In der Kunstgeschichte wird der Konflikt zwischen André Breton und Georges Bataille gern als Antagonismus zwischen einer Kunsttheorie interpretiert, die auf Strategien der Sublimierung setzt, bzw. einer, die im Todestrieb selbst die produktive Kraft künstlerischen Schaffens sieht. Davon grenzt sich dieser Beitrag ab: Wie Nils Fock darlegt, lässt sich in Batailles Schriften jedoch weniger der Begriff eines Triebes im Anschluss an Sigmund Freud als vielmehr eine Idee des Todes in Rekurs auf G. W. F. Hegel bestimmen. Die Kunsttheorie, die daraus hervorging, war jedoch keinesfalls lebensverneinend. Ihre antibürgerliche, emanzipatorische Sprengkraft verdeutlicht Fock abschließend an einem Beispiel aus der Gegenwartskunst: P. Staffs Ausstellung in der Kunsthalle Basel.
1929 wurde Georges Bataille zum Herausgeber der Kunstzeitschrift Documents. Das gab ihm die Möglichkeit, in den folgenden zwei Jahren mit rund 40 Artikeln die Umrisse seiner Kunsttheorie zu skizzieren, die er in den 1940er und 1950er Jahren konsequent weiterverfolgt und zum Abschluss gebracht hat. Deren Genese ist nicht zu trennen von Batailles Feindschaft zu André Breton, die auf dem Antagonismus ihrer jeweiligen Kunstauffassung beruhte. Beide sind zwar von einer fehlenden Einheit von Geist und Natur in der äußeren Realität ausgegangen, doch Breton, der damals prominenteste Sprecher des französischen Surrealismus, war der Überzeugung, im verbalen und grafischen Automatismus den „großen Schlüssel zur Versöhnung“ von Geist und Natur gefunden zu haben. Bataille hingegen wies eine solche vermittelnde Funktion von Kunst entschieden zurück. Kunst müsse sich vielmehr unversöhnlich gegen den Geist selbst wenden, da dieser die Vermittlung mit der Natur prinzipiell zum Scheitern verurteile.
Bataille selbst zählte nie zur surrealistischen Gruppe, und Documents stellte kein (separatistisches) Vorhaben innerhalb der Bewegung dar, nur weil sich ein paar ausgestoßene und abtrünnige Surrealisten im Umfeld der Publikation zusammenfanden. In ihrer vierten Ausgabe erschien der illustrierte Aufsatz „Figure humaine“ (1929), der bereits die grundsätzliche Ausrichtung von Batailles Kunsttheorie deutlich machte. Aus Sicht des Redaktionsassistenten Michel Leiris glich er einem „Attentat [auf die] beruhigende Vorstellung von einer menschlichen Natur“, mit dem Bataille die Kunst also in den Dienst des Todes stellte. Damit ist ein Verfahren der Kunst nach Bataille gemeint, durch das eine diskriminierende Bestimmung von (menschlicher) Natur niedergerissen werden und sich das von dieser Bestimmung ausgeschlossene Leben dem Geist widersetzen kann, von dem es als Scheitern verworfen wird. In Abgrenzung zu Bretons Kunstauffassung soll dieses Verfahren im Folgenden mit den entsprechenden kunsttheoretischen Schriften Batailles dargelegt und auch jenseits dieser Gegenüberstellung begriffen werden. Dadurch lässt sich abschließend veranschaulichen, dass in Batailles Kunsttheorie weiterhin Mittel zur Erschließung von Verfahren der Gegenwartskunst zur Verfügung stehen.
„Figure humaine“ ist die Schwarz-Weiß-Fotografie einer kleinbürgerlichen Hochzeitsgesellschaft vorangestellt. In zwei Reihen hintereinander vor einem kleinen ländlichen Eisenwarenladen stehen 26 Personen in uniformer Festtagskleidung in einer offensichtlich planmäßigen Ordnung um ein in der Mitte platziertes Brautpaar. Bataille sieht in dieser Abbildung jedoch ein Verfahren am Werk, das die „wahrhafte Negation der Existenz einer Natur des Menschen“ nach sich zieht – also die Negation dessen, was der vorherrschende bürgerliche Geist als Natur des Menschen gesetzt hat. Die Aufnahme müsse daher „für diesen Geist völlig schockierend“ sein, weil sie mit seiner Bestimmung von (menschlicher) Natur nicht in Einklang zu bringen sei.
Der Geist hat zwar, allgemein gesprochen, die Natur zur Voraussetzung. Er hat sich aber auch historisch in Form des bürgerlichen Rechts herausgebildet, welches wiederum selbst einen Begriff von Natur bestimmt hat, der auf die Reproduktion des bürgerlich-kapitalistischen Geistes zielt. Diese Bestimmung von Natur umfasst neben Flora und Fauna auch den Menschen (in seiner Sexualität, seinem Geschlecht, als Körper, Race und so fort), der sowohl Teil der Natur als auch Teil des Lebens des Geistes ist. Was mit der bürgerlichen Natur nicht identisch ist, wird vom bürgerlichen Geist als widernatürlich verworfen.
Die Identität mit der bürgerlichen Bestimmung von Natur zu demonstrieren, ist nach Bataille auch das eigentliche Ziel dieser fotografischen Hochzeitsdokumentation. Die Inszenierung, die sich in der aufgesetzten Etikette verrate, lege aber ein Verfahren bloß, das diese Bestimmung nicht exemplifiziere, sondern – entgegen der eigentlichen Intention – entstelle. Dadurch bleibe jede dieser „menschlichen Figuren“ der bürgerlichen Natur äußerlich wie die „Fliege auf der Nase eines Redners“. Bataille kam zu dem Schluss, dass die „vermeintliche Kontinuität“ dieser Natur aufgrund der vielfach von ihr ausgeschlossenen Leben besser durch ein „Nebeneinander von Monstern“ substituiert werden könne.
Das in „Figure humaine“ mittels einer gewöhnlichen Fotografie herausgestellte Verfahren wird in der Folge auch die Konturen von Batailles Kunstbegriff prägen: Die angestrebte, aber scheiternde Darstellung der Übereinstimmung mit dem, was der bürgerliche Geist als Natur bestimmt hat, gebe diese Bestimmung der Auflösung preis und führe dem Geist die Negation der Voraussetzung seiner Reproduktion vor Augen. Die Kunst habe deshalb, schreibt er in einer anderen Ausgabe von Documents, die „doppelte Bedeutung [eine] Zersetzung analog zur Verwesung von Leichen und zugleich den Übergang in eine völlige Heterogenität zum Ausdruck zu bringen“ . Mit anderen Worten behauptet sich in der – intendierten – Zerstörung der bürgerlichen Bestimmung der Natur das als widernatürlich ausgeschlossene, weil heterogene Leben übergangsweise gegen den bürgerlichen Geist.
Mit seiner Auffassung von Kunst, deren Verfahren er schon früh in Analogie zum Tod begriff, setzte sich Bataille von den damals in den Kreisen der Avantgarde dominierenden Praktiken ab. Für ihn stellten deren surrealistische „Träume und kimmerischen Hirngespinste“ die damit behauptete Auflehnung gegen den bürgerlichen Geist hinterrücks „unter den Schutz der [bürgerlichen] Gesetze“. Diese Äußerungen richteten sich nicht zuletzt gegen Breton. Das durch das bürgerliche Recht verstetigte Missverhältnis von Geist und Natur wollte dieser jedoch nicht destruiert, sondern vielmehr durch surrealistische Kunst, das heißt mit fantastischen Mitteln versöhnt wissen. Voraussetzung für diese Synthese sei die „moralische Asepsis“, die Breton von seinen Mitstreitenden erwartete – und damit der Ausschluss alles Widernatürlichen, Perversen und Ruinierten. Diese Verwerfung hatte im Grunde schon die bürgerliche Sitte als Hüterin der vorherrschenden Vermittlung von Geist und Natur geleistet. Breton forderte aber darüber hinaus, dass die Kunst das von dieser Vermittlung als widernatürlich verworfene Leben in eine mit der bürgerlichen Bestimmung der Natur vermittelbare Form überführen müsse. Ein solches Verfahren der Kunst bezeichnete er, in (eigenwilliger) Anlehnung an Sigmund Freud, als „Sublimierung“ , durch welche das Niedere der Perversionen und so fort in eine Über- oder Surrealität emporgehoben wird, die er später nicht zufällig mit „einem bestimmten ‚erhabenen Punkt‘ im Gebirge“ verglich. Im Grunde wäre dann das widernatürliche Leben von demselben bürgerlichen Geist anerkannt, durch den es überhaupt erst als widernatürlich bestimmt wurde – aber eben nur in sublimierter Form.
Wenn Breton dementgegen, in Anspielung auf die von ihm verlangten Ausschlüsse, trotzdem „ausführlich über Fliegen“ schreibt, dann nur, wie er erklärt, „weil Herr Bataille Fliegen liebt“. Die Surrealisten in seinem Gefolge aber lieben „die Mitra alter Geisterbeschwörer“, fährt Breton fort, „auf der keine Fliegen sitzen, weil man Waschungen unternommen hatte, um sie zu vertreiben“. Er hatte selbstverständlich mitbekommen, dass Bataille mit dem in „Figure humaine“ umrissenen ästhetischen Verfahren den Surrealismus und dessen Begriff der Kunst infrage stellte. Das veranlasste Breton, den damals weitgehend unbekannten Bataille im Zweiten Manifest des Surrealismus von 1929 (über die bereits wiedergegebene Spitze hinaus) auf mehreren Seiten zum Feindbild zu machen; auch in Vertretung der Überläufer des Surrealismus in den Dunstkreis von Documents. Für Verbündete Bretons galt Bataille infolge dieser Sticheleien als „hingerichtet“. Ohnehin hätte er sich mit der Hinwendung zu dem von Fliegen befallenen Außen der (menschlichen) Natur, das Breton zu sublimieren suchte, „eher zu einem Toten gemacht als zu einem Lebendigen“.
Anders als Breton hatte Bataille angenommen, dass der Geist, der über sich selbst hinausgeht, um eine (noch nicht realisierte) Einheit mit der Natur zu erreichen, auch dem Untergang ins Niedere preisgegeben ist. Wird dagegen in der Kunst die versöhnende Erhebung durch Abstraktion von den Bestimmungen der äußeren Realität gesucht, die jene fehlende Einheit (re-)produzieren, dann geht man nach Bataille „in die Kunstgalerien wie in die Apotheke, auf der Suche nach schön präsentierten Heilmitteln für akzeptierte Krankheiten“ – für Bataille war das Schicksal, das den Pariser Surrealismus erwartete, daher unabwendbar. Macht die Kunst aber im Unterschied dazu von ihrem destruktiven Verfahren Gebrauch, kann dem vorherrschenden Geist dasjenige Leben – von unten – entgegentreten, das sich erst dann ungebrochen äußern kann, wenn dieser Geist nicht mehr ist. Später setzte Bataille diese Negativität der Kunst dann endgültig mit dem Begriff des Todes gleich. Diese Kunstauffassung Batailles ging auch auf den Einfluss von Alexandre Kojèves berühmten Vorlesungen aus den Jahren 1933 bis 1939 über Georg Wilhelm Friedrich Hegels Phänomenologie des Geistes zurück. Denn diese lehrten Bataille, dass der Begriff des Todes auch den irreversiblen Verlust einer historischen Vermittlung von Geist und Natur bezeichnet. Das wäre etwa die Überwindung der Prämissen, die sowohl das bürgerliche Recht als auch die daraus resultierende Bestimmung von Natur begründen, wodurch beide im Nachhinein nicht mehr reproduzierbar wären. Weil einer nächsten, auf die bürgerliche folgenden Vermittlung von Geist und Natur dieser Verlust vorausgehen muss und das tatsächliche „Hinausgerissenwerden“ des Geistes aus und über sich selbst übergangsweise den Verlust seiner selbst bedeutet, macht auch dieser „Tod“ Angst. In der Regel geht man ihm deshalb aus dem Weg.
Bataille betrachtete den Tod also nicht als psychoanalytischen Todes- oder Destruktionstrieb, der als komplementärer Gegenpol zur Sublimierung nach Breton gefasst werden kann. Jenseits surrealistischer Grundannahmen begriff er den Tod auf der einen Seite als den Verlust der Möglichkeit des Geistes, eine Grenze zwischen sich selbst und dem, was er als Natur bestimmte, zu ziehen. Der Geist, der sein eigener Tod geworden ist, wird bei Bataille aber auch von dem heimgesucht, was dieser Geist mit dem Ausschluss aus der Bestimmung von Natur ruiniert hat. Der Tod ist demnach „der Schiffbruch“ des Geistes in der von ihm eigenmächtig „verworfenen Natur“. Aufgrund ihrer zersetzenden Negativität kann die Kunst diesen Übergang in den Tod des Geistes erfahrbar machen, wenn auch nur übergangsweise und dem Schein nach. Auf der anderen Seite wird der Tod für Bataille damit zum Ausgang einer ästhetischen Umkehrung. Was der bürgerlichen Vermittlung von Geist und Natur „äußerlich und fremd ist“ und sich ihr „verweigert“ , kann sich in der Kunst gegen diesen Geist selbst wenden, dessen Grenze zur Widernatur niederreißen, durch die er das verworfene Leben von sich ausschließt. Dieses geächtete „Scheitern“, das jeweils ausgeschlossene Leben, zielt auf diese Entmachtung des Geistes, auf ein „Gelingen des Scheiterns“. Wider seine vielfach diskriminierenden – androzentrischen, extraktivistischen, heteronormativen, kolonialen, rassistischen usf. – Prämissen wird dem bürgerlichen Geist in seinem Tod vor Augen geführt, „dass es das Scheitern ist, das gelingt“.
Die Bedeutung dieses ästhetischen Verfahrens noch für die Gegenwartskunst wird zum Beispiel in den Arbeiten von P. Staff deutlich. Filmmaterial von der Verarbeitung von Urin, Sperma, Fleisch, Häuten und Fellen tierischen Ursprungs zu Hormon- und Fleischprodukten, das in der Videoinstallation On Venus (2019) zu sehen ist, macht durch Deformierungen, die zum Teil aus doppelter Belichtung resultieren, einmal mehr den Zwiespalt im vorherrschenden Zusammenleben mit der Natur deutlich: Was in der Natur – deren Teil der Mensch ist – nicht zur Voraussetzung des Geistes werden kann oder nicht die Voraussetzung hat, Geist zu werden, wird ohne Weiteres beseitigt. In diesem Fall sind es Überreste tierischen Lebens, die von der Industrie nicht für die Produktion von Hormon- und Fleischwaren bestimmt sind und infolgedessen zu bloßem Abfall entwertet werden. Mit Bloodheads (Kunsthalle Basel) (2023) hat P. Staff in Zusammenarbeit mit Basse Stittgen aus dem Blut verschiedenster Tiere solche Ausschüsse aus dem Schlachthof zu Repliken architektonischer und gestalterischer Details der Kunsthalle verarbeitet. Für die Dauer der dreimonatigen Ausstellung „In Ekstase“ traten sie an die Stelle der Originale, wurden außerdem in einem separaten Raum ausgestellt und zersetzten unter wie Säure wirkendem gelben Licht die Grenze zwischen Natur und Widernatur. Die mit Bataille beschriebene Umkehrung, bei der sich das verworfene Leben gegen den Geist wendet, der es ausgrenzt, erfolgte dann in der titelgebenden Arbeit In Ekstase. Fünf holografische Ventilatoren zeigten ein Gedicht mit Versen wie „you are envious / of the air“ oder „crying in the street / trans sexed / cherubic boy-girl / stared down by strangers“ und „maybe happy“, das mit der wiederholten Wendung „YOU ARE DEAD / I AM ALIVE“ endete. Das ist, in den Worten Batailles, eine „Ekstase, die einer großen Angst abgetrotzt wird“, die dieser Tod nicht weniger macht, auch wenn er das Leben derer ist, die der bürgerliche Geist entlang seiner diskriminierenden Prämissen als widernatürlich verworfen – und ruiniert – hat. Dieses Leben, das durch ein Verfahren erfahrbar wird, das die bürgerliche Bestimmung von (menschlicher) Natur unterminiert, lässt sich mit der von Bataille in „Figure humaine“ initiierten Kunsttheorie – und der Bedeutung des Todes darin – als ein Scheitern erschließen, das von einem unversöhnlichen Standpunkt aus nur als ein Gelingen gelten kann.
Nils Fock promoviert an der HfG Offenbach bei Juliane Rebentisch und Christoph Menke mit der Arbeit „Abjekte Natur. Eine Theorie der Gegenwartskunst nach Georges Bataille“.
Image credits: 1. P. Staff, courtesy of the artist and Commonwealth and Council; 2. Public domain; 3. © P. Staff, courtesy of the artist and Commonwealth and Council; 4. Courtesy of P. Staff and Kunsthalle Basel, photo Philipp Hänger; 5. + 6. © P. Staff, courtesy of the artist and Commonwealth and Council
Anmerkungen