HERRSCHAFTSZEICHEN NOCH MAL! Clemens Krümmel über Michael Dreyer im Badischen Kunstverein, Karlsruhe
Schon vor dem Betreten der Ausstellung von Michael Dreyer setzte ein Architekturdetail – die historische Pforte zu den großzügigen, lichtdurchfluteten Sälen des Badischen Kunstvereins – einen ersten Stimmungsakzent. An dem sonnigen Tag meines Besuchs lief ich in das blendende Licht des ersten Raums, und dabei blieb am oberen Rand meines Gesichtsfeldes ein Eindruck hängen: Dort in der Schwärze des Vorraums mahnte in der mit Goldrocaille reich verzierten Supraporte das barocke Bildnis eines Herrschers. Wie passend, dachte ich und gleichzeitig, wie überflüssig! Wer vorher einmal eine Ausstellung des dort gezeigten, in Stuttgart lebenden und lehrenden Künstlers, Gestalters, Regisseurs und Kurators gesehen hat – und dazu gab es in den vergangenen Jahren erfreulicherweise endlich mehr Gelegenheiten −, der konnte das Blinzeln des Herrschers durchaus als Wink mit dem Zaunpfahl empfinden; denn Dreyers Produktionen, ganz gleich, auf welchem Gebiet, zeichnen sich u. a. durch eine gesteigerte Sensibilität für die an ihren jeweiligen Orten, aber auch in jedem anderen denkbaren gesellschaftlichen und institutionellen Zusammenhang gegebenen Machtverhältnisse aus.
Über diesen Auftakt hinaus lieferten die Räumlichkeiten des Kunstvereins eine großartige Bühne für eine Präsentation in Retrospektivgröße, die jedoch trotz entsprechender Ausdehnung und trotz einiger autobiografischer Elemente in ihrem Ablauf ganz andere Ziele verfolgte. Wenn es um einen Selbstbezug des Künstlers ging, dann also weniger im Sinne einer eine bestimmte Lebensphase umspannenden Werkschau als vielmehr im Sinne einer Art intellektuellen und sentimentalen Ernährungsprofils. Die Mehrzahl der gut 40 Gemälde auf Keilrahmen, 30 gerahmten Bilder und Fotos sowie zahlreichen Bücher, Texte und Objekte in Vitrinen und auf Tischen stellte Bezüge zu Werken anderer Künstler/innen, Schriftsteller/innen, Wissenschaftler/innen, Musiker/innen und zu anderen Exponaten her. Im ersten Saal konnte man glauben, in einer reinen Malereiausstellung gelandet zu sein. Allen Bildern unterschiedlichen Formats und unterschiedlicher Größe war gemeinsam, dass sie stilisierte Bücher oder Platten mit bestimmten kalligrafisch darauf applizierten Namen und Titeln zeigten. Dreyers Kalligrafien in schwarzer Tusche auf Bleistifthilfslinien sind fragil und nicht frei von Schreibfehlern, Korrekturen, Wiederholungen, Tilgungen; sie sind in einem breiten Skript ausgeführt, an das man sich von alten Schultafeln oder Ladenschildern her zu erinnern meint. Dreyer nennt sie auch „Headlines“. Wenn sie nur halb „künstlerisch“ wirken, so ist die andere Hälfte in all ihrer Apodiktik „abgründig“ zu nennen − nicht, dass sich beides ausschlösse.
Dreyer ist auch ein Erfinder eigenwilliger Maltechniken, die strikt antivirtuos zu nennen wären und doch ebenso voraussetzungsvoll und „besonders“ sind wie alles andere in seinen Produktionen. Ich mochte schon vor dieser Ausstellung seine selbst gebauten Holzzirkel, an deren peripherer Spitze ein Pinsel gehalten wird, mit dem in verschiedenen Farben und Anpressstärken konzentrische Kreise geschaffen wurden, die ein wenig den „Scheibenbildern“ von Poul Gernes oder Jörg Schlicks Kreisbildern ähneln. Die Kreise führt Dreyer auf die japanische Enso-Technik zurück, die allerdings eine Malpraxis bezeichnet, bei der der Meister frei Hand in einem Bewegungsbogen mit dem Pinsel einen kreisförmigen Strich herstellt, der mit der Abnahme der Farbe im Pinsel am Ende charakteristisch ausfranst und sich im Sinne einer Ästhetik der Nichtperfektion meist nicht ganz schließt.
Die Formel „Autor/in − Titel“ war eine wichtige Sprechstrategie der Ausstellung, deren Raffinesse sich nach und nach herausstellte, nachdem man sich zunächst in einer Zitatenhölle befunden hatte. Ein Titel nach dem anderen ließ einen ein erweitertes und heterogenes Begriffsfeld, eine thematische „Cloud“ konstruieren, die schon im Ausstellungstitel „Gemeinschaftsarbeiten“, aber auch bei Buchtiteln in der Ausstellung wie „Gemeinschaft und Gesellschaft“ von Ferdinand Tönnies oder „Gegenseitige Hilfe im Tierreich und bei den Menschen“ von Pjotr Kropotkin anklang.
Man fand mit der Zeit heraus, dass es bei solchen Titeln und den von ihnen angekurbelten intertextuellen Bezügen nicht (jedenfalls nicht in erster Linie) um bildungsbürgerliche Ballaststoffe ging, sondern eher um den bewussten Nachvollzug eines Splittings zwischen formalen und inhaltlichen Lesarten, durch das man zwischen auktorialer Handschrift und Sehtest-Texttafel, zwischen Unter- und Überforderung, zwischen seriöser Bezugnahme und Kiffer-Impromptu zu oszillieren hatte.
Das Begriffsfeld verdichtete sich um einen weit gefassten Gemeinschaftsbegriff, der zum Gesellschaftlichen in unterschiedlichen Konstellationen weiter- und über diese hinausführen sollte. Der ebenfalls auf dem Plakat zur Ausstellung zu lesende nicht übersetzte Titel „Society Pieces“ zog Vermutungen auf sich, es könne weniger um gemeinsam mit anderen hergestellte Arbeiten als um Arbeiten in Bezug auf eine Gemeinschaft oder eben eine Gesellschaft gehen − oder um eine „Gesellschaft in Stücken“? Eine solche ungenaue „Übersetzung“ sensibilisierte einen jedenfalls schon für die experimentellen Verhältnisse, die Bilder, Worte und Formate innerhalb der Ausstellung eingingen. Folgte man den Bild- und Textelementen, dann stand man im Wesentlichen vor drei Gemeinschaftsformen: Gesellschaft, Familie, Geschwisterbeziehung − plus der jeweils aus diesen abgespaltenen und zurückgelassenen vereinzelten Subjektposition.
Das Plakatmotiv, eine der für Dreyers Werke der letzten Jahre typischen großformatigen Tuschezeichnungen, zeigte ein als weiße Aussparung stilisiertes Ei mit der spitzen Seite zuunterst in einem ebenso schablonenhaft ausgeführten dunkelgrünen Räderwerk. Unter dem Ono-esken Titel „Egg Peace“ ist die karikaturhaft vergröberte Metapher für brutale Technologie und unschuldige Natur, die jede differenzierende Abmilderung von sich zu weisen schien − es sei denn, man vermochte bei dieser Kombination an das Bild vom „Sand im Getriebe“ zu denken −, mehrfach Teil der Ausstellung. Sie wird darin außerdem in unterschiedlichen Realitäts- und Entwicklungsstufen weitergeführt: im Bild, dort auch als aus Kreisen stilisiertes Küken, wie auch als Wort und als tatsächliches Vogelei unter vielen in einer morphologischen Vitrinenordnung, flankiert von ornithologischen Objekttexten − eine Vorgehensweise, die am meisten an Marcel Broodthaers’ „Musée d’Art Moderne, Département des Aigles“ (1968) erinnerte und damit einen der klarsten Hinweise setzte, dass man es bei Dreyers Ausstellung mit einer künstlerisch-kuratorischen Installation zu tun hatte.
Vitrine und Sockel gehören zum festen Bestand seiner zwischen aufgesetzter Strenge und intuitiver Verspieltheit changierenden Ausdrucksmittel. In vorangegangenen Ausstellungen hatte er sie geteilt, verspiegelt, gestapelt, mit Texten und Bildern beklebt. Hier tauchten beide Elemente in einer quasimusealen Umgebung auf, was Dreyers kapriziösem Temperament reichlich Futter bot. Die vitrinisierten Eier wurden über teils oberflächliche, teils kryptische Buchtitel − von „Kein Ei gleicht dem anderen“ über Engels’ „Ursprung der Familie“ und Sohn-Rethels „Das Geld, die bare Münze des Apriori“ bis zu Heideggers „Der Ursprung des Kunstwerkes“ − auf der anderen Seite des Objekttisches zu einem neuen Motiv weiterentwickelt: zu antiken Münzen, die aus dem Badischen Landesmuseum ausgeliehen waren. Dies wiederum war nur der Anfang einer weitschweifigen assoziativen Flugrunde, die sich als nächstes auf Literatur (Peter Weiss’ „Der Schatten des Körpers des Kutschers“) und auf Film (Fassbinders „Chinesisches Roulette“) bezog (beides noch in einer linkischen plastischen Umsetzung als Gipsskulpturen mit dem Titel „Kind, eine Spieluhr zerstörend“ und „Kind, mit Krücke deutend“ kombiniert) und sich dann mit Pop-, Rock- und Jazz-Singles, Textbildern und Collagen fortsetzte. Eine offenbar nicht deterministische Anordnung, die sich bezeichnenderweise der kompletten Nacherzählung im Rahmen einer Rezension wie dieser entzieht. Magnetismus und Pikanterie der gestifteten Nachbarschaften bleiben nur auszugsweise vermittelbar; was sich in der Karlsruher Ausstellung, der bislang größten Einzelausstellung des Künstlers, wozu gesellte, war Objekt Dreyer’scher Arrangierkunst, die hier im Verhältnis zu vorigen Anlässen nochmals gesteigert schien − da sie das Soziale im Assoziativen sinnfällig werden ließ. Die Volatilität der Bezüge ging so weit, dass auch nach der Eröffnung noch installative Elemente ausgetauscht wurden.
Tief im Bauch der Ausstellung begegnete man dann einem ungerahmten Schwarz-Weiß-Foto. Es zeigte den jungen Dreyer albern im Gestänge seines auf den Kopf gestellten Fahrrads liegend. An diesem Punkt der Ausstellung „erkennt“ man sofort die formale Parallele, die seinen Kopf zwischen den Rädern mit dem Ei im industriellen Räderwerk verbindet. Von Hand auf der mechanischen Schreibmaschine getippt, auf vier schmalen Papierstreifen ausgeschnitten und auf die Wand geklebt, liest man: „Ich, mit dem Fahrrad, mit dem ich auf das Gelände einer Hühnerfarm und dort auf einen Reisighaufen geriet, unter dem Bruderhähne piepsend verendeten (was ich erst später begriff).“ Durch diese Worte schien nun das Zentralsubjekt der Ausstellung als autobiografische Konstruktion gefunden, im (nicht sichtbaren) Moment seiner kindlichen Traumatisierung angesichts der brutalen Aussonderung der männlichen, also nicht reproduktionsrelevanten Küken − einer Vorstufe des heutigen massenhaften Schredderns gerade geborener männlicher Tiere, das die Bürger/innen dieses Landes nicht davonabhält, im Schnitt 235 Eier pro Jahr zu konsumieren. Rückwirkend schienen sich durch diese paar Worte die plakativen Bildformeln und Textkombinationen der Ausstellung dramatisch mit „Leben“ zu füllen − ging es also um die Bearbeitung dieses Traumas, zu dessen Ansprache die Bruderhähne als fellow creatures und identifikatorische Leidensgenossen in Dienst genommen und in einen größeren sozialen Zusammenhang übertragen werden sollten? Ja und nein. Das dramatische „Ich“ in einer Bildunterschrift unter dem Foto wäre dazu dann doch zu verschämt in einer Durchgangssituation platziert, um diese Bedeutungsarchitektur zu tragen. Oder? Es zählt zu den Vorteilen der Struktur dieser Installation, dass sie keine solche lineare Lesart favorisiert − das Autobiografische könnte lediglich am stärksten zur Identifikation bzw. Projektion einladen. Durch die generelle Stimmung, die Überdeterminierung und Übercodierung zugleich betreibt, löst Dreyer solche Klarheiten eher auf.
Das Motiv der durch menschliche Technik bedrohten Natur steht in diesem Sinne nicht allein da: An einem Buchtitel von Rotraut Wisskirchen − „Zum ‚Tierfrieden‘ in spätantiken Denkmälern“ − setzt ein ganz anderer Erzählstrang an, in dem die kultur- und religionshistorische Motivik eines (paradiesischen) Nichtangriffspaktes zwischen Beutetieren und Raubtieren aufgerufen wird, auch bildlich. Diese Darstellungen brauchen Chiffren der friedlichen Interaktion zwischen den Arten; sie offenbaren zärtliche Berührung, Zusammenhang. Ohne diesen Kontakt könnte man etwa denken, dass der Löwe einfach nur vollgefressen ist. Eine weitere utopische Perspektive eröffnet die ebenfalls textuell präsente Idee der Geschwisterbeziehung, die mit einem zerfließend und doppelt kalligrafierten Zitat des Psychoanalytikers Sándor Ferenczi aufgerufen wird: „Unter Geschwistern kann, weil sie am meisten auf gemeinsame und gleiche Tätigkeit hingewiesen werden, die wahre Hilfeleistung, gegenseitige Unterstützung und Förderung am meisten sich darstellen.“ Das zerschossene Erscheinungsbild der Schriftgestaltung ist untrügliches Zeichen zugleich einer auktorialen Annäherung (durch Mühe) und Distanzierung (durch So-Lassen).
Die Valenz geschichtlicher Zitate ist auf jeden Fall die von Installationselementen, die eine Funktion im gesamten Assoziationsnetz erfüllen. Das Surfen auf nur anklingenden Bildern, Begriffen und Sätzen kann böse ins Auge gehen. Das Verweisspiel bedeutet auch deshalb, aufgrund seiner gewagten, weil angreifbaren Fülle, keineswegs „Oberflächlichkeit“ – vielmehr werden die Versatzstücke in einem halbgaren Zustand aufgegriffen, der sie für die verschiedenen Verknüpfungsversuche der Betrachter/innen offenhält. Dreyers „Material“ ist so alles andere als die protestantischen Lesestuben und Fotokopie-Ordner in der Kontextkunst der 1990er Jahre. Assoziatives Wissen ist (wie auch andere Wissensformen) in der Digitalität akzessorisch, herumtragbar geworden. Die relative Schlankheit, die Elliptik der Dreyer’schen Referenzökonomie braucht die Verfügbarkeit mobiler Suchmaschinen, auch im Ausstellungsraum, nicht eigens zu erwähnen. Eine wichtige Rolle spielt hier das Nebeneinander populärer, tja, Idiome oder vernaculars und akademischer und kultur- und geistesgeschichtlicher Großkomplexe, was einen wiederum in Versuchung führt, das gesellige Gemeinsein der Formalismen und Inhaltismen deutungsmäßig als Paradiesgarten kurzzuschließen, in dem High und Low des Wissens und Wollens zusammenleben, einander tolerieren, ja sich sogar berühren können. Kurz: Die Ideen, die jenseits der Gewaltzusammenhänge und Machtformationen des Staates, der Familie, des Paares etc. liegen, lässt diese Installation miteinander arbeiten, wie der Kapitalismus dein Geld arbeiten lässt. Was – so schlimm? Ja.
Titelbild: „Michael Dreyer: Geimeinschaftsarbeiten“, Badischer Kunstverein Karlsruhe, 2017. Ausstellungssansicht
„Michael Dreyer: Gemeinschaftsarbeiten/Society Pieces“, Badischer Kunstverein, Karlsruhe, 18. Mai bis 20. August 2017.