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MODE ZWISCHEN TRAUM UND PREKARISIERTER WIRKLICHKEIT Monica Titton über „Das schönste Gewerbe der Welt: Hinter den Kulissen der Modeindustrie“ von Giulia Mensitieri

Die Identifikation mit der eigenen Arbeit ist ein Schlüsselmoment neoliberalen Wirtschaftens. Ihr zugrunde liegt die Vereinzelung der Subjekte, die zu Leistungsträger*innen eines Kapitalismus geworden sind, der von Subjektivität Mehrwert abschöpft. In kaum einem anderen gesellschaftlichen Bereich tritt dies so schonungslos zutage wie in der Modewelt. In ihrer ethnografischen Studie „Das schönste Gewerbe der Welt“, die auch als Fallstudie für die Arbeitsrealität anderer Bereiche der „creative industries“ Geltung beanspruchen kann, analysiert die Anthropologin Giulia Mensitieri die spezifischen Ausbeutungsmechanismen des globalen Fashion Business. Anlässlich der nun vorliegenden deutschen Übersetzung des Buches erörtert die Soziologin und Modetheoretikerin Monica Titton die Reichweite von Mensitieris Forschung zu den neoliberalen Rekonfigurationen der Arbeit in der Mode.

„Fashion has become a dirty word – and believe me, it hurts.“ Mit diesen Worten eröffnete die Modekolumnistin Jess Cartner-Morley am 16. September 2021 einen ernüchterten „Opinion“-Artikel im Guardian über die Dringlichkeit, Themen wie Nachhaltigkeit, Ausbeutung und Klimakrise in der Mode- und Textilindustrie endlich ernst zu nehmen. [1] War kritische Modeberichterstattung bis vor wenigen Jahren noch sehr dünn gesät, hat sie sich zunächst online über den Social-Media-Aktivismus von Bewegungen wie Fashion Revolution und Instagram-Accounts wie Diet Prada und 1 Granary etabliert und ist mittlerweile sogar in von Anzeigenkund*innen aus der Branche stark abhängigen Modezeitschriften wie Vogue regelmäßig zu finden. Ein Weckruf für die Modeindustrie war der tragische Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza am 24. April 2013 in Dhaka, Bangladesch, bei dem 1.136 Menschen gestorben sind und über zweitausend Menschen verletzt wurden. Der Unfall hat die schon seit Jahrzehnten bekannten unmenschlichen Arbeitsbedingungen der Textilindustrie erneut ins Bewusstsein westlicher Modekonsument*innen gerufen. Seither wird von der Öffentlichkeit, insbesondere in den Sozialen Medien, immer mehr Druck auf Unternehmen ausgeübt, Transparenz über die Arbeits- und Produktionsbedingungen ihrer Beschäftigten zu liefern sowie Rechenschaft über die Nachhaltigkeit ihrer Produkte abzulegen.

Während also die schlechten Arbeitsbedingungen der globalen Textilproduktion multinationaler Konzerne in Indien, Bangladesch, Sri Lanka oder China, aber auch in Europa mittlerweile gut dokumentiert sind, gibt es kaum Einblicke in die Arbeitswelt der Menschen, die in den künstlerisch-kreativen Segmenten der globalen Modeindustrie arbeiten. Die Anthropologin Giulia Mensitieri füllt diese Lücke mit ihrem äußerst lesenswerten, 2018 in Frankreich veröffentlichten und nun in deutscher Übersetzung vorliegenden Buch Das schönste Gewerbe der Welt – Hinter den Kulissen der Modeindustrie. Mensitieri beschreibt darin detailliert die prekären Arbeitsverhältnisse der großen Mehrheit der in der Mode beschäftigten „Kreativen“ und verflechtet die Geschichten von stets gut gekleideten, aber in kleinsten Pariser Wohnungen ohne geregeltes Einkommen lebenden Stylist*innen, Freelance-Designer*innen, Models, Assistent*innen, Fotograf*innen und Visagist*innen gekonnt in eine strukturelle, kapitalismuskritische Analyse des globalen Modesystems. Die empirische Grundlage der ursprünglich als Doktorarbeit verfassten Studie bildet eine beeindruckend breit angelegte Feldforschung, bei der die Wissenschaftlerin über mehrere Monate Zugang zu den Schauplätzen der von ihr so bezeichneten „immateriellen Modeproduktion“ bekam und sich in zahlreichen Interviews bei Fotoshootings, in Haute-Couture-Ateliers und Boutiquen ein Bild über die Prekarität dieser Arbeitsrealität machte.

So erfahren wir etwa vom gehetzten Arbeitsalltag der Stylistin Mia, die zwar Schuhe von Prada oder Handtaschen von Chanel trägt, jedoch trotzdem jeden Monat bangen muss, ob sie ihre Miete bezahlen kann – denn diese muss sie in Euro vergüten –, im Gegensatz zu ihren Auftraggeber*innen, die Mia regelmäßig mit Gutscheinen entlohnen. Das gut gebuchte Model Vanessa muss sogar Schulden bei ihrer Agentur abbezahlen, denn diese hatte diverse Kosten vorgestreckt, ohne die junge Frau vorher genau über die Vertragsbedingungen aufzuklären. Mensitieri erzählt viele individuelle Geschichten, und die Entscheidung, aus den (anonymisierten) Gesprächstranskripten zu zitieren, macht die in ihrer Studie behandelten Themen anschaulich und die Komplexität des globalen Fashion Business auch für Außenstehende nachvollziehbar.

Das zentrale rhetorische Motiv der Studie und gleichzeitig ihre analytische Leitkategorie ist die dualistische Vorstellung von der Modewelt als einerseits einer Traumfabrik und andererseits einem hyperkapitalistischem Moloch. Mensitieri nimmt zwei Aspekte gleichzeitig in den Blick: einerseits die subjektive Eigendarstellung der Arbeitswelt der Beschäftigten, andererseits die objektiven, materiellen und ökonomischen Rahmenbedingungen des Modesystems. Der Widerspruch zwischen der gelebten Prekarität und der Überzeugung, dabei einen Traumjob gelandet zu haben, ist frappierend. In der Einleitung löst Mensitieri dieses widersprüchliche Vexierbild mit dem von Foucault geprägten Konzept der Heterotopie auf, mithilfe dessen sie eine Beziehung zwischen der immateriellen, ideellen und utopischen Dimension der Modewelt und ihren materiellen und greifbaren Dimensionen herstellt. Heterotopien werden in ihrer Studie als imaginäre Orte und Parallelwelten gesehen, aber auch als „Räume“ und „Erfahrungen“, die an einem konkreten Ort existieren. Sie schreibt:

„Die Mode als Heterotopie schafft eine Illusion, die durch ihre scheinbare Traumhaftigkeit die Ausnahme normalisiert. Die Mode ist gleichzeitig ein Traum, mit ihren Modeschauen, Plakaten und Schaufenstern, und eine weltweite Industrie, die exzessiven Konsumismus, riesige Profite und vielfältige Formen der Ausbeutung hervorbringt. […] Trotz des schwelgerischen Luxus, der die Mode von der ‚normalen Ordnung der Dinge‘ abhebt, befindet sie sich im Herzen des zeitgenössischen Kapitalismus. Indem sie sowohl einen imaginären, erträumten Raum als auch eine ökonomische und professionelle Realität in sich einschließt, wird sie zu einem ‚anderen Raum‘, einer Heterotopie.“ [2]

Catwalk von Serpica Naro während der Mailänder Modewoche, 2005

Catwalk von Serpica Naro während der Mailänder Modewoche, 2005

Diese heterotopische Ambiguität zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Glamour und Prekarität ist Mensitieri zufolge ein Ausdruck der Neoliberalisierung der Mode, die spezifische Arbeitsbedingungen hervorgebracht hat, die auf der Wertschätzung individueller Freiheit, Kreativität und Flexibilität und auf Formen der Entlohnung durch symbolisches Kapital (Prestige und Erfolg) basieren, die prekäre Arbeitsbedingungen begünstigen. Mensitieri bezieht hier die von Luc Boltanski und Ève Chiapello entwickelte Analyse der projektbasierten Arbeitswelt [3] auf die Mode und argumentiert: „Der ‚neue Geist des Kapitalismus‘, in dem die Normalisierung von prekärer Arbeit und der Kult der Selbstverwirklichung durch Kreativität Hand in Hand gehen, kommt in der Mode nahezu im Reinzustand zum Ausdruck.“ [4] Den in drei Kapitel gegliederten ersten Abschnitt ihres Buches widmet Mensitieri der Struktur der Globalisierung der Mode und der ökonomischen und politischen Rolle der imaginären Dimension der Mode. Im zweiten Abschnitt werden vier Berufsbilder und die spezifischen Bedingungen der Prekarität der Beschäftigten beleuchtet. Im dritten Teil der Studie geht es um die Formen von Unterdrückung und Subjektivierung in der Mode, und darum, welche Strategien die Beschäftigten entwickeln, um mit diesen Formen von Ungleichheiten und Herrschaft umzugehen.

Mit Das schönste Gewerbe der Welt legt Mensitieri eine empirisch und historisch fundierte Reflexion der neoliberalen Rekonfigurationen der Arbeit in der Mode vor, die auch als eine Fallstudie für die Arbeitsrealität anderer Bereiche der sogenannten creative industries – etwa der Kunst oder der Architektur – Geltung beanspruchen kann. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass die Autorin sich nicht mit den bereits vorliegenden Studien zu den Arbeitsbedingungen von Kreativen in der Mode auseinandergesetzt hat, etwa den schon 2010 von dem Kollektiv Serpica Naro gemeinsam mit dem Soziologen Adam Arvidsson und dem Kulturschaffenden Giannino Malossi veröffentlichten Bericht „Passionate Work: Labor Conditions in the Italian Fashion Sector“, der von exakt denselben Ausbeutungsverhältnissen in der Mailänder Modeindustrie handelt und in dem auch der von Mensitieri später beschriebene Widerspruch zwischen Wunschvorstellung und prekarisierter Wirklichkeit in der Mode aufgezeigt wird. [5] Dies ist auch insofern zu bedauern, als dieser Bericht nicht nur die Reichweite von Mensitieris Forschung bezeugt, sondern auch das Potenzial einer internationalen Solidarisierung und Vernetzung von prekär Beschäftigten im Fashion Business in sich birgt. Erfreulicherweise ist Instagram für solche Mobilisierungsdynamiken eine geeignete Plattform.

Giulia Mensitieri, Das schönste Gewerbe der Welt – Hinter den Kulissen der Modeindustrie, aus dem Französischen von Lena Müller, Berlin: Matthes & Seitz, 2021.

Monica Titton ist Soziologin und Modetheoretikerin. Sie unterrichtet in der Modeklasse der Universität für angewandte Kunst Wien. www.monicatitton.net

Image credit: 2. Marco Garofalo

Anmerkungen

[1]Jess Cartner-Morley, „Fashion faces a stark choice: stop floggin chaep clothes or go out of style.“, The Guardian, 16. September 2021, https://www.theguardian.com/commentisfree/2021/sep/16/fashion-cheap-clothes-style-sustainability-uncool.
[2]Giulia Mensitieri, Das schönste Gewerbe der Welt – Hinter den Kulissen der Modeindustrie, Berlin 2021, S. 11.
[3]Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003.
[4]Mensitieri, S. 19.
[5]Adam Arvidsson/Giannino Malossi/Serpica Naro, „Passionate Work? Labor Conditions in Italian Fashion“, 2010, veröffentlicht im Rahmen des Forschungsprojekts „Ricerca Urbana Milano“, URL: https://www.serpicanaro.com/research/ricerca-urbana-milano. Siehe auch: Dies., „Passionate Work? Labour Conditions in the Milan Fashion Industry“, Journal for Cultural Research, 3, 2010, S. 295–309.