Gegenwart und Eigensinn, Matthias Dell über den Film "Totem" von Jessica Krummacher
Marina Frenk in "Totem", © Filmgalerie 451 (Photo: Jens Pussel)
Hat ein Film eine Architektur? Jessica Krummachers Debüt „Totem“ erschließt die Welt, die er beschreibt, durch Bilder (Kamera: Moritz Schultheiß, Björn Siepmann), die eben diesen Begriff nahelegen. Man könnte sagen, „Totem“ baut sich ein Haus, und dieses Haus besteht aus den Innenräumen, die der Film zumeist wie Tableaus einfängt, statisch, breit, und aus Außenräumen, die allesamt Gänge sind, Fluchten, beweglich, eng. Wo das Reden von der „Architektur“ Eingang gefunden hat in die Alltagssprache, etwa im Zusammenhang mit Software oder Sicherheit, wo "Architektur" also eine Metapher geworden ist, die auf eine Veredelung, vielleicht auch Vernebelung von Kontexten zielt (deswegen ist der Begriff für Politiker und Projektvorsteller attraktiv), ist ein Gebilde gemeint. Nüchtern betrachtet: ein Gebilde, für das als sprachliches Bild das „Haus“ nicht mehr in Frage kommt, weil es mit einer Statik assoziiert wird, die den dynamischen oder auch fragilen Prozessen der Gegenwart (Software benötigt laufenden Updates, Instandhaltungsmaßnahmen) nicht genügt.
Benno Ifland und Natja Brunckhorst in "Totem", © Filmgalerie 451 (Photo: Jens Pussel)
Insofern wäre die „Architektur“ als Metapher für den Film eine Option, weil dessen Gebilde sich ebenso unsichtbar vollzieht wie der Quelltext für eine Software. Außerdem ist der Film als solcher in einem viel komplexeren Maße flüchtig: Er malt uns in bewegten Bildern eine Wirklichkeit auf die Leinwand, die sich nur in diesem Moment des Gesehenwerdens durch Projektion realisiert. Das ist die Ebene der Genese, die Materialität der hergestellten Erzählung, auf die Krummachers Film den Zuschauer in besonderem Maße aufmerksam macht: Man sieht in „Totem“ immer auch, was der Film eigentlich für eine eigenartige Kunstform ist, und man sieht das gerade daran, wie „Totem“ Raumfragen für sich entscheidet als integralem Teil der Geschichte, die er erzählt.
Alissa Wilms und Fritz Fenne in "Totem", © Filmgalerie 451 (Photo: Jens Pussel)
Die Welt, die Krummacher beschreibt, wirkt auf den ersten Blick klein. Eine junge Frau, Fiona (Marina Frenk), kommt in eine Familie als Haushaltshilfe. Fiona ist vor etwas geflohen, es gibt ein Telefonat mit der Mutter, bei dem die Bilder und das Wissen des Zuschauers um die Tätigkeit Fionas, die Erklärungen als Ausflüchte erscheinen lassen. Familie Bauer ist kleinbürgerlich und zerzaust, das Haus bewohnt sie in manchen Moment wie das Museum eines Lebens, das sich eben nicht oder nur unbewusst um Distinktion durch Einrichtung, wie es bei geschlosseneren, bürgerlichen Vorstellungen von Besitz üblich ist. Mutter Claudia (Natja Brunckhorst) hält sich ein Zimmer, in dem das so etwas wie Leben oder Wirklichkeit nachgebildet ist als Produkt: Gemeinsam mit Fiona sorgt sie sich um täuschend „echte“ Babypuppen, die in ein eigenes Bettchen gelegt werden. Daneben steht das Ungetüm einer Sonnenbank, das Claudia den Gang ins Licht erspart. Vater Wolfgang (Benno Ifland) geht einer Tätigkeit nach, von der man als Zuschauer nicht erfährt, worum es sich handelt, wie „Totem“ überhaupt bewusst unscharf bleibt in vielen Punkten. Tochter Nicole (Alissa Wilms) erzählt von einer Reitgelegenheit und hat mit Ulli (Fritz Fenne) einen Freund, der jüngere Sohn Jürgen (Cedric Koch), den Fiona zum Schwimmen begleitet, wirkt in einem stärkeren Sinne abgekapselt von dem Rest der Familie. Deren Mitglieder leben sowieso einzeln vor sich hin, weshalb man sagen könnte, „Totem“ sei ein Film über Beziehungslosigkeit, wenn dieses Wort nicht so verbraucht wäre als letzter Strohhalm von Interpretation für so viele junge deutsche Filme, denen es an Triftigkeit mangelt.
Natja Brunckhorst und Marina Frenk in "Totem", © Filmgalerie 451 (Photo: Yoko Dupuis)
Welchen Ort hat ein Film? Im an einem Realismus deutschen Gegenwartsfilm verdankt sich die Wahl des Ortes zumeist einer Motivsuche, die durch Förderanforderungen und Budgetfragen bestimmt wird. In seltenen Fällen, etwa in den Filmen Christian Petzolds, irritiert das Zusammenspiel von Kulturräumen (Meer, Wald, Stadtreste) die Wahrnehmung des auf „Glaubwürdigkeit“ oder „Logik“ von Realismus trainierten Zuschauers. „Totem“ stellt die Frage nach dem Ort wiederum auf eine pointierte Weise: Es gibt einen Realismus des konkreten Ortes (das Haus der Familie Bauer), dessen Bezüge zu seiner Umgebung aber gekappt sind. Wenn die Kamera das Haus verlässt, führt sie an Nicht-Orte, Tunnel, Trampelpfade, Autobahnbrücken. Die Spaziergangsforschung, die sich auf eine nicht hierarchisierte Umwelterfahrung kapriziert hat, spricht dann von Situationen. Dabei handelt es sich um Scharniere eines Urbanismus, für den es keinen Plan gegeben hat, die Randgebiete eines Funktionierens von gesellschaftlichem Leben. Die Lage dieser Zwischenräume beschreibt die Beziehung, die „Totem“ zu einem größeren Ort in Wirklichkeit unterhält, ganz gut. Man könnte sagen, „Totem“ ist ein Raumschiff, das in räumlicher Selbstgenügsamkeit und eigener Zeit gelandet ist einer Welt, die wir als unsere Gegenwart erahnen können. Die können die Protagonisten betreten, integriert sind sie aber nicht.
Marina Frenk in "Totem", © Filmgalerie 451 (Photo: Jens Pussel)
Dass der Film in Bochum gedreht wurde, kann man nur dem Presseheft entnehmen. Ein aufmerksamer Beobachter wird jedoch die prekäre Landschaft, die hier gezeigt wird, nicht im Osten Deutschlands verorten (von dem sich in seiner Nachwendeperforation, auch dank der Förderanforderungen und Budgetlimitierungen, mittlerweile eine eigene Ikonografie schreiben ließe), sondern eben im Westen (und sei es durch das Schwimmbad Jürgens, das in seiner robusten Buntheit vom kommunalen Selbstbewusstsein der siebziger und achtziger Jahre in der alten Bundesrepublik kündet). Das Ruhrgebiet ist als große Stadt, die keine ist, das treffendste Bild eines urwüchsigen Urbanismus, und es ist Teil eines aktuellen Diskurses über die Verteilungsströme von Steuergeld.
Natja Brunckhorst und Marina Frenk in "Totem", © Filmgalerie 451 (Photo: Jens Pussel)
Konkret wird der abstrakte Raum, den „Totem“ behauptet, durch die Lesbarkeit als Ort in einem brüchig gewordenen gesellschaftlichen Zusammenhang. Die dysfunktionale Familie ist anschlussfähig an die Debatte vom abgehängten Westen, der zwanzig Jahre nach der Dauersubventionierung des hinzugekommenen Ostens, eine Schieflage steuergeldlicher Förderung meint, deren übergeordnetes Problem doch vor allem im niemals gelingenden Anschub zur finanziellen Unabhängigkeit besteht, sondern auf fortwährende Alimentierung gestellt bleibt. Familie Bauer, zuerst Mutter Claudia, erzählt die Geschichte eines Zurückbleibens, „Totem“ liegt im fernen Winkel einer Zeit, die nicht mehr an Besserung und Entwicklung glaubt. Zugleich könnte man durch die – auf dem Niveau von „Glaubwürdigkeit“ – absurde Setzung der Haushaltshilfe in einer unterprivilegierten Familie Verbindungen zur Frage des Betreuungsgeldes herstellen. Nicht in einem polemischen Sinne, wonach Existenzen, die durch Sozialleistungen gestützt sind (wenngleich man das bei „Totem“ durch die Accessoires des hier beschriebenen Milieus immer nur vermuten will), solchen Luxus sich auch noch leisten können. Sondern in einem größeren Zusammenhang, der die Frage nach dem Sinn von Arbeit und Leben aufwirft, letztlich einem Funktionieren von Gesellschaft, in der Wohlstand in ausreichendem Maße vorhanden ist, so dass davon wie in den kapitalistischen Erzählungen seit dem Beginn der Industrialisierung nicht mehr als Ziel geträumt werden muss.
„Totem“ souffliert diese Bezüge nicht, bleibt aber gerade durch seinen ästhetischen Eigensinn, sein Nebeneinander von Unmittelbarkeit und Verdichtung dafür offen. Dieser Eigensinn zeigt sich nicht zuletzt in zwei Passagen, eine nach dem ersten Drittel, die zweite am Ende des Films. In denen wird mit zwei Prosafragmenten, gesprochen aus der Subjektive Fionas – die dadurch einen herausgehobenen, allwissenden Platz in der Anordnung des Spiels einnimmt –, eine Art literarischer Kommentar geliefert. Die Texte machen „Totem“ zu einem Hybrid, das auch auf eine Antwort auf die Frage nach dem Wozu des Films angesichts seines krisenhaft geworden ist: „Im Wald gibt es Tiger und Löwen, das ist das einzige, was ich weiß.“
„Totem“ von von Jessica Krummacher, Deutschland, 2011, 86 Min.