RENÉ POLLESCH (1962–2024) Von Renate Lorenz
Ich lernte René kennen, als wir beide etwa 20 waren. Er studierte bereits seit einem Jahr im Gießener Theaterstudiengang, ich kam neu hinzu. René war in Friedberg aufgewachsen, ich in Hersel, einem Dorf bei Bonn – beides Umgebungen, die wir jeweils als eng und bedrückend erlebt hatten. Gießen schien nicht viel besser. Der einzige Club trug bezeichnenderweise den Namen „Ausweg“ und öffnete nur zweimal die Woche für je vier Stunden. Mit einigen anderen flüchtete ich oft nach Frankfurt/M. zu Konzerten, experimenteller Musik, Ausstellungen, den nächtlichen Vorstellungen im Filmmuseum, den frühen Stücken von William Forsythe und Einar Schleef. René blieb, so wie ich es erinnere, meist in seiner kleinen Wohnung, etwas außerhalb der Stadt, saß am Schreibtisch oder sah sich Videos an. Wir waren nur wenige Studierende im Programm, die beiden ersten Jahrgänge seit Gründung. In Gießen hingen wir auch am Wochenende im kleinen Videoraum unseres Instituts ab, wo sich Spielfilme auf VHS stapelten, die vom Fernsehen aufgenommen wurden. Wir probten viel, auch abends oder am Wochenende. Um uns auszutauschen, hatten wir uns eine halböffentliche Veranstaltung ausgedacht, zu der wir immer freitags zusammenkamen. Dort sahen wir uns die Skizze eines Stückes an, die eine*r oder mehrere von uns in den Tagen zuvor entwickelt hatten. René zeigte regelmäßig kurze Entwürfe, Kathrin Brinkmann und Susanne Strenger und einige andere spielten darin. Seine ersten Arbeiten waren kurz, beeindruckend und nicht unmittelbar verständlich; die Texte eher von Heiner Müller inspiriert (neben Robert Wilson einer unserer ersten Gastprofessor*innen) als von Popkultur – abstrakt, nicht psychologisierend. René inszenierte, war aber auch immer bereit, kollektiv zu arbeiten oder in den Stücken anderer aufzutreten. Er war auch selbst ein sehr guter Performer.
Unser Professor war Andrzej Wirth, der mit großem Hut, weißem Schal und Sonnenbrille zum Seminar erschien und von ausgeflippten Performances, vor allem in Osteuropa und New York zu berichten wusste. Dazu kam als Mitarbeiter Hans-Thies Lehmann, der uns als komparativer Literaturwissenschaftler schon im ersten Jahr die frisch erschienenen deutschen Übersetzungen von Jacques Derrida, Michel Foucault, Gilles Deleuze/Félix Guattari und Jacques Lacan zu lesen gab (seltener auch von Luce Irigaray …). Lehmanns ruhige Bewunderung für diese Theorien war ungeheuer ansteckend, wir liebten die Texte mehr, als dass wir sie zunächst verstehen oder kontextualisieren konnten. Mit der deutschen Stadttheaterrealität und auch der „freien Szene“ der 1980er Jahre, die auf ihre je eigene Art konventionell erschienen, hatten sowohl Wirth als auch Lehmann nichts am Hut.
Ich erinnere mich besonders gut an eine Szene: René und ich probten meine erste Performance, in der er auftrat. In einer Pause saßen wir uns gegenüber, und unsere Füße baumelten im „Loch“ – unser Theaterraum war ein umgebauter Hörsaal, und der frisch installierte Boden, der den ansteigenden Hörsaal begradigte, hatte einige Bretter, die sich fantastischerweise herausnehmen ließen. Wir sprachen über Wünsche, über das, was uns deprimierte, und über den Psychotherapeuten vor Ort in Gießen, der ein Modell von Freuds Ich, Es und Über-Ich auf dem Tisch stehen hatte, das einen Zugang zum psychischen Erleben symbolisierte, der vor dem Hintergrund unserer frischen, verstörenden und nur halb verstandenen Lacan- und Deleuze/Guattari-Lektüre gar nicht ging und den Therapeuten von Beginn an diskreditierte. Viele Jahre später tauschten wir uns über diesen besonders nahen Moment aus, an den wir uns beide genau erinnerten; René sagte, dass er mir fast erzählt hätte, dass er auf Männer steht.
Es gelang uns, glaube ich, nicht sehr gut, die aufregende Beschäftigung mit neuer Performance, experimenteller Musik und dekonstruktiver Theorie mit dem Leben um uns herum in Verbindung zu bringen. Während wir regelmäßig den Phallogozentrismus kritisierten, war niemand von uns „out“. Probleme, den Geschlechternormen zu entsprechen, ließen sich nicht artikulieren. Auch war die Gießener linke Szene zu subjektzentriert, das Stadttheater zu psychologisierend. Es war schwer, Anschlüsse zu produzieren. Eine kleine Gruppe von uns begann selbstorganisiert, Literatur zu einer „feministischen“ oder eher „weiblichen“ Ästhetik zu lesen, aber eine brauchbare Kritik an den Geschlechterverhältnissen, die unser Aufwachsen so krass geprägt hatten, fand ich in dieser Zeit dort nicht. Wir alle verhielten uns so, im Leben wie auf der Bühne, als würden wir mehr oder weniger gut die heteronormativen Vorgaben erfüllen. Ich hatte René sehr gern, weil er in all dem eine Männlichkeit verkörperte, die sehr fein, zurückhaltend und doch voller Klugheit und Witz daherkam.
Weil das, was wir in Gießen entwickelten, nicht kompatibel mit der Theaterwelt draußen zu sein schien, wollten René, Susanne, Kathrin, ich und einige andere ein eigenes Theater gründen. Wir hatten auch schon ein Objekt im Auge, aber niemand von uns brachte letztlich genug unternehmerisches Geschick auf, um diese Idee auch umzusetzen. So driftete ich in die bildende Kunst ab, während René unglaublicherweise eine Möglichkeit fand, im Stadttheater nicht nur zu überleben, sondern dort auch etwas zu verändern und dies mit vielen Kolleg*innen, vor allem Schauspieler*innen, zu teilen.
Der New Yorker Autor und Theatermacher John Jesurun, der in Gießen unterrichtete und bei dessen Stücken René, Kathrin und auch einige andere mitspielten, hatte eine Wende in Renés Theater gebracht durch die Weise, wie er Sprache inszenierte und wie er Theater machte, das zugleich experimentell und unterhaltsam war.
Während René schon von Beginn des Studiums an exzellente Texte schrieb, war es besonders Jesuruns Art, Dialoge extrem schnell, „flach“ und mit Wiederholungen sprechen zu lassen, die, wie ich es wahrgenommen habe, René ein Leben und schließlich eine unglaubliche Karriere im so heteronormativen Apparat des deutschen Stadttheaters ermöglichte. Diese Sprechweise erlaubt – oder setzt vielleicht sogar voraus –, dass Sprechen und Körper nicht deckungsgleich sind und mehr oder weniger in Widerspruch zueinander treten können. Was wir am deutschen Theaterapparat nicht mochten, war nicht zuletzt, dass Schauspieler*innen meist entsprechend ihrem Alter und Aussehen besetzt wurden. Sie sollten sprechen, was sie verkörperten, und umgekehrt war es nicht möglich, etwas zu sprechen, was der Körper nicht hergab. Ausnahmen waren Statements und daher auch problematisch für die Darstellenden, da die Körper dafür einstehen mussten, diese Ausnahmen zu visualisieren.
Ich sehe daher Renés Theater im Kontext einer queeren Ästhetik, auch wenn die Texte sich nicht unbedingt mit LGBTQIA+-Themen auseinandersetzen. Das Sprechen, das eine Lücke zwischen Körper und Text einfügt, erinnert mich an die Weise, in der Dragperformer* einen Text lip-synch wiedergeben: Eine Stimme aus dem Off spricht oder singt, ein Performer* bewegt dazu sehr virtuos die Lippen. Eine Lücke tut sich auf zwischen Körper, Selbst und Text. Sie ermöglicht, wie José Muñoz es sehr schön formulierte, eine utopische Spur im dystopischen Hier und Jetzt. Ein Kurzschluss zwischen Körper, Geschlecht und Sprechen wird so vermieden; alles ist möglich und nichts selbstverständlich.
Renés Theater erscheint mir darin als eine künstlerische Form und Option, die viele Schauspieler*innen für sich nutzen konnten, um eine andere Art der Performance zu entwickeln: nicht nur diejenigen, die immer wieder und mit Begeisterung mit ihm arbeiteten, sondern auch all die anderen, deren Arbeitswelt sich durch den Erfolg dieser Herangehensweise veränderte. All diejenigen – also fast alle –, die Körper und Selbst nicht als deckungsgleich erleben, die Geschlechter- und andere Normen als zu eng empfinden.
Ich hatte René während einer Dekade, in der ich Ausstellungen machte, schrieb oder in großen und kleinen linken oder Künstler*innenkollektiven Heteronormativität, Technologie und Stadtentwicklung kritisierte, nur selten gesehen. Dann trafen wir uns Anfang der 2000er Jahre im Umfeld des Berliner Podewil und von Volksbühne/Prater wieder. Im Podewil war Aenne Quiñones Kuratorin, Marc Siegel, Susanne Sachsse und andere hatten begonnen, queere, künstlerische Partys zu organisieren. Ich hatte gerade gemeinsam mit Pauline Boudry und Brigitta Kuster ein Buch zu einer queeren Perspektive auf Arbeit und Sexualität veröffentlicht – Reproduktionskonten fälschen! –, das wir im Kunstfeld, an Unis und in Infoläden vorstellten. René zeigte das Stück Heidi Hoh, in dem zu unserer großen Belustigung eine Darstellerin die Zeile wiederholt, dass sie die Küche zugemauert hat. Ich war froh, dass wir uns nach einer langen Zeit wiedertrafen – und sehr berührt, dass wir nun an erstaunlich ähnlichen Fragen arbeiteten, obwohl wir offenbar so unterschiedliche Wege eingeschlagen hatten. Pauline, Brigitta und ich zeigten René einen Text, den wir über die Wohnform Boardinghaus als eine Art „Insourcing des Zuhause“ geschrieben hatten und der aus einem kurzen künstlerischen Film entstanden war (Von hier nach Haus‘ in wenigen Schritten, 1999), und René verfasste sogleich einen Theatertext daraus (Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheißhotels, 2001). Über Jahre flatterten uns danach die verschiedenen Übersetzungen dieses Stückes ins Haus, weil wir dort als Ko-Autorinnen genannt waren – ich glaube, mich an eine koreanische Fassung zu erinnern, eine dänische fand ich neulich in meinem Regal.
Wenn ich René in den folgenden zwei Dekaden eher zufällig irgendwo sah, freute ich mich. Ich war irgendwie ganz sicher, dass so ein Moment wiederkommen würde, in dem sich plötzlich Nähe auftut, in dem sich Interessen so überraschend treffen. Ich hätte mir auch gewünscht, noch mehr von Renés extrem lustigen und treffenden Kommentaren über unseren wichtigen und herausfordernden gemeinsamen Anfang in Gießen zu hören. Wie traurig, diesen Gedanken nun loslassen zu müssen.
Renate Lorenz ist Künstlerin und Teil des Duos Pauline Boudry/Renate Lorenz. Als Professorin für Kunst und Forschung leitet sie das Programm PhD in Practice an der Akademie für bildende Künste Wien, gemeinsam mit Anette Baldauf.
Image credit: Courtesy of Renate Lorenz