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FLUCHTEN EINES ALBTRÄUMLINGS Hans-Christian Dany über Kai Althoff im Ausstellungsraum ­nervi ­delle volpi, Genua

„Kai Althoff: di costole“, nervi delle volpi, Genua, 2024

„Kai Althoff: di costole“, nervi delle volpi, Genua, 2024

Kai Althoffs jüngste von seiner Berliner Galerie Neu initiierte Ausstellung in Genua war als Gesamtkunstwerk konzipiert, in dem sich Malerei, Architektur und Inneneinrichtung zu einem szenisch-narrativen Ganzen verschränkten. Hans-Christian Dany verbindet seine Eindrücke vom Vernissage-Geschehen hier mit Gedanken zu früheren Projekten des Künstlers. Mit einer persönlichen Verbindung nach Genua beginnend, deckt seine erzählerisch angelegte Besprechung ungeahnte Parallelen auf zwischen Althoffs Ausstellung und dem von Sigmund Freud inspirierten Duft eines Wiener Parfümeurs. Darüber hinaus bietet sie einige weitere (alb-)träumerische Deutungsansätze.

Zufällig kenne ich einen Einbrecher in Genua. Ich empfahl ihm den Besuch der Kai-Althoff-Ausstellung im dortigen Pop-up der Galerie Neu. Er ging hin und schrieb begeistert: „Habe noch nie solche Gemälde gesehen! Eine Entdeckung! Grazie mille!“ Den Palazzo, in dessen erstem Stock sich der kürzlich eingerichtete Ausstellungsraum namens nervi delle volpi befindet, kannte er aber schon, da er das Gebäude bereits vor einigen Monaten inspiziert hatte. Doch bei der ersten Begehung war alles noch eine Baustelle gewesen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Mein Freund knackt gerne Türen, klaut aber wenig, da er kaum etwas braucht. Das Durchstreifen von verschlossenen Räumen ist für ihn ein Spiel mit dem Kick der verbotenen Handlung. Auch Kai Althoff hatte in der Vergangenheit eine ausgeprägte Neigung zu Grenzüberschreitungen. Auf einer Party in den frühen Nullerjahren behauptete er sogar einmal, in die eigene Ausstellung „gekackt“ zu haben. Fast zeitgleich schrieb er zu der gemeinsamen Schau mit Armin Krämer im Braunschweiger Kunstverein 2002 über einen Konflikt mit sich selbst: „In mir entsteht ein Kampf, denn in Wirklichkeit möchte ich abtöten, was diese beiden (die beiden ‚Draufgänger‘) darstellen.“

In Genua zeigt sich jetzt, 22 Jahre später, weniger der mit sich ringende Draufgänger Althoff als vielmehr ein Maler, der Ja zu dem sagt, wohin der Pinsel ihn führt. Zwar handelt es sich bei Althoffs Kunst schon immer um eine Bejahung des Sichtbarwerdens. Im Moment des Ausstellens machte der Künstler seinem Ja jedoch oft einen Strich durch die Rechnung. Konstruktiv zog er ihn 2012 in seinem „Absagebrief“ an die Leiterin der dOCUMENTA (13), womit sich das handschriftliche Nein in ein auratisch aufgeladenes Ausstellungsobjekt verwandelte. Kompliziert durchbrochen wirkte der Strich in der idiosynkratisch installierten und in Teilen verpackt gebliebenen Retrospektive im Museum of Modern Art in New York (2016), wo das Insistieren auf künstlerische Selbstbestimmung von der Presse zum Skandalon verklärt wurde. An einem Ort, an dem für gewöhnlich vor allem die Kuratierenden über die Auswahl und deren Hängung bestimmen, nahm Althoff alles selbst in die Hand und bestand darauf: So oder gar nicht!

Althoffs Suche nach Integrität sagte aber auch immer wieder Ja: Besonders schön tönte das bei „Häuptling klapperndes Geschirr“ (2018/19). Das New Yorker Tramps, Austragungsort dieser Ausstellung, schien in seinen Anfangstagen noch ein cool undurchsichtiger Ort, obwohl es sich um ein getarntes Ziehkind der Galerie Michael Werner handelte. Als Räumlichkeit diente dem Unternehmen eine in die Jahre gekommene Ladenpassage oberhalb eines Supermarktes für asiatische Lebensmittel in Chinatown. Wegen der Lage des zweistöckigen Gebäudes unter einer U-Bahn-Brücke klapperten alle paar Minuten die zu Pyramiden aufgetürmten Champagnerschalen in der Tramps Bar. In der Galerie flanierten die Gäst*innen hingegen auf einem weichen, die Geräusche schluckenden Untergrund aus flach gedrückten Umzugskartons. An den Wänden hingen reduzierte Tuschzeichnungen, in denen sich Althoff mit chinesischer Kalligrafie auseinanderzusetzen schien. „That nothing was ever a reality, as no reality ever exists“, erklärte dazu der dem Ton zufolge vermutlich von Althoff selbst verfasste Pressetext.

„Kai Althoff: di costole“, nervi delle volpi, Genua, 2024

„Kai Althoff: di costole“, nervi delle volpi, Genua, 2024

Die Bezüge der Ausstellung in Genua mögen andere sein. Doch auch hier bleibt der Alltagslärm hinter den verschlossenen, mit Vorhängen verhängten Fenstern auf der Straße, während sich im Innenraum eine Wirklichkeit neben der Wirklichkeit entfaltet. Die Bildoberflächen sind von leichtem Matt und stumpfer Tiefe. Konturen von Figuren wachsen aus Flächen in den Farben einer anderen Zeit. Gelb und Braun ziehen sich wiederholt ins Dunkle zurück. Grün changiert. Kein Strich wirkt mechanisch, nichts riecht nach Produktion. Vor den Bildern denke ich an Pierre Bonnard, manchmal auch an Édouard Vuillard. Getragen werden viele Malereien von geformten Keilrahmen, die das gerade Rechteck vermeiden. Durch manchen verzogenen Rahmen ziehen sich Nähte wie Narben auf einem verletzten Körper. Mag zuerst der Eindruck entstehen, hier hingen einfach Bilder an den Wänden, entpuppt sich die Askese bald als doppelbödig. Das installative Moment ist jetzt weniger offensichtlich als in früheren Althoff-Ausstellungen. Es tarnt sich mit schweren Türrahmen, ornamentierten Böden und sorgfältig gewählten Einrichtungsgegenständen zunächst als Räumlichkeit einer anderen Zeit – dann fügen sich die Sitzgelegenheiten und Pflanzen jedoch zu einem großen, künstlerisch kuratierten Ganzen. Die Malereien verspannen sich so eng mit dem Interieur, dass ich mich frage, ob das alles eine räumliche Fiktion ist, mit dem Titel „nervi delle volpi“. Nun beginnt fast jede bessere Ausstellung mit einer spekulativen Behauptung, aber die „Nerven der Füchse“ lesen sich wie eine Novelle, die von einer möglichen Ausstellung als Spiel erzählt. Andererseits ist „Spiel“ ein vager Begriff, und als Glücksspieler wäre Kai Althoff falsch beschrieben, da er wenig dem Zufall überlässt. Lieber als auf den Fall der Kugel im Kessel zu wetten, spielt er Spiele, bei denen er den Joystick fest in der Hand hält. Im Katalogheft zur Ausstellung in Genua schreibt Giulia Ruberti, es ginge hier um Spiele, wie Kinder sie spielen, aber auch um jene „gefährlichen und perversen“, wie sie ihr zufolge gern im Übergangsstadium zur Adoleszenz gespielt werden, worauf eine Auflistung mehr oder minder erotischer Praktiken folgt, bei denen Menschen von „verwirrten Trieben“ heimgesucht werden. Derart aufgeladen tut sich in der Ausstellung vor allem die Toilette hervor. Sie befindet sich hinter einer in die Wand eingelassenen Tür, gleich neben einer Stadtlandschaft, von deren Tiefe eine besondere Anziehung ausgeht. Alle können sehen, wer gerade dorthin muss. Als wäre der exponierte Gang zum Austreten nicht schon übergriffig genug, hat man den engen Raum komplett verspiegelt. Die sich Entleerenden werden dadurch gewissermaßen zum Anblick ihres Geschlechts gezwungen. Die Konfrontation mit dem schambehafteten Teil des Körpers korrespondiert mit einem halb geöffneten Barschrank im hinteren der drei Ausstellungsräume, dessen Inneres ebenfalls mit Spiegeln verkleidet ist. Was oben hineinkommt, fließt unten heraus.

Der umfangreiche Umbau nach dem Einzug der Galerie hatte einen Vorlauf: Kai Althoff wird seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre von der Galerie Neu vertreten, hat in deren Räumen aber seit über 20 Jahren nicht mehr ausgestellt. Deshalb gab es mittlerweile wohl wenig Hoffnung, ihn noch einmal zu diesem Zweck in den nüchternen Plattenbau nach Berlin-Mitte locken zu können. Als einer der beiden Galeristen dann vor zwei Jahren den Palazzo in Genua entdeckte, fragte er Althoff, ob er dort eine Ausstellung einrichten wolle. Wie mir berichtet wurde, war der Eingeflogene begeistert, verlangte aber eine Reihe von Renovierungen. (Jetzt denke ich kurz an ein anderes Haus, aus dem mir mein Freund, der Einbrecher, einmal Handybilder schickte, da ich ihm den Tipp gegeben hatte, sich das Gebäude einmal von innen anzusehen: die Villa Jako in Hamburg. Karl Lagerfeld hatte diesen zuvor von einer Kapitänsfamilie bewohnten Bau im Gedenken an seinen Liebhaber Jacques de Bascher nach dessen Tod erworben, dort aber nie gewohnt; er beschränkte sich darauf, das Gebäude neu einzurichten, um das aufgewertete Objekt am Elbhang anschließend mit Aufpreis weiterzuverkaufen.)

Kai Althoff, „Untitled“, 2024

Kai Althoff, „Untitled“, 2024

Der Palazzo in Genua wurde aber nicht nur nach Althoffs Vorstellungen renoviert und mit einem Interieur versehen, auch saßen beim Dinner nach der Eröffnung alle 90 Gäst*innen im Restaurant dort, wo der Künstler sie persönlich platziert hatte. Ich fragte mich, warum ich ausgerechnet mit der Dame sprechen sollte, die gerade eine U-Bahn-Strecke in Shanghai entwarf. Da ich mit keinem so strahlenden Projekt aufwarten konnte, versuchte ich ihr zu erklären, warum mich Althoffs Ausstellung an das Parfüm „Unheimlich“ von Wiener Blut erinnert. „Nach Freud ist uns das Unheimliche gleichzeitig vertraut sowie fremd“, heißt es im Werbetext. „Der Duft ist ein Versuch, diese Qualität zu erfassen – dunkel, clean, unrein, unschuldig, erotisch, aufregend und faszinierend –, er passt in keine gängige Kategorie.“ Trotz meines Fauxpas, beim Essen, wenn auch indirekt, über die Ausstellung zu sprechen, stieg die U-Bahn-Planerin sofort auf meine Übertragung der Parfümprosa auf Althoffs Kunst ein. Ja, das sei in vielerlei Hinsicht zutreffend. Aber gehen Künstler und Parfümeur wirklich ähnliche Wege? Alexander Lauber, der Macher des Nischendufts, ermittelt zunächst mit einigem Aufwand die Geheimformeln aus der Zeit der kaiserlichen und königlichen Monarchie. Anschließend lässt er die Düfte durch Begriffe der Moderne laufen, wie in diesem Falle Sigmund Freuds Deutung des Unheimlichen, um am Ausgang dieser Zeitreise zu einem Parfüm auf der Höhe der Zeit zu gelangen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Althoff hingegen die Themen seiner Bilder aus den Tiefen seines gedanklichen Archivs gräbt. Er scheint seine Bilder schon seit einer Ewigkeit mit sich herumzutragen, da er offensichtlich mit seinen Albträumen in einem heimeligen Nahverhältnis lebt. Und zeitgenössisch wird Althoff gerade dadurch, dass er sich in verzerrter Perspektive von der Gegenwart abwendet. Ein Bild zeigt ein Mädchen in einem Waffenladen, das in seinen Händen eine Flinte wiegt. Hinter dem Tresen steht der Verkäufer, hinter dem wiederum sich die dunkle Silhouette eines übergroßen Mannes abzeichnet. Auf einem anderen Gemälde schneidet ein Mann einer am Boden knienden Frau, deren Hände hinter dem Rücken gefesselt sind, die Schnüre auf. Wo die Gewalt weniger deutlich ist, zeigen sich verhangene Gesichter. Alle Bilder umflort eine versonnene, träumerische, manchmal beklemmende Atmosphäre.

„Dass wir etwas älter sind als nur von heute, habe ich immer für selbstverständlich gehalten“, zitiert die U-Bahn-Designerin Botho Strauß. „Aber reagieren wir deshalb jetzt so stark auf Althoffs Bilder?“ Darauf dargestellt sind Außerirdische, deren Grausamkeit vertraut scheint. Die Sammlerin von der anderen Seite des Tisches schaut empört zu uns herüber, da wir immer noch mit der Ausstellung befasst sind. Für die Dame ist das Thema längst durch; denn sie hat ihr Bild wohl schon bekommen, doch ohne Discount, aufgrund der großen Nachfrage, wie im Hintergrund mit Genuss betont wurde.

Sportlich betrachtet wirkt die Ausstellung wie ein gelungener Coup in einer schwierigen Zeit – auch für den Handel mit Kunst. Sie darauf zu reduzieren oder die Bildwelten allein als Rückzug in eine eskapistische Melancholie zu betrachten, wäre jedoch unangemessen. In einem Moment, in dem sich die Ereignisse in einer Fülle von Momentaufnahmen überschlagen und eine langsame Sprache wie die der Kunst kaum geeignet scheint, schrittzuhalten, wirkt Althoffs Beharren auf der Auseinandersetzung mit selbst aufgeworfenen Fragen wie eine Möglichkeit. Nicht im Sinn einer Flucht ins Schöne, sondern als widerständige Haltung, die in erschwerten Umständen standhält.

„Kai Althoff: di costole“, nervi delle volpi, Genua, 5. Oktober bis 14. Dezember 2024.

Hans-Christian Dany lebt in Hamburg. Zuletzt veröffentlichte er das Buch Schuld war mein Hobby. Bilanz einer Familie (Edition Nautilus, 2024) und kuratierte gemeinsam mit Valérie Knoll die Ausstellung „Udo is Love. Zeit ist die Sünde – Eine Reise in das unfassbare Leben des Udo Kier“ im Kölnischen Kunstverein (2024).

Image credit: Courtesy of Kai Althoff and nervi delle volpi, Genua, fotos Stefan Korte