DER FETISCH IM ZEICHEN SEINER ÄSTHETISIERUNG Tobias Ertl und Leonie Hunter über Fabian Ginsberg bei JUBG, Köln
Waren sind unheimliche Doppelwesen. Wie Karl Marx zu Beginn des Kapitals ausführt, weisen sie neben den konkreten Eigenschaften ihres Gebrauchs eine zweite, unsichtbare und rein soziale, „gespenstische Gegenständlichkeit“ [1] auf, die ihres Wertes. Dieser beruht auf der menschlichen Arbeit, die zu ihrer Herstellung veräußert wurde. Fabian Ginsberg (geb. 1983, Freiburg im Breisgau) sucht dieser Doppelstruktur der Ware mit dem beizukommen, was er eine „psychedelische Semiotik“ nennt: In seiner so betitelten Einzelausstellung bei JUBG inszeniert Ginsberg die gespaltene Strukturlogik kapitalistischer Waren – malerisch, filmisch, linguistisch – als Dissoziation ästhetischer Zeichen. Dabei greift er auf Verfahren zurück, die man allegorisch nennen kann und die sich in einer Traditionslinie antiklassischer Formen vom Manierismus und Barock über die Verfremdungen des Surrealismus bis hin zur konzeptuellen Malerei der Gegenwart verorten lassen. Gekennzeichnet sind Ginsbergs Arbeiten von einer halluzinatorischen Optik, die er – wie wir dem Ausstellungstext sowie dem Skript der im Zentrum der Schau stehenden Videoarbeit entnehmen können – als ästhetische Übersetzung der verrückten „Fetischformen“ (Marx) des Werts begreift..
Wer die Galerieräume durch die voll verglaste Fassade betritt, findet sich zunächst in einem durch zwei Stufen abgesetzten Zwischengeschoss, dem ersten Ausstellungsraum, wieder, von dem aus eine Treppe in die Haupträume im Kellergeschoss führt. Bevor es seit 2021 die Ausstellungsräume der JUBG-Galerie beherbergt, diente das Nachkriegsgebäude in der Kölner Innenstadt unter anderem als Gründungsort des Verlags Walther König, als Karnevalskeller und Diskothek. Der erste Raum ist mit vier, vorwiegend in hellem Grün und Grau gehaltenen Aquarellen behängt, deren klassische Reihung rechts durch zwei weitere Exponate über die ins verwinkelte Untergeschoss führende Treppe hinaus fortgeführt wird. Die Aquarelle zeigen stark abstrahierte Verpackungen von Kosmetikprodukten und gleichen sich in ihrem formalen Aufbau: Jedes Bild zeigt eine verwischte, verschwommene, verwackelte Aufnahme einer Verpackung, auf weißem Hintergrund zentriert, umkreist von einer teils scharf umrissenen giftgrünen, teils wolkig schwarzen Umrandung, die sämtliche Aufmerksamkeit auf die in der Mitte platzierte Ware zieht. Evoziert wird ein Tunnelblick, die Erfahrung eines eingeschränkten Sehens, das nur die unmittelbar im Zentrum des Gesichtsfeldes befindlichen, malerisch verfremdeten Objekte erfasst. So lässt Ginsbergs kapitalismuskritische Pop Art eine gespenstige Aneinanderreihung von Gegenständen des Alltagskonsums als – wahlweise an Giger’sche Monster, Bacons verzerrte Schreie oder O’keef’sche Vulven erinnernde – Schlünde entstehen, die Betrachter*innen in sich hineinzuziehen drohen. Die im Titel angedeutete, psychedelische Verengung auf eine düstere Warenwelt findet ihren Ausdruck im intuitiven Erkennen der dargestellten Gegenstände. Zu sehen sind verfremdete Gebrauchswaren des Alltags, meist eine Niveadose oder eine Packung Lenil (der Schriftzug ist so verschmiert, dass er sich auch als „Lenin“ lesen lässt). Wir wissen, dass da NIVEA oder LENIL steht, nicht weil der Markenname tatsächlich lesbar wäre, sondern weil das Erkennen dieser blauen Dose, die exemplarisch für die ubiquitäre Semiotik der Warenwelt steht, zu einer zweiten Natur geworden ist, die keiner Lesbarkeit mehr bedarf. Dieser identifizierende Mechanismus unserer Wahrnehmung wird jedoch verkompliziert, indem die Gegenstände in raum- und gestaltlose Formen dissoziieren, die nichtsdestotrotz klar als Figuren vor dem weißen Grund abgesetzt sind: figurative Malerei ganz buchstäblich als „gespenstische Gegenständlichkeit“.
Ein verschnörkeltes, weiß lackiertes 50er-Jahre-Geländer, das mehr an Breakfast at Tiffany's als an einen modernistischen White Cube erinnert, führt in einen unheimlichen Kellerraum. Grelles Neonlicht, effektiv in dessen sonderbar verschachtelte Nischen eingesetzt, leuchtet die befremdlich niedrigen, an eine Tiefgarage erinnernden Decken aus und täuscht dadurch einen offeneren Raum vor. Diesen liminal space, der zwischen dem Horror eines verlassenen Industriekellers und dem minimalistischen Glamour eines hochwertig renovierten Galerieraums oszilliert, bespielt Ginsberg mit dem Kernstück seiner Ausstellung, der rund 20-minütigen Videoinstallation Paranoia (2024). Den konzeptuellen Schwerpunkt des Videos bildet ein vom Künstler selbst verfasster und von zwei Performer*innen gelesener Text, der die Bezüge seiner Arbeit zum Fetischbegriff der Marx‘schen Theorie expliziert. Zwei sich gegenüberstehende Monitore sind an vom Boden zur Decke reichende Metallstangen montiert, was es erlaubt, die Installation von allen Seiten zu betrachten. Vor einer großen Spiegelwand sind, Schulter an Schulter, ein Mann und eine Frau zu sehen, die Ginsbergs Text simultan auf Englisch und Deutsch rezitieren. Gefilmt ist die an Jeff Walls Picture for Women (1979) erinnernde Szene von einer mit Handkamera ausgestatteten, dem gegenwartskünstlerischen Produktionsmilieu entsprechend gekleideten Person, die die beiden Protagonist*innen umkreist. Der Text, den sie sprechen, setzt sich aus eher fragmentarisch angedeuteten als theoretisch durchgearbeiteten Überlegungen zum Verhältnis der „Realabstraktion“ (Marx) der kapitalistischen Warenform und der Struktur sprachlich konstituierter Subjektivität zusammen. Einschlägige Referenzen von Marx über Alfred Sohn-Rethel bis zu rätekommunistischen (Paul Mattick) und werttheoretischen (Robert Kurz) Ansätzen werden zu einem in der gegenwärtigen Kunstwelt nicht unüblichen Theorie-Mixtape marxologischer Prägung verarbeitet. Im Hintergrund scheinen neben den dekonstruktiven Marx-Lektüren von Jacques Derrida und Werner Hamacher, welche die „hauntologische“ respektive „spektrale“ Struktur der Warenform herausarbeiten, auch jüngere Ansätze zu einer Verknüpfung materialistischer Ökonomiekritik mit linguistischen und psychoanalytischen Subjekttheorien, zum Beispiel bei Sami Khatib [2] oder Samo Tomšič [3], zu stehen sowie – im Kunstkontext im Allgemeinen und Köln im Besonderen naheliegend – Merlin Carpenters Konzeptualisierung von „Trance“ [4] als kulturelle Codierung der immanenten Außenseite wertförmiger Vergesellschaftung. Die simultane Wahrnehmung der deutschen und englischen Sprechstimmen erschwert das Verständnis des anspruchsvollen Textes und deutet darauf hin, dass es weniger um die Vermittlung von Theorie geht als um eine experimentelle filmische Anordnung. Ein Brecht‘scher Verfremdungseffekt wird dadurch hervorgerufen, dass der hinter ihnen installierte Spiegel nicht nur die beiden Darsteller*innen doppelt, sondern auch die filmende Person ins Blickfeld rückt. Intensiviert wird dieser Effekt, indem die Kamera vom rezitierenden Paar weg an die Seite des Raumes geführt wird, wo Europaletten und allerlei Werkzeug gestapelt stehen. Weder Filmstudio noch Kunstatelier, sondern dem Anschein nach der Hinterraum einer Fabrik oder Werkstatt, wird hier ein Ort nicht der Kunst, sondern von klassisch produktiver Arbeit inszeniert.
Als weitere Spiegelung ist auf dem zweiten Monitor eine kleinere, abgefilmte Version des Videos zu sehen. Zunächst kaum erkennbar, treten im zunächst als Hintergrund erscheinenden Schwarz gespenstisch der Künstler selbst und die Dachschrägen seines Ateliers hervor, in dem er das auf dem Hauptmonitor laufende Video, wiederum vor einem Spiegel, abfilmt. Die zerrspiegelartige Verfremdung der Gegenstände in seinen Malereien aufgreifend, bedient sich Ginsberg auch in der filmischen Arbeit optischer Techniken, einer Vervielfältigung von Spiegelungen, um die verrückte Logik des Warenfetischismus abzubilden. Man kann in Paranoia den Versuch erkennen, die im Marx‘schen Werk allgegenwärtigen optischen Metaphern – von der Camera obscura über die Phantasmagorie bis zum „Wertspiegel“ [5] als Ausdruck des permanenten Gestaltwandels des an sich ungegenständlichen Werts künstlerisch produktiv zu machen. Wie häufig in der diskursbeladenen Gegenwartskunst verschwimmen bei Ginsberg die Grenzen zwischen dem Gebrauchswert theoretischer Analysen und den Schleifen ästhetischer Reflexivität. Der theoretische Nutzen seiner Ausführungen für eine Kritik des gegenwärtigen Kapitalismus ist entsprechend fraglich. In den begrifflich bisweilen etwas klapprigen Konstruktionen bleibt unklar, wie sich die mäandernden Analogiebildungen zwischen Warenform und Subjekt (Kostprobe: „Zwischen Körper und Geist, zwischen Signifikant und Signifikat will ich die Verkörperung des Risses, will ich der Übergang, will ich Geld werden.“) auf die Analyse konkreter Herrschaftsverhältnisse beziehen lassen und damit theoretisch wie praktisch fruchtbar gemacht werden können. Auffällig ist, dass die Beziehung von Warenform zu den Bedingungen proletarisierter und vergeschlechtlichter Arbeit ausgeklammert und einzig die Warenförmigkeit einer gesellschaftlich unbestimmt bleibenden Subjektivität (ich – meint der Künstler sich selbst?) in den Blick genommen werden. Wenn Marx vom Warenfetisch und Sohn-Rethel von der Realabstraktion sprechen, meinen sie jedoch weder einzelne Subjekte, die Geld werden (was soll das bedeuten?) noch die Äquivalenzform des Geldes selbst, sondern die lebendige Arbeit, die in die Warenproduktion fließt und durch den Tausch dieser Waren aller anderen Arbeit abstrakt gleichgestellt wird. Durch diese abstrakte Gleichstellung von konkreter Arbeit – nicht durch die Spekulation einer subjektiven Geldwerdung – entsteht jenes sinnlich-übersinnliche Verhältnis, jener Fetisch, der soziale Beziehungen im Kapitalismus als Beziehungen zwischen Dingen zur Darstellung bringt.
Es darf vermutet werden, dass der Modus einer psychedelischen Semiotik bei Ginsberg auch auf die Theoriearbeit selbst angewandt wurde. So führt die szenische Anordnung und ihre mediale Reproduktion in der Videoinstallation, die den formalen Prinzipien der Spaltung, Verdopplung und Spiegelung folgt, gerade nicht zu einer nachvollziehbaren Auseinandersetzung mit den zitierten, theoretischen Analysen, sondern im Gegenteil zu jener manieristischen Verzerrung, die der Künstler als Allegorie der Fetischform des Kapitals ausweist. Konzeptuell unscharf bleibt dadurch allerdings auch der Status der angewandten künstlerischen Medien und ihrer – wertförmigen? –Produktionsweisen. Im Unterschied etwa zu Carpenters „wertreflexiven“ (Isabelle Graw) Malereien, die in der Nachfolge von Readymade, Institutionskritik und Appropriation Art stets ihre Produktions- und Rezeptionskontexte als Ökonomien künstlerischer Arbeit mitausstellen, scheint die auffallend warenförmige Livingroomability von Ginsbergs Bildern in der vergleichsweise traditionellen Aufteilung zwischen Malereiausstellung und kontextuell rahmendem Videoessay nicht weiter hinterfragt zu werden.
Im ultracleanen White Cube des zweiten, hinteren Raums des Untergeschosses sind Ölmalereien in unterschiedlichen Formaten, klassischen Paaren und Oppositionen ausgestellt – wobei Ginsberg nicht davor zurückgescheut ist, ein großes Bild über einer nur halb verbauten Treppe zu installieren und dadurch die tote Nische unter der Treppe als architektonischen Spannungspunkt des Raumes zu akzentuieren. Wenn auch insgesamt weniger farbig gehalten, wiederholt sich hier der formale Aufbau der Aquarelle. Allen Malereien der Ausstellung ist ihre düstere Zentrierung gemein, die den Blick der Betrachter*innen immer wieder auf den Fokuspunkt der Bildkomposition zurückzieht: Wieder sind es umkreiste und umrissene Nivea- und Lenildosen, auf denen sich hier jedoch millimeterdicke Farbe schichtet und die dadurch wirken, als hätte jemand sie einem zu lange vor dem berauschten Gesicht herumgeschüttelt. Bestandteil dieser Psychedelisierung der Warenästhetik ist auch ein ironisches Spiel zwischen Design und Inhalt. Das Motiv der Hautcreme wird durch eine dem Duktus informeller Abstraktion entlehnte Technik der Verschmierungen aufgegriffen und mit der Materialität des Werkstoffs Farbe verknüpft. So wird der im Produktdesign verborgene Inhalt der dargestellten Verpackungen nach außen gekehrt und auf die Haut der Leinwand angewandt. Allegorisch gesprochen: Der Wert ist eine Crème. Weil diese ins Gewebe der sozialen Welt eingezogen ist, bedarf es der psychedelischen Optik einer sie allegorisch neu aufschichtenden Kunst, um sichtbar zu machen, wie sie abrollt. Allegorische Sprache „occurs whenever one text is doubled by [6] Dabei ist die Technik der Doppelung nicht der Idee einer Hierarchie zwischen Original und Kopie oder Kommentar verpflichtet, sondern geht von vornherein von Verfahren der Reproduktion und Spiegelung, des Zitats und der Appropriation aus. In Ginsbergs Film und Bildern soll der kapitalistische Warenfetisch einer solchen Allegorisierung unterzogen, oder genauer: die Fantastik dieser Form selbst als allegorische Struktur sichtbar gemacht werden. Die anamorphotischen Verzerrungen, die der Künstler den appropriierten Bildern der Warenästhetik antut, die unheimlichen Verdoppelungen und Spiegelungen, in die er die Sprache der Theorie übersetzt, sind die Mittel einer solchen Lektüre. Die psychedelisch-schizophrene Optik soll darin nicht als subjektiv verzerrte Wahrnehmung, sondern, wie im Surrealismus, als objektive Struktur der Wirklichkeit erkannt werden. Ginsbergs Bilder sind Surrealismus im Zeichen der Real-Abstraktionen des Kapitals, Surrealismus als künstlerische Darstellung der objektiven Traumlogik des Werts.
Das Resultat dieser künstlerischen Fantastik des Kapitals ist ästhetisch interessant. Zu fragen bleibt aber, wie sich der beharrlich suggerierte Kritikmodus dieser Arbeiten genau verstehen lässt. Wie verhalten sich die fantastisch-verrückten Erscheinungsformen des Warenfetischs zu gesellschaftlicher Arbeit, und zwar konkret: zu künstlerisch-ästhetischer Arbeit und zu produktiver und reproduktiver gesellschaftlicher Gesamtarbeit, zur Sphäre der Produktion, die Marx zufolge Quelle von Wert und Warenfetisch ist? Bleibt künstlerische Kritik in der ästhetischen Verdopplung des Warenfetischs gefangen, oder vermag sie es, materialistisch zu den Gesetzen seiner – und damit: ihrer eigenen – Produktion vorzustoßen?
„Fabian Ginsberg: Psychedelic Semiotics“, JUBG, Köln, März bis April 2024.
Leonie Hunter ist Postdoc Fellow an der Princeton University. Sie hat die Professur für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main vertreten und war als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen tätig. Ihre jüngsten Veröffentlichungen sind Das Drama im Politischen. Hegels Ästhetik als demokratietheoretischer Traktat (Konstanz 2023) und Tragischer Liberalismus (Campus 2024).
Tobias Ertl ist Kunsthistoriker und lebt in Basel. Derzeit arbeitet er als Postdoktorand im SNF-Projekt „Real Abstractions: Reconsidering Realism‘s Role for the Present“. 2023 wurde er an der Universität Fribourg mit einer Arbeit zur Darstellbarkeit des Kapitals in den Videoarbeiten Melanie Gilligans promoviert. Er arbeitet und publiziert zu zeitgenössischer Kunst und Gesellschaftstheorie.
Image credit: Courtesy of the artist und JUBG, Fotos Mareike Tocha
Notes
[1] | Karl Marx, Das Kapital, Erster Band (= MEW 23), Berlin 1990, S. 52. |
[2] | Sami Khatib, „‚Sensuous Supra-Sensuous‘: The Aesthetics of Real Abstractions“, in: Aesthetic Marx, hg. von Samir Gandesha/Johan Hartle, London 2017, S. 49–72. |
[3] | Samo Tomšič, The Capitalist Unconscious: Marx and Lacan, London 2015. |
[4] | Merlin Carpenter, The outside can’t go outside, Berlin 2018. |
[5] | Ebd., S. 67. |
[6] | Craig Owens, „The Allegorical Impulse: Toward a Theory of Postmodernism“, in: October, 12, 1980, S. 69. |