Sean Scully
Diptych (2025)
Sean Scully zog Mitte der 1970er Jahre nach New York, wo aus den kombinierten Einflüssen von Minimalismus und Op Art akribisch ausgeführte Werke entstanden, die die Figur-Grund-Unterscheidung auf verwirrende Weise aufzuheben scheinen. Anfang der 1980er Jahre wechselte Scully zu einer stärker vermenschlichenden Herangehensweise, die der Abstraktion emotionale, autobiografische oder metaphorische Züge verleiht. Obwohl die Beziehung zwischen Horizontalen und Vertikalen für diese pulsierenden, manchmal auch melancholischen Gemälde weiterhin zentral ist, enthalten sie bewusst gesetzte Konnotationen, die über jene des rationalistischen Rasters hinausgehen, wie etwa der Horizont einer Landschaft oder die Präsenz und die unterschiedlichen Formen des menschlichen Körpers. Auch verwischen diese Arbeiten die Grenzen zwischen Hintergrund und Oberfläche, sei es durch Verfahren der Schichtung und Faltung, durch die Einbettung eines Bildes in ein anderes oder durch kompakte Blöcke schwarzer Farbe, die den Eindruck von Öffnungen oder Löchern erzeugen. Für seine Edition für TEXTE ZUR KUNST tauschte Scully die Oberfläche der Leinwand gegen die des Bildschirms. Mit der „Notizen“-App seines iPhones erstellte er eine digitale Zeichnung, die an seine Serie „The 50“ (2021) anschließt. Sie erinnert zwar an zwei in vertikaler Anordnung platzierte Scully-Gemälde – das „Diptych“ im Titel der Edition –, doch das Fehlen vergleichbar harter Ränder um die beiden Kompositionen verändert ihre Wirkung deutlich und erzeugt den Eindruck, dass sie vor einem neutralen Hintergrund oder im leeren Raum schweben. Ihre Nähe zu Scullys Malerei legt allerdings noch eine andere Lesart nahe: In die Materialität eines Pigmentdrucks übertragen, wird der leere Grund des iPhone-Displays eher zu einer Oberfläche als zu einem Trägermaterial, und die Markierungen, die Scullys Finger hinterließ, erscheinen wie Öffnungen, die die darunter verborgenen menschlichen Untiefen gleichzeitig kaschieren und verraten.
