmgeschehen entgegensetzen, von „Ambassadors“ in sogenannten sun boxes, Koffern mit Kinoausrüstung, nach Malawi oder Sambia gefahren, um das ländliche Publikum in alternative Imaginationsräume zu entführen. Als Missing Link soll das Kino die afrikanischen Länder in einem „kulturellen Aufschwung“ zusammenführen und Kontinent übergreifende Kooperationen eröffnen.
Im Hinblick darauf sollen afrikanische Produzent*innen ermächtigt und panafrikanische Netzwerke und Archive des afrikanischen Films, wie beim vorletzten FESPACO -Filmfestival beschlossen, aufgebaut werden. Dass Hilfe dabei leichter von der Berlinale als von afrikanischen Behörden zu erwarten ist, wurde mehrfach hervorgehoben. Kizobazoba!, möchte frau da rufen: Ist doch schon so viel da, um das Beste daraus zu machen und den Traum vom Trauma-befreienden gemeinsamen Kinoerlebnis zu realisieren!
„Kizobazoba! Das Cinema Spaces Network“- Filmfestival, Humboldt Forum, Berlin, 2. bis 7. März 2022.
Micheala Ott ist Professorin für ästhetische Theorien an der Hamburger Hochschule für bildende Künste (HFBK). Sie forscht zu Themen poststrukturalistischer Philosophie und Ästhetik, zu Theorien des Raums, der Affizierung und Dividuation, zu postkolonialen und komposit-kulturellen Fragestellungen und zu afrikanischer und arabischer Kunst.
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