Durch die Ereignisse der letzten Jahre ist der Wunsch gewachsen, verschiedene Gewaltformen begrifflich zu bewältigen. In seiner diskurshistorischen Analyse erörtert Helmut Draxler, inwiefern die Terminologie des Todestriebs diesen erfüllen kann. Dass weder eine rein biologistische Ausdeutung noch eine allgemein kulturtheoretische Interpretation präzise genug ist, um spezifische Gewaltexzesse in ihrem historischen Kontext zu beschreiben, erschließt sich bereits aus der Lektüre von Sigmund Freuds Schriften zum Thema. Gleichwohl, so Draxler, lohnt es, am Begriff des Todestriebs festzuhalten, sofern er sich eben nicht im Essenzialismus oder Anti-Essenzialismus verfängt. Denn der „Todestrieb“ erlaubt es, Gewalt in ihren Ausprägungen sprachlich zu verhandeln.
Es gibt wohl kaum ein prekäres soziales Phänomen, das nicht schon durch den Todestrieb erklärt oder besser wegerklärt worden wäre. Die Faszination, die der Begriff ausstrahlt, reicht weit über die psychosozialen Aggressionsneigungen Einzelner hinaus – den Mordinstinkt etwa, von dem das Genrekino häufig spricht. Sie verleitet dazu, die sozialen Miseren der Gegenwart in ihren krisenhaften oder katastrophischen Dimensionen insgesamt auf den Begriff zu bringen. Und tatsächlich wäre es verlockend, ein einigendes Prinzip hinter so unterschiedlichen Erscheinungsweisen wie den heute allgegenwärtigen medialen Hass-Mobilisierungen, den selbstzerstörerischen Tendenzen in Bezug auf die natürlichen Gegebenheiten des Lebens, dem Hang zu Diskriminierung und Ausbeutung, aber auch dem „Rigorismus der Moral“ und schließlich dem Krieg selbst als oberster Instanz aller Destruktivität auszumachen. Ein solches Prinzip ließe die Frage nach dem Bösen, das eine säkulare Gesellschaft weder in der Figur des Teufels verkörpern noch an diese Figur delegieren kann, als beantwortbar erscheinen, und zwar im Sinne eines integralen Bestandteils menschlicher Existenz. Allerdings ist von hier aus der Weg in einen radikalen anthropologischen Pessimismus nicht weit, der sich noch in das Projekt seiner kritischen oder „heilenden“ Bearbeitung einschreiben würde.
Legt man den Begriff des Todestriebs nämlich buchstäblich aus, wird er zur biologistischen Banalität; wenn er jedoch anti-essenzialistisch dekonstruiert und in einem weiteren Referenzfeld ausgelegt wird, gerät er in Gefahr, jede Spezifik und damit seinen Sinn zu verlieren. Wie aber ließe sich vom Todestrieb sprechen, ohne ihn in eine solche doppelte Ausweglosigkeit zwischen Essenzialismus und Anti-Essenzialismus zu treiben? Voraussetzung hierfür wäre, nicht an der Frage anzusetzen, ob es ihn tatsächlich gibt – oder eben nicht; entscheidender wäre zu untersuchen, was der Begriff zu leisten imstande ist und wie das Problem seiner positiven Bestimmbarkeit angemessen adressiert werden kann. Bekanntlich hatte Sigmund Freud den Todestrieb, eine Anregung von Sabina Spielrein aufnehmend, im Rahmen einer Neufassung seiner dualistischen Trieblehre im Jahr 1920 als dunklen Gegenspieler der Lebenstriebe in Stellung gebracht. Es sind klinische Einsichten, ausgehend vom Wiederholungszwang, wie er ihn bei den traumatischen (Kriegs-)Neurosen feststellen konnte, die ihn dazu bewegten, die Herrschaft des Lustprinzips infrage zu stellen und den frühen Gegensatz von Libido und Ich- bzw. Selbsterhaltungstrieben in eine neue, fundamentalere Polarität von aufbauenden und zerstörerischen Kräften umzuwandeln, wie er sie etwa in der Zellbiologie am Werk sah. Entscheidend für sein Postulat eines negativen Prinzips im Leben selbst sind zwei Annahmen: zum einen die Vorstellung eines im Todestrieb verkörperten „Bedürfnis[ses] nach Wiederherstellung eines früheren Zustandes“ , und zum anderen die konstitutive „Unauffälligkeit“ des Todestriebs, die ihn nur in der Legierung mit den Lebenstrieben fassbar macht, etwa als Sadismus oder Masochismus. Doch bald schon überträgt Freud diese klinischen Analysen und metapsychologischen Annahmen in kulturtheoretische Interpretationsmuster und versucht, damit Phänomene wie den Krieg und das Schicksal der Menschheit insgesamt im Wechselspiel von Eros und Thanatos zu verankern. Hierfür muss er eine Wendung des Todestriebs von einer inneren Rückkehr ins Anorganische hin zu einer nach außen gerichteten Destruktivität gegenüber anderen postulieren, und, wie in allen kulturtheoretischen Schriften, bleibt er dabei dem für ihn typischen anthropologischen Kurzschluss zwischen Phylo- und Ontogenese verhaftet.
Und obwohl Freud noch 1915 ein „zeitgemäßes“ Sprechen über Krieg und Tod einfordert, fehlt seiner Todestrieb-These – wie der Triebtheorie insgesamt – eine Verankerung in den spezifischen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen, die jeder Form von Destruktivität erst ihre spezifische Gestalt verleihen. In gewissem Sinn könnte man sagen, dass sich Freuds Kulturtheorie der Geschichtlichkeit des Todes und des Krieges widersetzt. Fragen nach der strukturellen oder subjektlosen Gewalt sind mit ihr nicht zu beantworten, und damit schwindet auch die Brauchbarkeit des Begriffs, die besonderen modernen Gewaltverhältnisse zu fassen; etwa die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“, von der Karl Marx als Inbegriff der frühmodernen, den Kapitalismus inaugurierenden Gewaltexzesse sprach, aber auch die revolutionäre Massenmobilisierung und der daraus resultierende Volks- bzw. Befreiungskrieg, die Industrialisierung der Kriegsmaschinerie und die kolonialen bzw. nationalsozialistischen Vernichtungsexzesse.
Lassen sich nun in den essenzialistischen bzw. anti-essenzialistischen Reformulierungen des Begriffs bei Melanie Klein und Jacques Lacan für einen solchen Versuch, mit dem Todestrieb die besonderen modernen Gewaltverhältnisse zu erklären, Anknüpfungspunkte finden? Bei Klein wohl kaum, da sie sich der kulturtheoretischen Spekulation weitgehend enthält. Doch macht sie das Ich zum Austragungsort eines Krieges der tief im Triebantagonismus verankerten Emotionen von Liebe und Hass und postuliert somit zumindest indirekt dessen Modernität. Der Todestrieb ist bei ihr zweifellos weniger unauffällig als bei Freud; er tritt in Das Seelenleben des Kleinkindes vehement und ungebrochen auf, und doch bleibt im Anschluss an die „depressive Position“ zumindest innerhalb bestimmter Grenzen die therapeutische Möglichkeit bestehen, ihn „gemäßigt und gebändigt, gleichsam zielgehemmt“, in konstruktive Bahnen zu lenken. Im Gegensatz hierzu spitzt Lacan den Todestrieb anti-essenzialistisch zu; er ist nun nicht mehr in der Biologie, sondern im Symbolischen als Teil einer vektoriellen Triebtheorie verankert. Als Bestandteil eines jeden Triebs kennzeichnet er dessen Überschuss oder Exzess, verhindert seine Befriedigung und erlaubt nur das Umkreisen des jeweiligen Triebziels. In diesem Sinne wäre der Todestrieb ein postmetaphysischer Grundbegriff der reinen Endlichkeit, der Abwesenheit jeden Sinns und des radikal Bösen im Kant’schen Sinne. Bei Freud gibt es noch einen Gegenspieler des Todestriebs: den ewigen Eros. In der strukturalistischen Psychoanalyse ist ersterer in letzterem angesiedelt und verkörpert mithin das Prinzip der radikalen Vergeblichkeit des Eros. Dementsprechend kann es, in strenger strukturalistischer Konsequenz gesehen, keine Hoffnung und somit kein positiv formulierbares Therapieziel mehr geben – lediglich ein Gewahr-Werden des je eigenen, mehr oder minder selbstzerstörerischen Mehr-Genießens. Die Hoffnung stirbt hier keineswegs zuletzt; sie ist vielmehr immer schon gestorben – und doch ist der Rest nicht unbedingt nur Schweigen.
Slavoj Žižek und Alenka Zupančič haben gerade am Argument eines prinzipiellen Exzesses des Triebs das Moment einer neuerlichen Umkehr festzumachen versucht: Žižek, indem er das Mehr-Genießen zum Inbegriff neoliberaler Subjektivierung macht und dagegen die Anrufung eines neuen Herren setzt, der im Namen des nun „göttlich“ genannten Todestriebs eine produktive Spaltung vornimmt, in der sich der Weg zu „wahrer Einigkeit“ anzeigt; Zupančič dahingehend, dass für sie der Todestrieb nicht „den Tod wollen“ heißt, sondern vielmehr „etwas wollen, selbst wenn der Preis dafür der Tod ist“, womit sie den Todestrieb im Begriff des Begehrens aufgehen lässt. Beide Ansätze scheinen mir in der Konsequenz, mit der sie das strukturalistische Erbe umdeuten und politisch in Stellung bringen, interessant zu sein, und doch treiben sie dem Begriff des Todestriebs damit etwas Entscheidendes aus, das Freuds Bestimmungen der konservativen Triebziele und der Unauffälligkeit noch innewohnte und auch in Lacans Formulierungen durchscheint. Das heißt, Žižek und Zupančič umgehen in ihren voluntaristischen Aneignungen das Problem der positiven Bestimmbarkeit des Todestriebs und damit seiner Unheimlichkeit als eines Emblems oder negativen Geschichtszeichens der Moderne.
Denn der Todestrieb eignet sich gerade nicht als metaphysischer Grundbegriff, aus dem heraus empirische Phänomene ableitbar und imaginär bestimmbar wären. Ganz im Gegenteil bringt ein solches Verständnis, in dem Essenzialismus und Anti-Essenzialismus scheinbar koalieren, die eigentliche Herausforderung des Begriffs zum Verschwinden. Diese Herausforderung bestünde vielmehr darin, das Hypothetische, Unbestimmte und letztlich Unbewusste, das sich in ihm ausdrückt und sich keineswegs verfügbar machen lässt, dennoch zu fassen, das heißt, zwischen dem Begriff und den auf ihn beziehbaren Phänomenen der Gewalt, der Aggression oder des Krieges eine Art von Korrelation anzunehmen, die den Begriff selbst immer schon in die mit ihm zu beschreibenden Verhältnisse einschreibt. Die vektorielle Auffassung des Triebs gibt davon zumindest eine gewisse Ahnung. Sie kulminiert in der Vorstellung, dass es nicht der Trieb ist, der treibt, sondern ein spezifisches Kraftfeld, aus dem der Trieb als Begriff eines Treibens erst hervorgeht, der dann wiederum auf die empirischen Gewaltverhältnisse bezogen werden kann. Das heißt, hier begründet nicht der Trieb den Krieg, sondern umgekehrt führen der Krieg bzw. die modernen Gewaltverhältnisse generell erst dazu, sie als Effekt eines Triebes zu beschreiben. Damit verbunden ist auch die Anerkennung der geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingtheit des Triebes; gleichzeitig bleibt ein Moment der Unbestimmtheit erhalten, da der Begriff selbst zum Teil des Feldes wird, gleichsam als einer seiner Akteure auftritt und dieses Feld mithin weder metaphysisch begründen noch eindeutig bestimmen kann.
Das heißt, die Unheimlichkeit des Todestriebs liegt genau darin, uns die Exzessivität der modernen Gewaltverhältnisse als verstehbar erscheinen zu lassen, obwohl er selbst diese nur eher symptomhaft als analytisch zur Anschauung bringt. Keine seiner positiven Bestimmungen und Begründungsfiguren ist letztlich imstande, ein solches Verstehen tatsächlich zu leisten. Der Begriff verbleibt konstitutiv Teil der Dynamik, die er zu beschreiben versucht. Darin verfehlt er letztlich die Möglichkeit, viele Phänomene zu erhellen, insbesondere die Momente des Umkippens von einer Innen- zu einer Außengerichtetheit, von der Verborgenheit zum manifesten Ausdruck, von positiver in negative Triebenergie, von den aufbauenden zu den zerstörerischen Kräften. Gerade dies wäre notwendig, um die unterschiedlichen, vielfach ambivalenten Positionierungen, die uns die modernen Gewaltformen aufnötigen, zu durchdringen.
Doch scheint es mir wichtig, am Begriff des Todestriebs festzuhalten, und zwar eben nicht als metaphysische Begründung oder als empirische Erklärung konkreter Gewalt, sondern als Indikator eines fortwährenden Problems. Denn der Trieb bezeichnet als Grenzwert nicht nur die Schnittstelle zwischen Soma und Psyche, sondern auch diejenige zwischen Unsinn und Sinn. Der Todestrieb markiert in besonderem Maß die Leerstelle eines jeden Sinns. Genau darin kann er weder rein positiv noch rein negativ, weder rein historisch noch rein begrifflich bestimmt werden, da die Bestimmbarkeit der Leere selbst notwendigerweise noch ein positives Element enthält. Dieses Problem lässt sich nicht überspielen, indem wir mit Freud die Trieblehre als „unsere Mythologie“ und mithin als ein metaphysisches Prinzip annehmen; der Triebbegriff kann letztlich nur transzendental als Bedingung der Möglichkeit gerechtfertigt werden, über die Grenzphänomene des Lebens und des Todes, des Krieges und der Kultur zu sprechen. Im Angesicht der Gewaltexzesse der Moderne wird dieses Sprechen über die Möglichkeit des Sprechens selbst immer wichtiger. Der Todestrieb kennzeichnet in besonderem Maß die diskursive Dimension der Gewalt, die Gewalt eines Sprechens, die das Sprechen selbst zum Schweigen zu bringen versucht. Diese Form der Gewalt zu konfrontieren kann weder im Rahmen der strukturellen Hoffnungslosigkeit noch der liberalen Fantasien von Fürsorge und Heilung gelingen; es gilt vielmehr, die Herausforderung der beiden zentralen Erscheinungsformen des Todestriebs in uns selbst anzunehmen, dem Streben nach dem imaginären Sinn ebenso wie nach dessen Durchsetzung im Namen eines denunziatorischen Impulses.
Helmut Draxler ist ist Kunsthistoriker, Kulturtheoretiker und Kurator; von 2014–2025 lehrte er an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Letzte Publikationen: Was tun? Was lassen? Politik als symbolische Form (tentare, 2024), Die Wahrheit der Niederländischen Malerei. Eine Archäologie der Gegenwartskunst (Brill/Fink, 2021) und Abdrift des Wollens. Eine Theorie der Vermittlung, (Turia+Kant, 2017).
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