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SCHWERE VERSPANNUNGEN LÖSEN Eva Scharrer über Nairy Baghramian im S.M.A.K., Gent

„Nairy Baghramian: Déformation Professionelle“, S.M.A.K., Ghent, 2016

„Nairy Baghramian: Déformation Professionelle“, S.M.A.K., Ghent, 2016

Das skulpturale Kunstobjekt ist, wie es Isabelle Graw in ihrem Beitrag zu unserer aktuellen Ausgabe „Sculpture“ thematisiert, aufgrund dem seiner Dreidimensionalität geschuldeten Innenraums in besonderer Weise geeignet, um über seine werttheoretische Dimension nachzudenken. Dies exemplifiziert Graw an Robert Morris’ Arbeit Box with the Sound of Its Own Making, die akustische Spuren ihrer Herstellung aus dem Innenraum hervordringen lässt. Diese Box diente auch Eva Scharrer als Referenzpunkt in ihrer 2017 erschienen Besprechung einer Ausstellung von Nairy Baghramian, die wir hier erstmals online publizieren. Wie Morris’ Box dient auch Baghramians Schau als „Reflexionsschachtel“, da sie die Kunstproduktion durch Selbstappropriation in ein Werk überführe, so Scharrer. Zudem interagieren die Skulpturen der Künstlerin mit dem Raum und hinterfragen das Verhältnis von Institution und Kunstwerk.

Alles auf neu. Für ihren Mid-Career-Survey, der bis Februar im S.M.A.K. in Gent zu sehen war und im September 2017 im Walker Art Center in Minneapolis eröffnen wird, entschied sich die in Berlin lebende Künstlerin Nairy Baghramian als Kritik der Statik institutionalisierter Surveys für eine Aufarbeitung von Arbeiten und Ideen seit 1999 in Form ausschließlich neuer Produktionen aus dem letzten Jahr. Gezeigt werden insgesamt 18 Werkgruppen aus skulpturalen wie fotografischen Arbeiten. Das „Durcharbeiten“ der eigenen Produktion hinterfragt einmal getroffene formalästhetische Entscheidungen, kehrt diese teilweise um und überrascht mit einer visuellen Fülle, die man von dem eher formal reduzierten Werk bisher weniger gewohnt war.

„Déformation Professionelle“, der mehrdeutige Titel der Ausstellung, verweist auf einen Zustand der Verformung bzw. Begrenzung des Weltbildes durch den überspezialisierten Blick beruflicher Expertise oder könnte auch als professionelle Verbiegung (des eigenen Werks) gelesen wesen. Die Künstlerin gibt sich quasi selbst als Nerdin aus, deren Bezugssystem klar definiert ist. Es sind die Diskurse der Moderne und Postmoderne in Kunst, Innendesign und Architektur, von Abstraktion, Surrealismus, Minimal, Concept Art und Institutionskritik zu Postconcept und Postfeminismus, die prägend waren. Die Selbstappropriation und -reflexion des eigenen Werks lässt an Marcel Duchamps Boite-en-Valise denken – Duchamp’sche Wortspiele finden sich auch überall in Baghramians Titeln, wo sie zusätzliche gedankliche Ebenen eröffnen. Doch wurde das eigene Werk hier nicht en miniature als Edition vervielfältigt, sondern in einem Prozess intellektuellen Widerkäuens für einen neuen Kontext „deformiert“. Denkt man die Ausstellung als Reflexionsschachtel, die die Produktion selbst in ein Kunstwerk überführt, ließe sich auch Robert Morris’ Box with the Sound of Its Own Making als Referenz nennen. Das Subjekt der skulpturalen Untersuchung, das bei Baghramian lange vor allem der Innenraum als ein spezifisch weiblicher war, ist nun der Körper, seine Gesten, Haut, Knochen und Organe – und seine Verformung durch Prothesen, Implantate und andere Hilfsmittel. Man könnte auch von einem plastisch-chirurgischen Eingriff in den kreativen Prozess sprechen, in dem die Künstlerin – sicher nicht ohne Selbstironie – das eigene Werk materiell verjüngt oder perfektioniert und dabei auch vor dessen Verletzlichkeit nicht zurückschreckt – was wiederum seine Stärke ausmacht. Die Ausstellungsarchitektur ist dabei gleichzeitig Operationsraum wie auch Subjekt der komplexen Transformation.

Bereits im Eingangsbereich gibt die große hängende Skulptur Headgear eine Setzung vor. Inspiriert von der Konstruktion von Zahnspangen, die durch einen Gurt im Nacken gehalten werden und von dort Druck nach innen ausüben, bewegt sich die Skulptur zwischen Körper und Prothese, innen und außen, weich und hart, Spannung und Schlaffheit. Sie evoziert gleichsam ästhetische Deformation wie auch Schmerz und Unbehagen und knüpft dabei an einen kunsthistorischen Kanon hängender oder prothetischer Skulpturen von Robert Morris zu Eva Hesse und Rebecca Horn an – wobei Baghramian ihre Referenzen nicht ausstellt, sondern weiter transformiert und neu kontextualisiert und dabei eigene Arbeiten wie Retainer (Zahnspange, 2013) im Inneren der Ausstellung wieder aufgreift. Letztere war ursprünglich als eine Art kieferorthopädische Korrektur der Ausstellungsarchitektur des Sculpture Center in New York konzipiert.

„Nairy Baghramian: Déformation Professionelle“, S.M.A.K., Ghent, 2016

„Nairy Baghramian: Déformation Professionelle“, S.M.A.K., Ghent, 2016

Man betritt die Ausstellung im Obergeschoss des S.M.A.K. also durch den Nacken. Der erste zentrale Raum – folgt man der anatomischen Analogie, befände man sich im Hinterkopf – ist leer belassen und durch eine diagonal eingespannte Stangenkonstruktion, Peeper, abgetrennt. Im Material der verchromten, mit Beton gefüllten Messingrohre unterschiedlicher Länge greift Peeper die Arbeit Von der Stange (Handlauf) auf, die Baghramian erstmals 2012 als Edition für die Gesellschaft für Moderne Kunst des Kölner Museums Ludwig produziert hat und erneut 2014 als raumbezogene Arbeit im Neuen Berliner Kunstverein. Hier werden die Stangen nicht als unberührbarer Handlauf von Halterungen aus Aluminium (diese begegnen uns stark vergrößert als Moorings / Vertäuungen an der Außenwand des leeren Hauptraums in einer doppelstöckigen Passage) getragen, sondern scheinen mittels industrieller Schraubklammern zwischen den Wänden eingespannt. Ihr asymmetrischer Verlauf evoziert einen perspektivischen Blickwinkel in die leere Arena, während der Titel den Betrachter zum Voyeur macht. Offensichtlich werden hier Formen der Institutionskritik der 1960er und 1970er Jahre zitiert, von der „Closed Gallery“ zur physischen Attacke auf die Museumsarchitektur, wobei die Leerstelle innerhalb des suggestiven Ausstellungslayouts weitere mögliche Assoziatio-nen zulässt.

Im nächsten Raum greift anatomisch folgerichtig Flat Spine als Pendant oder Gussform die frühere Arbeit „French Curve“ von 2014 auf. Module mit Hohlform aus lackiertem Holz bilden gleich einer Wirbelsäule die Halterung für eine anthropomorphe Masse aus Kunstharz, der man den Prozess des Verspachtelns und Gießens ansieht. Auch hier liegen die kunsthistorischen Vorbilder – von Beuys’ Fettstuhl zu Matthew Barney – auf der Hand, doch werden deren Materialien (Fett, Vaseline) nochmals künstlich verfremdet, und der Körper wird zu einer Mensch-Maschine. Als Gegenpol zu der körperhaft-physischen Struktur am Boden geben die Fotografien mit dem Titel Portrait (The Concept-Artist Smoking Head, Stand-In) einen humorvollen Kommentar zur intellektuellen Tätigkeit der Konzeptkünstlerin ab.

Big Valves, biomechanisch anmutende Gebilde aus Metall und Plexiglas, die gleichzeitig an Herzklappen wie an Sicherheitstüren denken lassen, navigieren die Besucher durch den Ausstellungskörper, indem sie alternative Durchgänge markieren oder andere verschließen. Die Gruppe der Stay Downers (Sitzenbleiber) in den beiden Seitenflügeln (den Wangen, wenn man so will), unter der sich Individuen wie Nerds, Ugly Duckling, Babbler oder Class Clown befinden, besteht aus jeweils zwei, sich ineinander schmiegenden oder gegenseitig stützenden Formen aus Polyurethan, Metall und Silikon, die durch ihre pastellfarbene, pudrig-weiche Oberfläche einen besonderen haptischen Reiz ausüben. Dieser war offenbar so stark, dass die beiden Räume durch ein Stahlseil abgeschlossen werden mussten (eine ungewollt ironische Parallele zu Peeper), da die Besucher es nicht unterlassen konnten, die prekär-instabilen Objekte anzufassen. In ihrem comicartigen Balanceakt und der linkischen Form, die an Franz Wests Passstücke erinnern oder an Yves Tanguys gemalte, auf Krücken gestützte abstrakte Formationen, spielen die Sitzenbleiber im Titel auf die Skulpturengruppe „Klassentreffen“ an, die 2008 in der Kunsthalle Baden-Baden ausgestellt war – sie sind das Grüppchen der Zurückgebliebenen, die es damals nicht in die elitäre Runde der weitergekommenen Musterschüler und Karrieristen (Slacker, Dandy, Please After You) in Form minimalistisch-glatter Stelen geschafft haben.

„Nairy Baghramian: Déformation Professionelle“, S.M.A.K., Ghent, 2016

„Nairy Baghramian: Déformation Professionelle“, S.M.A.K., Ghent, 2016

Prothetische oder skelettartige Formen finden sich wieder in den hoch oben an der größten Wand hängenden Chin Up (First Fitting), die wie Passformen der organisch-nierenförmig wuchernden Skulpturen Chin Up (2015 für das Museo Tamayo in Mexiko entstanden) erscheinen. Im selben Raum spielt Egg Caul, eine Boden-skulptur aus gewölbtem Epoxidharz, auf die eigentümlich delikate Materialität der Membran zwischen Schale und Eiweiß an – ein form-gebendes Bindegewebe, dass wie die menschliche Haut auf einer Kollagenstruktur aufbaut. In dem organischen Minimalismus klingt wieder Eva Hesse an, wobei das Ei auf Broodthaers verweist, dem das Museum ein Stockwerk tiefer einen permanenten Raum einrichtet. Der fragilen Eierschalenmembran entgegengesetzt sind die klammernden Metallteile von Scruff of Neck (Stopgap), in denen jedoch die Zahnbrücken der gleichnamigen Installation von 2016 in der Marian Goodman Gallery fehlen und nur noch die teils martialisch anmutenden, teils an korallenartige Strukturen erinnernden Klammern zurückbleiben.

Als ein Surveying the Survey befragt Baghramian Entscheidungen nach Form, Material und Positionierung sowie die Themen und Referenzen – etwa die Mechanismen institutioneller Macht und Exklusion –, die ihre Praxis seit den späten 1990er Jahren geprägt haben. Nachdem sich diese Diskurse selbst verschoben haben, wird hier auch der Blick auf das eigene Werk nochmals neu justiert, das (weibliche) Aktionsfeld vom architektonischen Innenraum in den deformierten, organlosen Körper aus Haut und Knochen verschoben.

Der Idee des Minimals folgend, schöpft Baghramian die Möglichkeiten des Objekts aus, wobei die Spiegelung der eigenen Produktion das vorhandene Œuvre gleichsam dynamisiert. Die für eine Retrospektive bis dato einzigartige Entscheidung, ältere Arbeiten durch Materialwechsel oder Umkehrung von Größenverhältnissen, innen und außen, Positiv und Negativ für den neuen Kontext nochmals neu zu denken, zeugt von großer künstlerischer Autonomie und ist im Sinne der selbsterklärten site-responsiveness nur konsequent. Die Arbeiten interagieren mit dem Raum auf unterschiedliche Weise, verbeißen und verklammern sich mit ihm und stellen immer wieder die Frage nach dem spannungsvoll-kritischen Verhältnis von Institution, Kunstwerk und Support. Dabei funktionieren sie auch ohne Kenntnis ihrer Vorgänger als eigenständige Werke erstaunlich gut. Mit der Autodeformation des eigenen Werks entzieht sich die Entscheidung des künstlerischen Subjekts der institutionellen Kontrolle, verweist dabei aber gleichzeitig auf die Limitation der ewigen künstlerischen Neuerfindung.

„Nairy Bagrahmian: Déformation professionelle“, S.M.A.K., Gent, 26. November 2016 bis 19. Februar 2017, und Walker Art Center, Minneapolis, 7. September 2017 bis 4. Februar 2018.

Eva Scharrer ist freie Autorin und Kuratorin. Sie lebt in Berlin

Image credit: Courtesy of the artist und S.M.A.K., Fotos Dirk Pauwels