Für Okwui Enwezor von Ulrich Wilmes
Es gibt Schönheit mitten im Leiden,
Freude in der Trauer,
Hoffnung in der Verzweiflung
und neues Leben sogar im Tod.
(Igbo-Sprichwort)
Mit Okwui Enwezor hat die Welt einen wichtigen Deuter der Gegenwart und brillanten Kurator verloren. Sein Wirken zu rekapitulieren und zu würdigen, soll anderen an dieser Stelle vorbehalten sein, die ihn über eine längere Wegstrecke gekannt und begleitet haben. Ich hatte das Privileg, über sieben wertvolle Jahre eng mit ihm verbunden zu sein, in denen aus Kollegialität eine Freundschaft gewachsen war – ein Geschenk, für das ich tiefe Dankbarkeit empfinde.
Okwui Enwezor war ein guter Mensch, fortiter in re, suaviter in modo. Deshalb soll hier vor allem die Unvoreingenommenheit berührt werden, mit der er Menschen begegnete. Er war die Verkörperung des Begriffs „Charisma“. Von hoher Intelligenz, überragender Bildung, ausgesuchter Eleganz und geschliffenen Umgangsformen, veränderte er schlagartig das atmosphärische Klima jeden Raumes, den er betrat:
„"Hi, I am Okwui!“, so stellte er sich gewöhnlich vor. Dabei wurde im Augenblick klar, dass die erworbenen Merkmale seiner Persönlichkeit gepaart waren mit ererbten Wesenszügen, zu denen Nahbarkeit, Höflichkeit, und ehrliche Neugier am Gegenüber zählten. Was allerdings diesen Stimmungsumschlag am nachdrücklichsten spürbar machte, war die ansteckende und einnehmende Herzlichkeit seines entwaffnenden Lachens, mit dem er seine Gesprächspartner*innen freigiebig bedachte.
Nach einer ersten flüchtigen Begegnung im Umfeld der Documenta 11 trafen wir uns im Oktober 2010 anlässlich einer Eröffnung in der Tate Modern in London und verabredeten uns, um über sein eventuelles Interesse an einem Engagement als Direktor des Hauses der Kunst in München zu sprechen. Das Treffen fand zwei Wochen später in New York statt. Wie sich bald herausstellte, waren meine gemischten Gefühle – warum sollte ein global agierender Kurator in die bayerische Provinz kommen? – völlig unbegründet.
Deutschland besaß für Okwui Enwezor eine ganz besondere Bedeutung. Die Ausstellung "The Short Century“ in der Münchener Villa Stuck sowie die Documenta11 hatten das Land, wie er sagte, zu seiner „zweiten intellektuellen Heimat“ werden lassen. Über diese Projekte hinaus war es die tiefe Bewunderung für die deutsche Geistesgeschichte sowie die historische Bedeutung der deutschen Nachkriegsgeschichte für die Neuordnung Europas und der Welt, die seine besondere Anteilnahme begründeten. Vor diesem Hintergrund war es nicht mehr schwer zu begreifen, warum das Haus der Kunst mit seiner belasteten Geschichte einen prädestinierten Ort für Okwui Enwezor darstellte, an dem darüber hinaus die Freiheit in Aussicht stand, eine Institution mit einem inhaltlich fokussierten Programm individuell formen zu können.
Von Beginn seiner Arbeit an konzentrierte er sich darauf, die Kunstwelt für das kulturelle Erbe aller Regionen des Erdkreises zu öffnen. In diesem exquisiten Sinne war er ein Globalisierer. Es ging ihm darum, zusammenzuführen, was nicht voneinander wissen wollte; buchstäblich nichts auszuschließen, was jenseits von Ideologien unsere Sicht der Welt in der Gegenwart zu erweitern und zu bereichern Anlass bietet. Er war nicht daran interessiert, die Positionierung der Künstler*innen im Zentrum oder an der Peripherie des Kunstbetriebs einfach umzukehren, um Weltkunst und Westkunst gegeneinander auszuspielen. Vielmehr war ihm daran gelegen, beide zueinander in eine aufrichtige Beziehung zu setzen, die Westkunst als einen virulenten Teil der Weltkunst zu zeigen, aber eben als einen Beitrag unter vielen diversen anderen.
Vor allem seine Großprojekte legten davon immer wieder Zeugnis ab. So die Ausstellung „Postwar“, die die „Kunst zwischen Pazifik und Atlantik von 1945 bis 1965“ betrachtete. Dabei waren das Konzept und seine Realisierung eine Anmaßung ohnegleichen, vor der Okwui Enwezor gleichwohl zu keinem Augenblick Angst verspürte. Die Ausstellung umfasste 350 Werke von 218 Künstler*innen aus 65 Ländern. Doch leicht hätte sie ohne jeden Substanzverlust auch mit 350 anderen Werken von 218 anderen Künstler*innen bestückt sein können. Das Projekt sollte den Auftakt für eine Ausstellungstrilogie zur globalen Geschichte der Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bilden, deren weitere Kapitel den Epochen des Postkolonialismus und des Postkommunismus gewidmet werden sollten. Es war Okwui Enwezors ureigenes Feld, das er Zeit seiner Arbeit abgesteckt und vermessen hatte. Mit der geplanten Trilogie wollte er den Forschungsstand, zu dem ihn nicht nur die eigene Arbeit, sondern auch die vieler Kolleg*innen und Freund*innen geführt hatte, darlegen. Sie zu vollenden, war ihm nicht mehr gestattet.
So bleibt die umfassende Überblicksausstellung des großen Ghanaischen Künstlers El Anatsui sein Vermächtnis, an dem er bis zuletzt mit seinem lang vertrauten Freund und Wegbegleiter Chika Okeke-Agulu gearbeitet hat. Triumphant Scale ist nicht nur der signifikante Titel dieser fulminanten Werkschau, sondern erklärt abschließend Okwui Enwezors historisches Verständnis der Architektur des Hauses der Kunst und des aufklärerischen Umgangs mit ihm in der Gegenwart.
Es gehörte zu seiner Wesensart, in großen Dimensionen zu denken und zu agieren, getragen von einem Wissensspeicher, dem man höchste Bewunderung zollen musste, der aber zuweilen auch einschüchtern konnte. In der täglichen Zusammenarbeit wie im persönlichen Gespräch gewöhnte man sich daran, rasch vom spezifischen Problem zum übergeordneten Zusammenhang überzugehen. Dabei war er immer erpicht darauf, sein Gegenüber mitzunehmen und an seinem Wissensvorsprung teilhaben zu lassen. Mit ihm zu diskutieren, war dennoch manchmal nicht einfach, und eine beliebte Sentenz, die man nicht selten zu hören bekam, war: „Sorry, but I completely disagree!“ Aber er vertrat seine Argumente nie lautsprecherisch. Vielmehr neigte er bei kontroversen Diskussionen zu diplomatischer Klugheit.
Feines hört man erst, wenn man leise wird. (Igbo)
Dabei waren seine Einlassungen immer wieder aufgelockert mit launigen Bemerkungen, begleitet von seinem unnachahmlich schallenden Lachen.
Legendär war Okwui Enwezors schier nie versiegender Schatz jener Igbo-Sprichwörter, die zu notieren, ich mir stets vornahm, es meist aber doch leider beim Vorsatz beließ. Allerdings ließ mich die oftmals verblüffende Passgenauigkeit, mit der er sie in den Zusammenhang eines Diskurses einfügen konnte, manchmal daran zweifeln, ob das Gleichnis wirklich in Igbo-Traditionen wurzelte oder ob er den Spruch nicht spontan erfunden hatte.
Eine verbriefte Lebensweisheit der Igbo lautet:
Wenn in Afrika ein alter Mann stirbt, brennt eine Bibliothek ab.
Okwui Enwezor starb zu jung, aber es kann keinen Zweifel daran geben, dass mit ihm eine der weltweit umfassendsten Bibliotheken vergangen ist!
Die bildende Kunst war nicht seine erste Leidenschaft. Diese galt ursprünglich – nachdem er sein Studium der Politikwissenschaft abgeschlossen hatte – der Poesie und Poetik. Sein Verhältnis zu Sprache und Text ging daher weit über ihre Funktion als biederes Werkzeug zur alltäglichen Verständigung hinaus. Vielmehr benutzte er Sprache wie ein chirurgisches Instrument, mit dem er seine Erfahrungen des Sichtbaren sezierte und vermittelte. Okwui Enwezors Muttersprache war Igbo, und es war ihm wichtig, sie zu pflegen. Wann immer er Gelegenheit hatte, sie mit Verwandten und Freund*innen zu sprechen, war es eine besondere Beglückung für ihn, die er auch in seinem Münchener Alltag fand, wenn er auf Landsleute stieß, wie auf seinen nigerianischen Friseur im Viertel rund um den Hauptbahnhof.
Seine Zweitsprache Englisch hatte er ab 1982, nachdem er von Nigeria zum Studium in die USA gezogen war, derart kultiviert, dass er seinem Denken in ihr den seinem Anspruch gemäßen Ausdruck verleihen konnte. Zu seinem eigenen Verdruss konnte er dies mit dem Deutschen trotz der starken Verbundenheit mit dem Land nicht bewerkstelligen, weil er sich einfach nicht damit abfinden wollte, sie nur so weit zu beherrschen, um Konversation zu machen. Dieser Respekt gegenüber der deutschen Sprache wurde ihm in München manches Mal als Ignoranz ausgelegt, und das zuweilen von Menschen, denen es kaum der Mühe wert war, seinen Namen richtig auszusprechen.
Okwui Enwezor hat München sehr gemocht und die Stadt wegen ihres kulturellen Reichtums verehrt. Sie war sein Zuhause, nachdem er seine Wohnung in Brooklyn aufgegeben und München zu seinem Lebensmittelpunkt gemacht hatte. Er eroberte sich die Stadt zu Fuß, von der Hildegardstraße über die Maximilianstraße zum Viktualienmarkt, wo ihn seine Stammhändler mit Namen begrüßten. Und weiter nach Schwabing zu den Buchläden englischer Sprache und zum Kunstareal, aber auch zu Orten wie dem Alten Südfriedhof, den er wegen seines Interesses für den Architekten Hans Döllgast gern öfter aufsuchte. Gern zeigte er seinen Aufenthaltsausweis und hatte jedes Mal eine diebische Freude, wenn er bei der Rückkehr von einer Reise bei der Passkontrolle auf die Frage der Beamt*in nach dem Grund seines Aufenthalts in München, antworten konnte: "Ich lebe hier!“
Sein erstes Projekt für das Haus der Kunst hatte ebenfalls einen direkten Münchenbezug. Es war die Ausstellung über das legendäre Plattenlabel ECM (Edition of Contemporary Music) und seinen Gründer Manfred Eicher. Begleitet wurde diese Arbeit auf dem Gebiet „kultureller Archäologie“ von einer Konzertreihe mit einigen der weltbekannten Musiker, die dem Label seit den späten 1960er Jahren verbunden waren. Andere Kooperationen mit Münchner Institutionen folgten. Darunter unvergessen die Europapremiere von Matthew Barneys monumentalem Filmwerk River of Fundament in der Bayerischen Staatsoper am Max-Joseph-Platz.
In einem letzten ausführlichen Interview, das er im August 2018 gab, erzählte Okwui Enwezor von seinen Erfahrungen in München in den vergangenen Jahren, den überwiegend positiven, aber auch den selteneren negativen. Er führte keine Klage, äußerte jedoch seine Besorgnis über allgemein- und kulturpolitische Entwicklungen, die er registriert hatte. Er sprach auch über unreflektierte Alltagsrassismen, denen er begegnete und die denen, die sie äußerten, häufig gar nicht bewusst waren oder die bagatellisiert wurden. Solche Verhaltensmuster waren für Okwui Enwezor, der als 19-Jähriger in die USA gekommen war, eine traurige Gewohnheit, die er wahrnahm, die aber keine Relevanz für seine Befindlichkeit besaß. Gleichwohl erhielt er kritische Noten zu seinen im Interview geäußerten Befürchtungen in dem Sinne, wie er dazu käme, „so über mein Land zu sprechen“. Diese unbeabsichtigte Bestätigung seiner Äußerungen nahm er ohne jede Genugtuung mit der ihm eigenen amüsierten Gelassenheit zur Kenntnis.
Ein Mann mit Bart sollte nicht ins Feuer blasen. (Igbo)
Was Okwui Enwezor stärker bewegte und umtrieb, war der zunehmend fehlende Respekt in seiner Stadt für die dort geleistete Arbeit am Haus der Kunst, das sich unter seiner Direktion und, anknüpfend an den von seinen Vorgängern Christoph Vitali und Chris Dercon betriebenen Aufstieg, zu einem der weltweit anerkanntesten Institutionen der zeitgenössischen Kunst entscheidend weiterentwickelt hatte. So brachte er seine tiefe Sorge darüber zum Ausdruck, dass die produzierten Inhalte und intellektuellen Mehrwerte nicht mehr ihrer Bedeutung gemäß beurteilt werden, soweit sie sich nicht den gängigen Erwartungshaltungen eines saturierten, hedonistischen Publikums fügten.
Und in der Tat lässt sich nicht übersehen, dass sich in den vergangenen Jahren einzelne „Fälle“ zu einem Muster verdichtet haben, das die wachsende Einflussnahme von Politik und Kulturbürokratie auf die Ausrichtung der Inhalte deutlich werden lässt.
Wer nur zurückschaut kommt nicht vorwärts. (Igbo)
Bei unseren Treffen in den Monaten vor seinem Tod hatte sich unsere Distanz zum Zurückliegenden bereits so weit vergrößert, dass wir nur noch wenig darüber sprachen. Sein Blick war bis zuletzt nach vorn gerichtet. Projekte, mit denen er befasst war oder die wir noch gemeinsam umsetzen wollten, waren Gegenstand unserer Unterhaltungen, in denen wir wie immer überlegten, planten und diskutierten, einer Meinung waren und stritten, uns freuten und lachten.
An seinen inneren Ängsten ließ Okwui Enwezor einen nur in seltenen Momenten teilhaben. Bei einem unserer letzten Treffen sprachen wir über unsere naturgemäß sehr unterschiedlichen Erfahrungen zu Schulzeiten, und lachend erzählte er, wie er sich damals als einziger Junge aus seinem Heimatort darüber gefreut habe, ins Internat gehen zu dürfen, weil er die Unabhängigkeit von zu Hause als gewonnene Freiheit empfand und mehr noch die schicken Schuluniformen liebte.
Das Verstummen seines Lachens hat den Klang der Welt ärmer gemacht.
Ulrich Wilmes