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Diedrich Diederichsen

TONY CONRAD (1940–2016)

Tony Conrad, 1966

Gerade in den letzten Jahren habe ich sehr oft und viel über Tony Conrad geschrieben. Es stellte sich nach und nach heraus, dass seine völlig unkarrieristisch über Zeit, Raum, Kontinente, Genres, Disziplinen und Institutionen verstreuten Ideen, Versuche, Kunstwerke viel enger miteinander zusammenhingen, als jeweils aus der Nahsicht erkennbar war. Vergilbende Papierbahnen in den Proportionen von Filmprojektionen als sehr lange Filme, Drone-Musik, die Korrektur der Korrektur der westlichen wohltemperierten Stimmung, sich selbst aufhebende Wordpieces, in Essig eingelegte Filmstreifen und flickernde, flackernde Filme hatten zwischen den späten 1950ern und 2016 mehr miteinander und den langsam sich ihrer selbst bewusst werdenden Fragen einer konzeptuellen und postkonzeptuellen Kunst, Musik, Filmarbeit zu tun, als je die Beobachter/innen einzelner Aktivitäten Conrads mitbekommen wollten.

Elf Jahre vor seinem Tod, als bei ihm Prostatakrebs diagnostiziert worden war, nahm er mit Richard Wicka zwei längere Videos auf, die insgesamt ungefähr zweieinhalb Stunden dauern. Sie sind auf fünf Portionen verteilt auf YouTube zu sehen als „Tony Conrad Unedited“ und wurden damals unter der Prämisse hergestellt, dass sie nicht zu seinen Lebzeiten veröffentlicht werden dürfen. Wer sich nun sensationelle Geständnisse und Enthüllungen vorstellt, für die Tony zu Lebzeiten nicht zur Rechenschaft gezogen werden wollte, wird enttäuscht werden. Wie eine preziöse und prätentiöse Botschaft an die Nachwelt wirken die Erzählungen und Anekdoten, die TC mit großer Geduld und in weitläufigem Bogen entfaltet, nicht. Im Gegenteil, wenn ihm die Fragen zu nahegehen oder zu intim werden, lässt er sie aus. Er erzählt eigentlich nur, was und wie er auch zu Lebzeiten erzählt hat. Er präsentiert seine Person so, dass man ein Gefühl dafür entwickelt, was man ihn fragen könnte und wofür er zuständig sein könnte – auch dann, wenn man keine Ahnung von seinen Filmen, seiner Musik und seiner Politik hat; auch dann, wenn man nicht weiß, dass er mit Henry Flynt, La Monte Young, John Cale, Jack Smith, Beverly Grant, Steina & Woody Vasulka, Angus MacLise, Paul Sharits, Uwe Nettelbeck, Faust, Mike Kelley, Tony Oursler, John Miller und Jutta Koether und vielen, vielen anderen zusammengearbeitet hat.

Einer der schönsten Momente ist die Geschichte von der Bartók-Epiphanie: Der junge Tony ist ein einsamer, wie er im Rückblick sagt, etwas melancholischer, fast schon verrückter Jugendlicher. Von seinem Künstler-Vater fühlt er sich ungeliebt, weil er eher eine mathematische Begabung war, keine künstlerische. Tony flüchtet sich in die romantische Musik, die er auf seiner Violine spielt: Musik des 19. Jahrhunderts. Tschaikowsky, Brahms. Ihm wird Bartók als ein Komponist vorgestellt, der hässliche Tonfolgen komponiert hätte – „wenn er das wirklich versucht hätte, wäre das ja ziemlich interessant, aber wahrscheinlich wäre das für ihn viel zu weit gegangen“, bemerkte der Tony aus dem Jahre 2005 –, und er findet sie auch hässlich. Auf dem College freundet er sich mit Henry Flynt an, der insistiert, dass die Streichquartette von Bartók das Größte seien. Er zeigt Tony die Partituren und weist auf die Architektur der Stücke hin. In den Strukturen läge die Größe. Pflichtgemäß legt sich TC in gewissen Abständen die Schallplatte auf, und sie sagt ihm nicht viel. Dann spaziert er eines Tages durch die Welt, und ein großer, amorpher, drängender Klang bemächtigt sich von irgendwoher aus dem Äther herabdonnernd seines Körpers. Er ist völlig überwältigt und hat keine Ahnung, woher dieses mächtige formlose Etwas kommt. Als er das nächste Mal pflichtgemäß die Bartók-Scheibe auflegt, ist die Überraschung groß: Das gewaltige, formlose, verstörende, zupackende Etwas befindet sich in einer Passage eines Streichquartetts. Es ist lokalisierbar und begrenzt. Es hat eine objektive Existenz. Und ja: Er hat es geschafft, sich die Musik beizubringen – ganz ohne die Struktur, durch das beiläufige, missmutige, unkonzentrierte Hören einer Schallplatte.

Eineinhalb Jahre vor seinem Tod traf ich TC das letzte Mal. Wir führten ein öffentliches Gespräch auf der Bühne der Kunsthalle Wien, das dann später im Restaurant Stadt Paris fortgesetzt wurde. Dann brachte ich ihn zu seinem Hotel. Bei dem öffentlichen Gespräch ging es unter anderem um das Festival „Live Film“ am HAU und im Arsenal in Berlin, das Susanne Sachsse, Marc Siegel und Stefanie Schulte Strathaus zu Ehren von Jack Smith ausgerichtet hatten und zu dem Tony beigetragen hatte: „See, if I were to die and then somebody says, ‚Would you – Diedrich, for example – do a performance or a talk or -whatever, on me?‘ And here I am asked to represent … I asked to participate in a Jack Smith event. I worked with Jack Smith. I loved the things that -happened. I was incredibly influenced by him and his work, and so forth. But then, when I’m invited to -perform as part of a festival, devoted to his work, I think: ,Ay-ay! Am I supposed to be doing him, or doing me?‘“

Im vierten Teil seiner Gespräche mit Richard Wicka hat er aber das Problem gelöst, wie ich oder wir oder die posthume Menschheit mit ihm nach seinem Tode kommunizieren können. Er wendet sich an das Publikum, das ihn in diesem Video sieht und weiß, dass er nicht mehr lebt. Er macht sich und uns klar, dass wir ihn als einen Lebenden in diesem Video nur sehen können, weil er bestimmt, dass es erst nach seinem Tod zu sehen sein wird. Wie finden wir das jetzt? Was macht das mit uns? Aber wer sind wir überhaupt? Wenn dieses Video einigermaßen interessant ist und das Interesse an ihm nicht so schnell abnimmt, dann können wir wohl davon ausgehen, dass es auch einen Haufen von (im Jahre 2005) Ungeborenen geben wird, die dies sehen werden. Wie fühlt ihr Ungeborenen euch, einem Mann zuzuhören, der tot ist? Wie fühlt es sich überhaupt an, ungeboren zu sein. Na? Genau – und so fühle ich mich gerade.

Mögen viele Generationen von Ungeborenen mit diesem Toten noch kommunizieren. Mögen sie mithelfen, die Dauer der „Yellow Movies“ für das menschliche Bewusstsein zugänglich zu erhalten, und diszipliniert dabei zusehen, wie die langsame Vergilbung weiter ihren kosmischen Gang geht.

Diedrich Diederichsen ist Professor für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst an der Akademie der bildenden Künste Wien.

Erratum: Tony Conrad wurde im Jahr 1940 geboren. Die Druckversion dieses Textes nennt fälschlich 1949. Wir bedauern diesen Fehler.