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RENÉ POLLESCH (1962–2024) Von Arnd Wesemann

René Pollesch, ca. 1984

René Pollesch, ca. 1984

Unsere letzte Begegnung fand Anfang 2023 vor der Premiere von Constanza Macras‘ choreografischem Werk Drama an der Berliner Volksbühne statt. Wir zankten uns behutsam, als wir mitten im Publikum im Foyer diskutierten, wer die bedeutendere Choreografin an seinem Hause sei, Constanza Macras oder Florentina Holzinger. Beide hatte René an die Volksbühne geholt und dort ihre Stücke produziert, bestand aber darauf, Constanza zumindest in choreografischer Hinsicht zu bevorzugen. Bei Florentina sei der Tanz, der vermehrt hinter das Performative zurücktrat, doch weitaus unterbelichteter. Da war er sich sehr sicher – auch weil schon abzusehen war, dass Constanza gerade dabei war, eine ganz wunderbare Premiere abzuliefern.

René traf man nur im Theater. Mit ihm stritt man nicht, aber man konnte sich gut mit ihm zanken, wie Kinder, der Sache leidenschaftlich zugetan, dem Theater also. Es war ihm nur völlig einerlei, für welches Haus er arbeitete, das Deutsche Theater oder die Volksbühne, eine Probebühne oder den Friedrichstadt-Palast. In dieser Beziehung war er restlos uneitel. Hauptsache, er konnte Theater machen – alles proben, alles schreiben, alles denken, alles arrangieren und alles wieder verwerfen. Er wollte in den Spielmodus schalten, nicht das Theater verwalten.

Während des Studiums, das wir gemeinsam begannen, war seine Klause eine Einliegerwohnung im Souterrain. Wir ahnten noch nicht, was das Schreiben mit uns machen, wohin es uns treiben würde. Aber wir wollten es herausfinden. Es gab eine Phase, in der René mit niemandem sprach und er sich – wenn ihn jemand ansprach – mit freundlicher, doch entschiedener Geste von demjenigen abwandte. Damals gab es für ihn nichts zu sagen. Nur unendlich viel zu schreiben.

Ich denke, was uns unausgesprochen verband, waren vielleicht Gewalterfahrungen in der Jugend; Fabian Hinrichs erzählte davon nach Renés Tod –Hinrichs, sein Schauspieler der letzten Jahre und Stunden. Was an den Erzählungen wahr ist, das weiß ich nicht. René und ich teilten eher unsere suchende Beschäftigung mit den damals gängigen Lektüren der beiden Jacques, Jacques Lacan und Jacques Derrida, den beiden Dekonstruktivisten, wovon Renate Lorenz hier schon luzid schrieb. Dabei ging es uns um das Abenteuer, das Unaussprechliche körperlich zu erleben, am besten im Theater. René suchte nach Verkörperungen des Sprechens, nicht nach den Gedanken seiner Figuren. Allein das war in dieser Zeit schon eine Sensation.

Und schon bald sah man in einschlägigen Fachblättern wiederholt eine Anzeige des Rowohlt Verlags, dessen Theaterabteilung offenbar gar nichts anderes mehr anbieten mochte als diesen neuen Autor René Pollesch. Wohl beinahe jede Dramaturgie landauf, landab hat seine Stücke bestellt, die Stirn gerunzelt und sorgenvoll nach Regisseur*innen Ausschau gehalten, die für Inszenierungen mit so scheinbar abwegigen Titeln wie Splatterboulevard und Snuff-Comedy infrage kämen.

Allerdings hat René (fast) immer alles selbst inszeniert. Er wurde Regisseur, weil er nicht das gleiche Schicksal erleiden wollte, wie es Dramatikern gewöhnlich widerfährt. „Wäre Werner Schwab nicht gestorben“, sagte er damals, „er wäre heute vergessen.“ Und da hatte er Recht: Wer erinnert sich noch an Werner Schwab? Sämtliche Nachrufe betonten seinen Rotweinkonsum, niemand seine Erschöpfung. René lastete den Theatern an, dass sie die Autor*innen verheizen würden. Für die seien sie Eintagsfliegen, deren Texte an „Rampensäue und Hamlet-Vernuschler“ verfüttert würden. Er selbst forderte eine andere Sprechkunst und fand sie bei Filmschauspieler*innen, bei Thomas Heinze etwa, Nina Kronjäger, bei unversauten Darstellungskünstler*innen wie Susanne Strenger und Christian Bodenstein. „Dass ihr mir bloß kein Stadttheater spielt!“, drohte er gern.

Es war die Zeit, da war unser beider Hass auf das Stadttheater schier grenzenlos. Jede andere Bühne war ihm lieber: die Probebühne der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen, später ein winziger Theaterkeller in einem Vorort von Ludwigshafen, wo er eine Weile lebte, danach die mittlerweile aufgegebene Probebühne des TAT in Frankfurt/M., wo 1992 Harakiri einer Bauchrednertagung entstand (René: „Der Titel ist die lustigste Katastrophe, die ich mir vorstellen kann.“); 1993 eben Splatterboulevard und Ich schneide schneller; 1994 Entertaining Mr. S. – Rip Off (inspiriert von Joe Orton) und Pool. Diese beiden letzten Stücke machten ihn weit über Insiderkreise hinaus bekannt: René hatte den „Splatterboulevard“ erfunden, den Komödienstadel der Zukunft, die Sitcom des Theaters.

Ich erinnere mich noch gut an Pool. Auf der Bühne: Ein psychiatrisches Sprechzimmer nebst Swimmingpool. (Warum Swimmingpool, weiß ich nicht. Aber es gibt ganz sicher keinen besseren Ort für das Sprechtheater als ein Sprechzimmer.) Nina Kronjäger schluckt Beruhigungstabletten und der Arzt, Thomas Heinze, Amphetamine. Beide haben Angst, von Heinrich dem Vierten (HIV) angesteckt zu werden. Heinze unterbricht seine Schädelöffnung. Der Patient ohne Schädeldecke wird vom Sprechzimmer vor den Pool gefahren. Nina Kronjäger, kettenrauchend, ascht, nachdem sie schon mehrere Male den Pool dazu missbraucht hat, versehentlich ins Schädelloch, bemerkt es. Vor Schreck fällt ihr die Zigarette hinein. Sie will sie aus dem Hirn wieder herausfischen, die Hirnfäden kleben an der Zigarette wie Kaugummi, sie stopft sie ins Hirn zurück. Aus dem Schädel qualmt es. Sie versucht, die Zigarette mit der Zange aus der Hirnmasse zu ziehen, auch das klappt nicht. Sie kippt Soda ins Hirn. Der Zigarettenrauch legt sich – da federt die Kopfstütze der Bahre hoch und das Hirn schleudert quer über die Bühne.

Solches Theater hieß früher Grand Guignol, dank René nun „Snuff-Comedy“. Das Publikum lachte vor Ekel und ohne Unterlass. Die Figuren sprachen grundsätzlich „auf Anschluss“, tranken synchron grausig bunte Cocktails und fuhren Rhönrad. Eine Hollywood-Diva frohlockte: „Wir sind ausverkauft! Auf Wochen hin. Was sagst du dazu?“ Antwort: „Das war der Kessel von Stalingrad auch“. Sein „Splatterboulevard“ war voll solch giftspritzender Dialoge. Konventionelle Theaterpsychologie hätte diesen Theaterspaß schnell zerstört. Pollesch hingegen insistierte auf pausenlosen Redefluss. Keine zusätzlichen Gesten, die irgendetwas unterstreichen. Kein Boulevardtheater. Der Text sollte mit hoher Geschwindigkeit einfach durch die Figuren hindurchjagen.

„Manchmal ist eben ein ganzer Satz die Pointe“, fand René. Sein Faible fürs Schnellsprechen und Auf-Anschluss-Gehen erzeugte eine Dichte, die auf uns überfallartig wirkte. Seine während der Proben permanent umgeschriebenen Texte erforderten ein Höchstmaß an Konzentration. Schwächere Darsteller kamen nicht mit, verhaspelten sich, verzweifelten am Text.

Er sah, wie Regisseur*innen im Stadttheater die Kraft der Dramatik eines Autors wie des Briten Joe Orton ins Jämmerliche verhunzten. René liebte Orton, seiner Meinung nach der „bestgebaute Bühnenautor seiner Zeit“, der den Programmheften zu seinen Aufführungen gern Aktfotos von sich selbst beilegen ließ. Am 9. August 1967 wurde Orton von seinem Lebensgefährten Kenneth Halliwell mit einem Hammer erschlagen. Die Geschichte hat Stephen Frears mit Prick Up Your Ears verfilmt, 1987, kurz nach unserem Studium. Ortons Tagebücher waren grundlegendes Material für René, und er zitierte gern daraus, etwa: „Ich finde die Menschen zutiefst schlecht und unwiderstehlich lustig.“

Traf ich René nicht im Theater, fand ich ihn am Schreibtisch, oft auch versunken in die Fernseh-Sitcom „ALF“. Den zotteligen Außerirdischen, der einer Mittelmaßfamilie ihre Mittelmäßigkeit austrieb, kannten damals alle. Renés Dialoge überholten solche Vorlagen mit links. Da entstand etwa Entertaining Mr. S. – Rip Off mit einer monströsen Handpuppe und – wie es im Text heißt – „einer außerordentlichen Kakerlake, die immerzu fernsieht, flüssiges Popcorn isst und Gregor Samsa heißt. Den Bauchredner oder Puppenspieler, den sie eigentlich dafür haben wollten, mussten sie sich allerdings wieder aus dem Kopf schlagen. Er bekam plötzlich Kreuzigungsmale des Herrn in seine Handflächen, und seine Puppen fingen während der Vorstellungen an, ganz fürchterlich aus dem Mund zu bluten. Das gab natürlich jedes Mal ein riesiges Geschrei, vor allem bei den Kindern. So dass er schließlich nur noch vor sehr religiösen Gruppen auftreten konnte.“

René schrieb, während der Fernseher lief, um das Fernsehen – dieses „Theater des kleinen Mannes“ – weiterzudenken. Was ihm wunderbar gelang. Das Publikum vor seiner Bühne heftete sich fest an die Lippen der Spieler*innen mit dieser trockenen, unaufgeregten Sprechweise; es gab Vorstellungen, da lehnte sich die hintere Hälfte auf die Schultern der vor ihnen Sitzenden, um besser zu hören, weil die andere Hälfte vor Lachen so lauthals schrie, dass man hinten kein Wort mehr verstand. Renés eigene olympische Disziplin – die „Witzrate“ von einem Gag zum andern auf zehn Sekunden zu erhöhen – nannte er damals „Technoboulevard“. Davon ist er natürlich wieder abgekommen. Es wäre sonst in Mechanik ausgeartet. Nichts hasste er mehr, als sich gedankenlos einer Sache auszusetzen, die er nicht wieder bändigen konnte.

Renés Texte wurden stattdessen tiefgründiger, seine Regieweise blieb stilbildend, die Lehre, die er weitergab, stammte in Teilen von Heiner Müller, dessen tief gründelnde Gedanken eben dieser Autor jederzeit in federleichte, witzige Bonmots verwandeln konnte. Von Müller lernte René das Überschreiben der Texte anderer, auf eine Wahrheit zu, die einen rasend macht, weil sie wie rasend auf einen zufährt, die konsequent jedes soziale System ad absurdum führt dank der Tabus und allem, was so ein System übersieht. Allein sich als Autor hielt René dafür verantwortlich, die immer rasender auf ihn zueilende Wahrheit nicht zu verdrängen. Der hat sie noch im Titel seines letzten Stücks, der in den Tagen nach seinem Tod zu Recht so viel zitiert wurde: ja nichts ist okay.

Arnd Wesemann ist Tanzjournalist und fand in René Pollesch einen Weggefährten auf der Suche nach Worten für das Unbeschreibliche. Pollesch entdeckte sie im Theater, Wesemann im Tanz. Nach 25 Jahren als Redakteur der Zeitschrift tanz betreibt er nun in gleicher Funktion tanz.dance, ein zweisprachiges digitales Journal für weltweiten Tanzjournalismus.

Image credit: Foto Lilo Scherrer