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ANNE WEBER, FRANCIS PICABIA, KATJA EICHINGER Seen & Read – von Isabelle Graw

Vielleicht sollte diese Ausgabe von Seen & Read passender Vu & Lu heißen: Von den Pariser Banlieues, die Anne Weber für ihr Buch Bannmeilen in Debord’scher Manier durchstreifte, geht es über die museal inszenierte Galerieausstellung von Francis Picabias Gemälden, die aktuell in Berlin zu sehen ist, in ganz andere gesellschaftliche Milieus. Bis an die Côte d’Azur nämlich, die seit Generationen Gutbetuchte aus der ganzen Welt anzieht, wo auch Picabia ein paar Jahre ansässig war und deren Anziehungskraft Katja Eichinger in Das große Blau kulturhistorisch beleuchtet.

Anne Weber, Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen

Aerial view of the Parisian banlieue Saint-Denis, 2016

Aerial view of the Parisian banlieue Saint-Denis, 2016

Die im Zentrum von Paris lebende Anne Weber hat sich in der Manier einer situationistischen „Dérive“ auf eine Tour durch die Banlieues der Seine-Metropole begeben. Gemeinsam mit ihrem Freund Thierry erkundet sie tagelang bei kalter Witterung diese von Autobahnen und Schnellstraßen durchzogenen Vorstädte, in denen Fußgänger*innen eigentlich nicht vorgesehen sind. Weber beschreibt die in diesen Zonen vorherrschenden architektonischen und städtebaulichen Strukturen mit großem Gespür für Details: Grundsätzlich liegt Sperrmüll auf den Straßen, und die einst im Geist des Modernismus erbauten Wohnsiedlungen sind inzwischen zum Teil verrottet oder abgerissen worden. Bei ihren Streifzügen durch dieses dystopische Ambiente treffen die beiden auf verlassene Schlafstätten von Obdachlosen, kaputte Spielplätze und heruntergezogene Rollos. Grünflächen und Aufenthaltsorte sind rar gesät – oft müssen die Autorin und ihr Freund stundenlang laufen, um einen Platz zu finden, an dem sie sich hinsetzen und ihr belegtes Baguette essen können. Dafür säumen Discounter und improvisierte Autowerkstätten ihren Weg. Thierry, dessen Vater in Algerien geboren wurde, spielt die Rolle des über die sozialen und politischen Verhältnisse der städtischen Randzonen bestens informierten Stadtführers. Gelegentlich macht er sich über die Banlieue-Faszination seiner privilegierten Freundin lustig, die sich ihrerseits oft fragt, ob in ihren Beobachtungen und Überlegungen nicht die Voreingenommenheit einer weißen bürgerlichen Frau aufscheint. Wiederkehrender Fluchtpunkt des Romans ist ein Café, das Weber und ihr Freund auf ihren Streifzügen immer wieder aufsuchen. Es dient als Zufluchtsort und soziale Utopie zugleich; denn hier kommt es erstmals zu wertvollen Begegnungen und Gesprächen zwischen den Bewohner*innen der Banlieue und ihren Besucher*innen.

Berlin: Matthes & Seitz, 2024, 301 Seiten.

„Picabias Frauen“

Francis Picabia, “Toréador,” ca. 1937–38

Francis Picabia, “Toréador,” ca. 1937–38

Dass diese Auswahl von Picabia-Bildern aus den Jahren 1925 bis 1950 nun in einer Berliner Galerie zu sehen ist, ist auch mit Blick auf die die finanzielle Situation der hiesigen Kunstinstitutionen ein großes Glück. Vergleichbares entdeckt man in Berliner Museen selten. Entsprechend museal wird die Ausstellung präsentiert, nur ihr Titel – „Picabias Frauen“ – scheint mir unglücklich gewählt. Suggeriert er doch, dass Francis Picabia die auf diesen Gemälden abgebildeten Frauen „gehabt“ habe, dass es „seine“ Frauen seien. Dabei zeugt das zentral gehängte Bild Toréador (ca. 1937/38) ganz im Gegenteil von der Autonomie seines Bildgegenstands. Es wurde leicht überinszeniert im ersten Raum der Galerie auf einer Staffelei platziert, so als solle die Bedeutung seines ohnehin deutlich sichtbaren malerischen Prozesses betont werden. Das Bild zeigt einen weiblichen Torero, der eher untypisch ist, da Stierkämpfer zumeist als Männer imaginiert werden. Der Künstler malte diese Figur in stolzer Pose und mit starrem Blick auf Karton, wobei er den braunen Kartongrund an einigen Stellen durchscheinen und malerisch mitspielen ließ. Es wirkt so, als habe er mit diesem Porträt die Bildsprache von Diego Velásquez und Édouard Manet aufgegriffen und sich zugleich über sie lustig gemacht. Denn das Gesicht der Figur ist mit cremiger Farbe wie mit Make-up zugeschmiert worden, was seinen maskenhaften Charakter überzeichnet. Auch der Bildhintergrund weist locker aufgetragene graue Pinselstriche auf, die „schnelles Zumalen“ suggerieren. Indem Picabia die Stierkämpferin jedoch mit einer als Silhouette angedeuteten Zigarette ausstattet, setzt er sie zu seinen kontroversen „Espagnoles“-Porträts aus den 1920er Jahren in Beziehung: Auch in diesen betont kitschigen Repräsentationen von Spanierinnen in folklorehaften Kostümen wurden letztere oft rauchend dargestellt und dadurch zu emanzipierten Frauen erklärt. Innerhalb der progressiven Kunstgeschichte galt die Serie jedoch lange Zeit als Picabias Sündenfall, man konzentrierte sich lieber auf seine „Maschinenbilder“ – die sich mithilfe von Titeln wie Voilà la femme (1915) oft als latente Frauenporträts ausgaben, weshalb meines Erachtens eine innere Verbindung zwischen ihnen und den „Espagnoles“ besteht. Sowohl die „Maschinenbilder“ als auch die „Espagnoles“ verdeutlichen, dass Repräsentation für Picabia nur als etwas in Anführungszeichen Gesetztes denkbar war.

Neben Toréador hängen noch weitere fantastische Gemälde in der Ausstellung, so etwa Beispiele für Picabias Rückgriff auf pornografische Vorlagen oder für seine „Transparence“-Verfahren. Jedes Bild wurde mit einer nummerierten Plakette versehen, die auf seinen Titel hinweist, was der Ausstellung einen konzeptuellen Touch à la Marcel Broodthaers gibt, da die Nummerierungen an dessen „Fig 1“-Klassifikationen erinnern. Zudem stehen in den Räumen mit blauem Samt bezogene antike Stühle herum, auf denen jedoch niemand Platz nimmt. Sie sind Teil einer bewusst überzogenen Inszenierung, die die Betrachterin an einen anderen Ort transportiert.

Galerie Michael Werner, Berlin, 26. April bis 22. Juni 2024.

Katja Eichinger, Das Große Blau: Côte d'Azur

Colorized photograph of the Cannes Croisette, 1930s

Colorized photograph of the Cannes Croisette, 1930s

Dieses Buch gleicht einem High-End-Reiseführer, in dem jedoch die Tipps fehlen. Stattdessen geht die Autorin ihrer eigenen Faszination für die Côte d’Azur auch mit Blick auf deren Kulturgeschichte nach. Seit Jahren schon fährt sie in ihre Wohnung nach Cannes – und dies, obwohl sie kein Strandtyp ist und sich weder für teure Autos noch für Celebrities begeistert. Was sie hingegen umtreibt, ist die historische Anziehungskraft dieser Luxusdestination. So erfährt man, dass der europäische Hochadel ursprünglich nur im Winter an die Côte d‘Azur kam, um dort zu kuren. Erst im Zuge der Ankunft wohlhabender Amerikaner*innen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Strandurlaub an der Cote d‘Azur fashionable. Auch wenn die in diesem Buch versammelten historischen Informationen, etwa zur Gründungsgeschichte der Filmfestspiele in Cannes, zuweilen wie umformulierte Wikipedia-Einträge anmuten, gelingt es der Autorin, die krassen sozialen Widersprüche dieses Küstenstreifens greifbar zu machen. Die Côte d‘Azur wird einerseits als ein Ort der Megareichen beschrieben – im Hafen von St. Tropez liegen Milliarden-Vermögen in Form von Superyachten. Doch zugleich wird an die zahlreichen Geflüchteten erinnert, die oft vergeblich über die italienische Grenze nach Südfrankreich zu gelangen versuchen. Die Autorin bringt auch Persönliches in ihre Erzählung ein, wenn sie etwa einen Besuch in Monte Carlo erwähnt, den sie aufgrund des schmerzhaften Anblicks einer Skulptur ihres Exfreundes in einer Galerie vorzeitig abbrechen musste. Von einsamen Meerspaziergängen und Wanderungen mit wunderschönen Aussichten, für die die Côte d‘Azur prädestiniert ist, wird ebenfalls berichtet. Kulinarisch hebt Eichinger vor allem ihre Vorliebe für den Salade niçoise hervor, von dem sie sich nahezu ausschließlich zu ernähren scheint.

Berlin: Aufbau Verlag / Blumenbar, 2024, 208 Seiten.

Isabelle Graw ist Herausgeberin von TEXTE ZUR KUNST und lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt/M. Ihre jüngsten Publikationen sind: In einer anderen Welt: Notizen 2014–2017 (DCV, 2020), Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021) und Vom Nutzen der Freundschaft (Spector Books, 2022).

Image credit: 1. Photo Rob Kulisek; 2. Public domain; 3. Courtesy Galerie Michael Werner, photo Jens Ziehe; 4. Public domain