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Diedrich Diederichsen

Gefühlte Paprika- Die politische Subjektivität der Boheme

T-Shirt mit Songzeile der Berliner Band „Lassie Singers“

I. Das aufgeschobene Leben [1]

1. Spät im Kapitalismus

Es wird immer später in der Republik. In den mittleren 80ern waren in Köln nur wenige Kneipen zu finden, in denen man nach ein Uhr nachts noch Leute treffen konnte. Heute füllen sich die entsprechenden Bars überhaupt erst gegen 2 Uhr 30. In Hamburg, wo man immer schon etwas länger aufblieb, geht heute früh nach Hause, wer es vor 6 Uhr schafft, den Wodka stehenzulassen oder vom Dancefloor aufzubrechen. Noch eine Pizza? Jetzt habe ich Hunger.

Gleichzeitig verfügen die Betreffenden über weniger Geld, weniger Zukunft und weniger Chancen, das in endlosen Kneipengesprächen möglicherweise angehäufte kulturelle Kapital gewinnbringend anzulegen. Statt dessen hört man die jungen Leute, meistens Männer, wieder viel von Politik reden. Nicht gerade der heißeste Gegenstand in den 80ern. Das Mißverhältnis zwischen eingenommenem und für Alkohol ausgegebenem Geld ist nichts Neues, es gehört traditionell zur Krise, wie wir aus englischen Bergarbeitersiedlungen wissen (der Wirt ist als einziger nicht von der Krise betroffen und gibt daher schon gern mal einen aus). In einem Lebensmittelgeschäft in Hamburg-Wilhelmsburg ist im gleichen Zeitraum der Umsatz um 6000 Mark zurückgegangen, in dem der Verkauf von hartem Alkohol die Spitze der ganzen Hansestadt erreicht hat. Wer heute vom Elend im Studentenmilieu redet, muß zunächst über materielles Elend reden. Die Magie ungedeckter EC-Karten, über die jeder verfügt, ist an die Stelle des Schwarzfahrens getreten, wenn es darum geht, sich vor anderen mit der eigenen Illegalität/Schlampigkeit zu brüsten. Schwarzfahren war eine Option, ein Spaß oder Protest, die ungedeckten EC-Karten sind bitterer Ernst. Aber man schämt sich seiner Armut nicht, das Elend der Krise verhilft zu Legitimierungen, die das inhaltliche Elend im Boheme-Milieu zu einem Pariser Lebenslauf des 19. Jahrhunderts zurechtromantisieren. Das uninspirierende Nichtweiterwissen oder Endlosverfeinern der späten 80er Jahre erscheint von heute aus als Epoche luxuriöser Dekadenz. Und umgekehrt heute: nichts zu essen, aber das Leben hat wieder einen (politischen) Sinn.

2. Messungen und Methoden

Von wem rede ich hier, von welchem Zeitraum und woher weiß ich das? Natürlich von mir und den Meinen. Das heißt: von Leuten, die wie ich zwischen den mittleren 70ern und heute als Kulturarbeiter, Aktivisten die Schnittstellen von (Gegen)Politik und (Gegen)Kultur gekreuzt haben. Auch wenn ich glaube, daß mir wesentliche Entwicklungen nicht entgangen sind, ist es klar, daß das nicht stimmt. Meine Methode ist, das Verhalten, die Praxis und das Selbstbild der Beteiligten zu Modellen zu verkürzen und zu fragen, was mit diesen Modellen anzufangen ist. Die Analyse von Gruppen im kulturellen Bereich unterliegt besonderen Schwierigkeiten: Zum einen steht die geringe Anzahl der Beteiligten meist in keinem Verhältnis zu relativ großen Wirkungen ihrer Behauptungen, zum anderen steht die Anzahl und der Reichtum der Auskünfte, die von solchen Gruppen gegeben werden. in keinem Verhältnis zu deren soziologischer Aussagekraft. Mit anderen Worten: Wer über die schreibt, die Romane schreiben, kommt oft nicht darum herum, selber Romane zu schreiben. Wer sich die falsche Alternative Objektivismus oder Subjektivismus nicht stellt, erfährt aber etwas über das Leben in den Städten, das nur eine Frage beantworten will: Was an diesem Leben ermöglicht, bedingt und legitimiert politisches Handeln?

3. Die Kneipe und die Stadt

Die Bilder- und Ideenwelt der Boheme hat sich im Laufe der 70er und endgültig in den 80ern in die Stadt und die Kneipe verlagert. Das war zwar schon traditionell ihr Einzugsgebiet, aber keineswegs in der unmittelbaren Vergangenheit. In den 70ern waren Kneipen kaum Orte kontinuierlicher Entwicklung. Auch die Konzertkneipe, in der regelmäßig bis täglich tourende Bands auftreten, die Independent-Szene existierten nicht. Die Kunstwelt war, vom Einzugsgebiet der Düsseldorfer Akademie abgesehen, eine Option für extrem wenige Bohemiens. Ästhetisches Material für neueste Gedanken lieferte bezeichnenderweise das Kino, ein relativ unkommunikativer Ort. Um Hamburg gab es aber z.B. einen Gürtel von Land-WGs, politischen, religiösen und sonstigen; auch in der Stadt sorgten bestimmte wichtige WGs für Kontinuität und Bezug, auch diese lagen eher in Suburbs als in der Innenstadt. Die Umorientierung in die innere Stadt, die dort stattfindenden Häuserkämpfe kamen in den 80ern (sieht man von wenigen Vorläufern ab) zeitgleich mit den neuen ökonomischen Chancen in der Kultur, zeitgleich mit Punk/New Wave und sogenannten Neuen Wilden auf. Die „Übernahme“ bestimmter Stadtteile durch eine sowohl politische wie (alternativ-) konsumistische Szene mit dem dazugehörigen Ghetto-Lebensgefühl, der Idee, ein Viertel zu verteidigen als Folie aller späteren, nicht stellvertreter-politischen Denkmodelle konsolidierte sich ebenfalls in den frühen 80ern (kurz danach zerfielen die Szenen in „politische“ und „hedonistische“ oder „ästhetische", ohne allerdings im eigenen Selbstverständnis die jeweils andere Option aufzugeben: in Kreuzberg, Karoviertel, Schanzenviertel blieb man auch weiterhin Nachbar). Anders als bei der vorangegangenen WG-, Landkommunen- und Universitäts-bestimmten Szene waren die neuen Formen ungeregelter, lockerer, die Grenzen fließender. Sie hatten etwas von Befreiung, aber auch von Goldgräberstimmung. Sitten und Gebräuche waren nicht mehr das, was man heute p.c. nennt („Es war p.c., nicht p.c. zu sein“, habe ich mal anderswo über diese Zeit geschrieben), unberechenbarer, experimenteller. Gleichzeitig waren all die neuen Raume viel stärker von auch kommerziellen und anderweitig fremdbestimmten Strukturen abhängig. Neue Typen wurden wichtig: einerseits Krieger, Warrior, Großstadtindianer, andererseits Gurus und Wortführer. Beim Umschlag zwischen 77 und 78 [2] fielen Konventionen und Verbote wie, niemals ein Gespräch zu dominieren, endlose Umarmungen zur Begrüßung, der „liebe Blick“, das inflationierte „Du“, grenzenloses Verständnis und Gesprächsbereitschaft. Diese Umgangsformen waren plötzlich ebenso als terroristisch wie als verlogen entlarvt worden, sie sollten durch neue ersetzt werden. Aber wie immer, wenn etwas falsches Altes fällt, tritt an dessen Stelle nicht nur das gute Neue, sondern auch das noch schlechtere Nochältere. In mancher Hinsicht gewannen Männer verlorenes Terrain zurück, fanden sich Frauen selbstverständlich in Positionen wieder, die schon überwunden schienen. Der Goldgräber wollte sich nicht mehr an Vereinbarungen halten, die der sogenannte Softie oder „Neue Sozialisationstyp“ unterschrieben hatte: Girls, die nicht als die schöne Nessie Bardame spielen wollten, hatten es plötzlich schwer. Das Feiern neuer (gerne auch instabiler) Identitäten und die (durchaus auch berechtigte) Distanzierung von den alten Linken hatte sehr schnell auch diese noch älteren Verhältnisse wieder in Kraft gesetzt. Mannesstolz und Besitzdenken sind nun einmal Attribute des Guru wie des Warrior. Andererseits traten die Slits, Raincoats, Kleenex, Au-Pairs, Lizzy Mercier Descloux auf den Plan, und der von Jungs mitgegröhlte feministische Punk-Hit hieß „Hau ab, du stinkst“ (von Hans-a-Plast). Die Punk-Ästhetik war die erste offen antisexistische Szene-Ästhetik, sie schrieb neue Identitäten nicht fest, bezweifelte die Gegebenheit des Körperlichen und der Geschlechteridentität und wußte: „I am a cliché" (X-Ray-Spex-Sängerin Poly Styrene). Und im künstlerisch-musikalischen Bereich hatten neue Frauen einen Einfluß, den sie szene-sozial zu verlieren drohten.

3. Das Dreieck des jungen Mannes

Traditionell hat, seit ich denken kann, der junge Mann, und von jungen Männern ist hier zunächst die Rede, weil sie aus den Kämpfen der Früh-80er-Boheme sowohl als Sieger hervorgingen als auch den Anschluß an ältere (hauptsächlich urbane), männlich- dominierte Boheme-Modelle herstellten, drei Möglichkeiten, sich der Welt überzustülpen, Geld zu verdienen oder Kontaktanzeigen auf der Suche nach Job und Partnerinnen aufzugeben: die Universität, die Partei und die Poesie. [3] Das hat u.a. auch damit zu tun, daß man ihm irgendwann mal erzählt hat, wenn er es nicht selbst noch gespürt hat, daß diese drei Dinge 1968 verschmolzen gewesen sein sollen: nichts hat etwas anderes ausgeschlossen, nichts etwas anderes aufgeschoben. Nach der Explosion auseinandergesprengt und aufgeteilt, waren nur die Reste des Stoffs des Aufstands zu finden, und wenn möglich sollten sie wieder zusammengefügt werden. Zum anderen hatte die Hitze und Geschwindigkeit der Situationen zwischen 78 und 82 mit einer Öffnung der Boheme zu tun, die nun (begrenzt) proletarische Jugendliche zuließ (ein nicht unwichtiger Teil der Punk-Rocker). In dem Maße, in dem man sie zuließ und von ihnen lernte (u.a. auch „Männlichkeit"), grenzte man sich instinktiv von ihnen, die diese Möglichkeiten kaum hatten, ab und investierte in eine dieser traditionellen drei Möglichkeiten. In den 70er Jahren kann ich mich erinnern, die Lebensentwürfe zwischen den drei Polen oft gewechselt zu haben. Das kann damit zu tun haben, daß ich noch jünger war, oder aber damit, daß es leichter ging (wofür einiges spricht: geringere Konkurrenz, unklarere Definitionen etc.).

Die Universität, im folgenden Akademie genannt, steht in den Großstädten herum und verwaltet und produziert Wissen, legitimes Wissen. Niemand stört sich heute mehr daran. Den Eingeschriebenen ist es seit Jahren nicht mehr gelungen, stetige Verschlechterungen von Studienbedingungen und zunehmende Unmöglichkeit von Kritik und Opposition auch nur annähernd so wirksam und glamourös dem Rest der Welt mitzuteilen wie in Zeiten, als die Lage noch wesentlich günstiger war. Gerade in dieser Unfähigkeit besteht ja auch die Unerträglichkeit der Lage. Aber sie hat noch einen anderen Grund: Die Universität hat Konkurrenz bekommen. Ihr offizielles (legitimes) Wissen, das ich im folgenden „Philosophie“ nenne, wurde durch ein inoffizielles (illegitimes) Wissen herausgefordert, das ich „Theorie“ nenne. Das hängt auch damit zusammen, daß sich die gegenkulturellen Debatten seit Verhängung von Regelstudienzeiten, im Zuge also der Niederlage aller universitärer Politik der 70er, in die Kneipen verlagert haben. Die Zeit spielte dabei die entscheidende Rolle: Das immer länger Geöffnethaben, Aufbleiben ging mit den immer kürzeren Studienzeiten einher. Das Versprechen des Studiums, möglichst lange keiner geregelten Tätigkeit nachgehen zu müssen, wurde nicht mehr eingelöst. Der bildungspolitische Imperativ lautet nicht erst seit der Rezession, aber seitdem nochmals verschärft: Ausbildungszeiten kürzen. Das Versprechen auf Aufschub realisierte sich nur noch täglich in der Kneipe („Bitte nicht nach Hause schicken!“. Bildtitel Kippenberger). Die herrliche Zeit des schier endlosen, der Selbstverwirklichung gewidmeten Lebenszeitraums Studium ließ sich nur noch alkoholisiert, nicht minder herrlich, bei verlängerten Öffnungszeiten realisieren. Und über Recht- oder Unrechthaben entschied nicht mehr die geregelte Kompetenz der akademischen oder parteipolitischen Diskussion, sondern die poetische Kompetenz des Charismatikers.

Die Partei und die Parteichen (von den Jusos zur K-Gruppe, vom Stadteilzentrum bis zur Polit-Sekte) waren eine andere Chance. Hier verbreitete und produzierte man nicht legitimes Wissen, sondern legitimes Handeln. Sowohl Partei im weitesten Sinne als auch Akademie im weitesten Sinne wurden eine Weile brisant durch die Tatsache, daß sie die radikalste Opposition beherbergten und auch die darum entstandenen Lebensformen. Doch die Partei züchtete das Komplement zur „Verlogenheit“ oder „Naivität“ des Hippie: die rigide Entschiedenheit, den patriarchalen Führer (der natürlich nicht das Charisma des neuen Warriors oder Szene-Gurus haben konnte, weil er offiziell das Kollektiv vertreten mußte: also lügen). Seit den 80er Jahren gab es andere Chancen, die die Parteipolitik dazu noch skurril und weltfremd erscheinen ließen und die man nicht allein mit dem bösen, moralistischen Wort der Karriere entkräften kann: Es gab nicht nur neue lndividualismen. Auch der relevante (sichtbare, attraktive, beachtete) politische Widerstand wurde nunmehr von „Bewegungen“ inszeniert (von „Züri brennt“ bis „London Calling“), die anderen Gesetzen gehorchten. Die Chance der Relevanz ließ, neben anderen Versprechungen, manche gerne das aufgeben, was ihm die Geschütztheit der Partei gegeben hatte. Was war eine ferne Revolution gegen ein nahes Brokdorf?

Der dritte Weg war die Poesie. Das Bekenntnis zu ihr beinhaltete in der Regel den bewußten Verzicht auf die unerträgliche Verantwortlichkeit, die mit Partei und Akademie verbunden war. Wer sich für die Poesie entschied, verstand die Kontaktanzeige nur als erotische, nicht mehr als Stellengesuch. Wer für die Poesie optierte, wählte den radikalen lndividualismus. Er mußte ohne die vermittelnde Distanz des Gedankens, der Rede oder des Programms klarmachen, hier und jetzt, was er meint. Das wiederum beeindruckte tendenziell auch die Leute an der Akademie oder in der Partei; erstere hatten immer genau das denken wollen, was der Poet zu leben schien: Unmittelbarkeit, Leben ohne Aufschub; letztere erkannten in seinem Leben die erzwungene Distanzlosigkeit aus dem Leben der Unterdrückten wieder (die damals noch den Ehrentitel „politische Subjekte“ trugen). Artaud, Rimbaud und Lautreamont wurden im gleichen Zeitraum Vorbilder für Patti Smith und ihre Fans, wie sie Gegenstand akademischer Untersuchungen und neuer Editionen wurden.

Dem Poeten begegnete, und das war im Gegensatz zu dem, was mancher Marxist behauptet, nicht immer so, in den frühen 80er Jahren nun ein ungeahntes Verständnis seitens der kulturellen Kreditinstitute. Gerade er durfte plötzlich verzinsen, was bei Akademien und Parteien zu unsicheren Papieren geworden war: Opposition, Illegitimität, Dissidenz. Er durfte Filme drehen. Platten aufnehmen, „Projekte“ realisieren, einflußreich schwafeln und in Werbeagenturen rasend schnell ohne jede Schulbildung viel Geld verdienen.

4. Aufgeschobenes Leben

ln der ansonsten unerträglichen Robert-de-Niro-als-Heinz-Rühmann-rettet-gefallene-Uma-Thurman-vor-Martin-Kippenberger-als-Bill-Murray-Schnulze „Mad Dog and Glory“ geht es um drei Figuren, die alle erzählen, daß sie in Wirklichkeit gerne etwas anderes wären, nämlich Künstler. Die beiden Männer haben sich den Traum abgeschminkt, sie sind Polizisten bzw. Gangster geworden, die Frau hat den Traum verwirklichen und sich als Kellnerin finanzieren wollen, was sie dann geblieben ist. Sie sagt, durch den Mund von Uma Thurman: „Leben ist das, wo man hängen geblieben ist, während man auf die Erfüllung seiner Träume gewartet hat.“ Der Poet lernte das während der 80er Jahre ebenso wie die anderen Typen, die wir kennengelernt haben. Dabei gibt es zwei Arten von Aufschub, die auf einem anderen Niveau und unbemerkt wieder einführten, was 68 abgeschafft werden sollte: die Trennung von Bewußtseinsform und Leben. Der erste Typ ist der, den auch Bourdieu als charakteristisch für die neuen Mittelklassen, die städtischen neuen Berufe beschreibt: Ich arbeite zwar als Werbetexter, aber eigentlich bin ich Dichter. Die Chance, Geld zu verdienen, weit über das hinaus, was das Bildungskapital erhoffen ließ, die Liebe der Industrie zu den Illegitimen und den Poeten kaufte diese aus ihrer (teilweise) selbstgewählten Unmittelbarkeit [4] frei“. Das dort erworbene und während der 80er Jahre so begehrte „Querdenkertum“, die Unangepaßtheit“ mußte so aber verlorengehen, die stammten ja aus den Bergwerken der sogenannten Authentizität. So mußten im Laufe des Jahrzehnts viele zurückkehren. Andere zahlten die üblichen Preise: Drogen, Aids, Auszehrung. Selten war zu klären, ob die einzelnen vom System ausgespuckt wurden, weil unfähig, den begehrten Rohstoff länger zu liefern, oder freiwillig zurückgekehrt sind. In den 80er Jahren lernte auch der Poet die Karriereleiter als Maß kennen.

Der andere Aufschub ist schwerer zu beschreiben: Es war die Verlängerung der Jugend. Die immer länger geöffneten Kneipen boten weit mehr Raum und Zeit als je irgendwelche Universitäten, um das Leben ohne sogenannte feste Bindungen zu verbringen, die Schattenökonomie der Indie- Pop- und Kunst-Szene, die Möglichkeiten für die oft gut ausgebildeten Kleinbürgerkinder, sich den Traum zu erfüllen, weder als Kellner arbeiten, noch Gangster werden zu müssen, waren gewachsen. Die drübergestülpte, parasitär an der großstädtischen Szene saugende Werbe- und Lifestyle-Industrie schoß immer wieder von außen Beträge zu, die oft so etwas wie „Luxus“ oder „Lebensart“ in das System injizierten, so daß es ganz so aussah wie bei Henri Murgers „Scenes de la vie bohème“ - auf Zeiten der ausschließlichen Ernährung durch Bier folgten solche des gehobenen Geschmacks.

Während also im ersten Typus des Aufschubs der Ernst des Lebens als Geldverdienerei, Kreditaufnehmen, Existenzgründen längst unbemerkt begonnen hat, träumt der Betreffende eigentlich, ein anderer zu sein, und verschiebt die Realisierung auf später. Mit dem Gedanken an Aufschub, an ein späteres „eigentliches“ (und unmittelbares) Leben bewahrt er sein Gesicht im „vorläufigen“ falschen Leben, bewahrt ein intaktes Selbstbild. Der andere Aufschub erwirbt gerade Unmittelbarkeit, Radikalität, Authentizität oder das, was die Betreffenden dafür halten, indem er die Einbindung, Integration, das geregelte Geldverdienen aufschiebt. Da der Aufschiebende in dieser Zeit auch leben muß, geht er immer, bewußt oder nicht, einen ganz spezifischen Kompromiß ein. Dieser Kompromiß ist der blinde Fleck, der so funktioniert wie die Selbsttäuschung im ersten Aufschubstypus. Die beiden stützen auch einander, weil in der „Ökonomie der Chance“ in den frühen 80ern die Wechsel zwischen beiden Aufschubmodellen häufig waren: Der jeweilige Wechsel (oder der Verzicht darauf) konnte dann als Kritik des blinden Flecks des jeweils anderen Typus legitimiert werden. Daß die einen nur labern“, legitimierte Aktionismus, daß die anderen nur „blind aktiv sind", legitimierte Theorismus. Der jeweils andere hatte eine Lebenslüge zu verbergen. Oder: Er hatte ein Symptom.

5. Verfestigung der Aufschubverhältnisse und Entstehung ihrer spezifischen Bewußtseinsform: Selberdenkertum

In dem Maße, in dem die relevanten und gefragten Beiträge zum Diskurs nicht mehr von der Akademie kamen und Parteien aller Art von der Szene (der Bürger folgte ihr auch in diesem Punkt später) nur noch Verdrossenheit entgegengebracht wurde, in dem also illegitimes Denken (Theorie, Popmusik, bildende Kunst) und illegitimes Handeln (Autonome, Spontaneisten) ihre Hochkonjunktur erlebten, entstand eine eigene Bewußtseinsform, das Selberdenkertum: ein dem Selbstwiderspruch nicht abgeneigtes, antikanonisches, eklektizistisches, „rhizomatisches“ Reden und Denken, das nicht nur, wie es von sich selbst sagte, einen notwendigen Paradigmenwechsel vollzog (von dem monokausalen, akademischen, totalitären Meisterdenkertum zu einem angemessenen „wilden“ Denken), sondern eben auch die Entsprechung einer halb begrüßten, halb gefürchteten und aufgezwungenen ökonomischen Unsicherheit und „unordentlichen“ Lebensplanung war. Das Selberdenken ist die Fortsetzung der Poesie mit anderen Mitteln, bzw. die Fortsetzung der Poesie im Zeitalter ihres Erfolges über Partei und Akademie. Der Begriff umfaßt alles, was vom schreibenden Künstler über Stadtzeitschriften- und Zeitgeistblätter-Kolumnisten, „französisch“ geprägte Theoretiker außerhalb und am Rande der Unis bis zum Autor dieser Zeilen in den 80er Jahren unter Bedingungen Gehör gefunden hat, die der wesentlich rigidere Kultur- und Wissenschaftsbetrieb der 70er ihnen verweigert hätte. Die in Parteien und Akademien produzierten Wissens- und Lebensformen wurden dagegen während der 80er aus dem öffentlichen Blick gedrängt. Der so aufgewertete, aber immer noch „unordentlich“ wechselhaft lebende Poet, der sich aber immer noch, oft ohne das zu wissen, bei Akademie und Partei bedient, entwickelt im Laufe der 80er, irgendwo zwischen dem Umschlag von Holger Hiller zu Kolossale Jugend und von Kolossale Jugend zu Blumfeld und Cpt. Kirk &, ein selbstgemachtes Denken, das er dank seiner neuen Position nicht mehr nur individualistisch codiert, sondern in Ansätzen wieder universalisiert: Die Poesie will plötzlich mehr erklären und zelebrieren als individuelle Zustände, sie sieht Gemeinsamkeiten (ohne sofort den poetischen Anspruch und den dazugehörigen Style/Habitus aufzugeben). Da beginnt die neue, sich auch wieder „politisch“ gerierende Orientierung der jungen Männer in den großen Städten (und nun gibt es auch wieder eine Begrifflichkeit oder gar Bewußtsein davon, daß und warum ihnen Frauen als Mitstreiterinnen verlorengegangen sind). Exakt an dem Punkt, wo sich die zugestandene Aufschiebung des Ernstes des Lebens (ewige Studentenzeit, erträgliche Einnahmen in den Schattenökonomien der Indie-Szene und der Kunstwelt) in einen erzwungenen Aufschub (Arbeitslosigkeit, Rezession auch im Kulturbereich, Steigerung des Anteils auch der Beschäftigten, die nicht mehr dauerhafte Jobs haben, sondern sich von Job zu Job hangeln, wodurch Leute unfreiwillig bohemisiert werden, aber oft die betreffenden Verhaltensweisen und Denkgewohnheiten entwickeln) verwandelt, wird aus der fröhlichen Dissidenz des theoretisierenden Selberdenkers politischer Ernst.

6. Frauen und Schwule

Der Hedonismus, der auf der Schwelle vom Poeten zum Selberdenker in den 80er Jahren zelebriert wurde, verdankt sich ganz stark dem neuen Begriff von Politik, Vertretung, Widerstand, der durch Minderheitenkulturen, Feminismus und Schwulenbewegung vorgeführt wurde: Wenn es denn politisch sein kann, ein anderes Leben zuführen (und darauf konnten sich ja vom Hausbesetzer bis zum Szene-Intellektuellen alle einigen), einen gesellschaftlichen Code anzugreifen, Symbole zu unterwandern etc., wie Frauen, Schwule, schwarze Kultur gezeigt hatten, dann konnten das die metropolitanen post-poetischen jungen Männer auch tun. Noch heute ist es den Re-Politisierten wichtig, Style zu zeigen. Ja gerade das Beharren auf der Bedeutung von Style gilt vielen als unausgesprochene Ausrede, sich im heute neugewonnenen politischen Denken ganz simplizistisch auf altlinke, reduktionistische Positionen zurückzuziehen: Man zeigt ja durch seinen Style, daß man es nicht so reduktionistisch meinen kann, wie man es mangels besserer Begriffe sagt, die man vielleicht gewinnen könnte, wenn man all das Selbergedachte, das man davor entwickelt hatte und dann an der Schwelle der Re-Politisierung vergessen hat (peinlich gefunden hat), ernster genommen hätte. Vor allem aber, wenn die Vorbildfunktion der Bewegungen, die die Stellvertreterpolitik abgeschafft haben, für den eigenen Anspruch, es ihnen über Imitation ihrer Methoden gleich zutun, klarer geworden wäre: Sich-Verkleiden und in Zungen reden, was z.B. von Schwulen- und schwarzer Kultur gelernt wurde, konnte so einverleibt werden, bis es von anderen, immer schon praktizierten Politik- und Partyformen nicht mehr zu unterscheiden war. Zugrunde liegt dieser Strategie auch ein Vorgehen, das den oben beschriebenen ähnelt: Der Widerspruch, der in den Anspruch von „Radikalität“ oder „Authentizität“ eingeschrieben ist, wird delegiert an eine Spaltung zwischen Style und politischer Überzeugung, an unverbundene Lebensbereiche. Weit entfernt davon, Dissonanzen zu kritisieren und Harmonisierungen zu fordern, glaube ich, daß eben gerade hier eine unzulässige Harmonisierung vorliegt: das einander Ausschließende oder Bedrohende wird getrennt und die beiden Teile können ungestört weiter gedeihen. Ein nicht verdinglichter Umgang mit Style könnte dagegen gerade darüber informieren, dass Style nicht das Problem der Stellvertreterpolitik löst, sondern den Widerspruch zwischen individuellem Interesse und Politik (also zwischen unmittelbarer Verwirklichung und der davon abzuleitenden politischen Forderung) zum (dynamischen) Gegenstand haben kann, wie diverse marginalisierte Kulturen zeigen.

II. De- und Repolitisierung: Stellvertretung, Strategie und Delegation

1. Existenzialismus versus Solidarität

Viele haben sich Ende der 70er von konventioneller, also parteibezogener und organisierter Politik abgewandt, weil deren Gegenstände und Subjektpositionen im buchstäblichen Sinne in weite Ferne gerückt waren. Scheinbar willkürlich wurde zur Solidarität mit den verschiedensten Imperialismus-Opfern aufgerufen, schon das lmperialismus-Bild eines Bomben scheißenden Uncle Sam mit Zylinderhut kam einem immer weltfremder vor. Ich schrieb 1981 in einer Kritik von, glaube ich, einer Clash-Platte, daß die Clash die Widersprüche nur noch da betrachten, wo sie einfach sind, und die eigene Lage dahin projizieren. Dabei hatten doch The Clash mit „Safe European Home" schon 1979 eine der ersten und besten AnaIysen der „Festung Europa“ avant la lettre geliefert. Statt in anderer Leute Widersprüche wollten wir wieder in unserer spezifischen, als gebrochen und nicht-authentisch empfundenen Lage Authentizität gewinnen. Denn eines läßt sich der Bohemien, insbesondere als der junge Mann, in keinem Falle wegnehmen: seinen Existenzialismus, seine Authentizität (auch wenn er diese Begriffe und ihre Probleme schon damals hundertmal durchschaut hat). Da gab es eine Parallele zwischen autonomer und Hausbesetzer-Politik und hedonistischer Kultur-Linke (also den beiden zeitweilig so weit voneinander entfernten Gruppen, die jetzt, wenn es nach den Wohlfahrtsausschüssen geht, wieder zusammenkommen wollen/sollen). Was in der Hausbesetzer-Bewegung das eigene „selbstbestimmte“ Leben jenseits und gegen Staat und Konsumgesellschaft sein sollte, war in der Boheme-Linken der Selbstversuch, in der Postmoderne auszunutzen und auszukosten, was an Selbstverwirklichungs-, -verfeinerungs- und Differenzierungsmethoden im Angebot war. Das Zauberwort hieß „strategisch“ – alles, was man tat, konnte man dadurch rechtfertigen, daß es im Hinblick auf einen Erkenntnisgewinn, eine Umcodierung, eine semantische Erschütterung, eine Dekonstruktion hin erfolgreich sein könnte, die die symbolische Seite der Verhältnisse als notwendigen ersten Schritt erschüttern würde. Den Begriff der Strategie hatte man von der eigenen links-organisierten Vergangenheit mitgebracht. Von dieser blieb bei der autonomen oder undogmatischen Linken die „politische“ Dimension der Selbstbestimmung, das Selbstbild als Kämpfende, das auch dann blieb, als aufschiebende Begriffe wie Anti-Imperialismus im Laufe der 80er aufgelöst wurden. In beiden Fällen schlich sich aber der Aufschub, das Nicht-Unmittelbare des Handelns, die Distanz in einen als existentiell und primär empfundenen „poetischen“ wie „politischen“ Lebensstil wieder ein, wenn es nicht schon vorher dessen Möglichkeitsbedingung war: Sowohl da, wo der Anti-Imperialismus (wo man quasi als Stellvertreter der Ausgebeuteten der dritten Welt selbstbestimmt leben wollte) überlebte, wie auch in der Letztbegründung anderer und avancierterer Aktivismen, wo gegen den Theorismus der 68er ein abstrakter Gerechtigkeitssinn oder eine nicht näher geklärte „Moral“ und die daraus problemlos ableitbare „Empörung“ den Horizont bildeten; aber eben auch im „strategischen Kampf" um Symbole und Bedeutungen (den eine Theorie absichern sollte, die mehr oder minder klar sagte, daß die eigentliche Wirklichkeit die Hyperrealität der Mediensimulation sei) trat eine Mittelbarkeit an die Stelle nicht nur der für sich selbst beanspruchten Unmittelbarkeit, sondern auch an die Stelle der Unmittelbarkeit des klassischen Solidaritätsgedankens, der ein Handeln mit, nicht anstelle anderer meinte. Im Spannungsfeld des unmittelbar existentialistisch legitimierten Hedonismus/selbstbestimmten Lebens/Kämpfens und der Strategie/Stellvertretung/Moral suchte das Selberdenken, das Theorielesen nach Antwort.

T-Shirt des Wiener Clubs „Loop“

2. Politisiere dein Symptom wie dich selbst

Es kam nicht auf die einzig richtige Antwort an: daß nämlich Authentizität und Unmittelbarkeit dessen, was ich tue, immer mit tendenziell ewigem Aufschub der Forderungen erkauft sind, die sich aus der Legitimation meiner Praxis ableiten, allgemeingültig oder politisch zu sein. Der linke Hedonist vermeidet den Aufschub z.B. des abstrakten Anti-Imperialismus, indem er jetzt die naheliegenden und tendenziell neuen Aspekte seiner unmittelbaren Wirklichkeit ausprobiert, aber er rückt die allgemeine Legitimation, die daraus folgt (alle sollten dies testen, erkennen und unterwandern, verbessern können), durch seine individuelle, unmittelbare Realisierung für sich in weite Ferne. Der praktisch selbstbestimmt lebende, politische Aktivist vermeidet die aufschiebenden strategischen Kompromisse des Hedonisten, schiebt aber die Möglichkeit einer allgemeinen Realisierung seines unmittelbaren Kampfes durch radikal-moralische Unvereinbarkeitsforderungen in weite Ferne. Jeder Radikalität ist eben ein Solipsismus oder Kompromiß/Selbstwiderspruch als blinder Fleck eingeschrieben. Es kann nicht darum gehen, dessen Abschaffung zu verlangen, das würde die Möglichkeit von Radikalität, den notwendigen Anspruch auf die radikale Würde als Selbstbild, abschaffen. Aber dieser blinde Fleck kann Bestandteil der Strategie werden: Um statt irgendwelche, von Ökonomie, Zeitläufen und Psychologie auferlegte Kompromisse/Solipsismen zu übernehmen, diese politischen Kompromisse oder Solipsismen anzukoppeln an Vorgänge, wo sie politisch werden. Anders gesagt: Es kommt nicht darauf an, das Symptom der Radikalität (skonstruktion) zu heilen, den jungen Mann oder die junge Kämpferin auf die Unmöglichkeit von Authentizität und Unmittelbarkeit oder Selbstbestimmung hinzuweisen, sondern es kommt darauf an, das Symptom zu politisieren. Das SPK nannte das mal, aus der Krankheit eine Waffe machen; nur daß man nicht von dramatischen psychischen Krankheiten ausgehen kann, sondern von alltäglichen Kompromissen und Lebenslügen.

3. Delegation

Die bohemistische Fraktion dachte sich keineswegs als unpolitisch. Man hatte weder seinen linksradikalen Denkstil noch dessen Begrifflichkeit abgelegt (allenfalls um der „französischen Theorie“ entlehnte Termini erweitert) noch die Option auf die bessere Moral (als die Macht), nur im Leben und Handeln verschoben sich die Koordinaten. Die Überzeugung, die entscheidenden Kämpfe spielten sich auf der symbolischen Ebene ab (meist durch eine selbstgestrickte Medientheorie untermauert), ermöglichte es, sich aus der „Drecksarbeit“ alltäglicher politischer Arbeit zu entfernen, die man zwar nicht unbedingt ablehnte, für die man aber in den benachbarten „scenes“ der Hausbesetzer und Autonomen die besser qualifizierten Leute sah. Gut arbeitsteilig wies man den Streetfightern – einerseits leicht belächelt wegen Überkorrektheit (Stillosigkeit), andererseits als Experten der Auseinandersetzung mit der Staatsmacht respektiert - eine Rolle zu, für die man sich selbst als überqualifiziert (im intellektuell-symbolischen Kampf bin ich wichtiger) oder unterqualifiziert ansah (kann mich nicht prügeln). [5] Den „Style“ der Autonomen konnten die Hedonisten so wenig wahrnehmen wie jene deren Politik. Diese Delegierungen und Arbeitsteilungen spiegeln natürlich die Fragmentierungen und Spezialisierungen, die durch die zweischneidigen Chancen einer Indie- und Kunst-Konjunktur das Leben der Poeten und Bohemiens der 80er bestimmt haben. Dabei sind sie aber nicht Ergebnisse verlorener und weggekaufter Authentizität, sondern gerade das Ergebnis des Existenzialismus und Authentizismus. Nicht weil man sich an die Kulturindustrie verkauft hatte, hatte man sich deren kapitalistische Logik der Vereinzelung und Spezialisierung aufzwingen lassen, sondern weil man trotz Kooperation sich Authentizität erhalten und letztlich auch genau diese als Produkt verkaufen wollte. Vergleichbares läßt sich vielleicht für einen Teil der autonomen Politik sagen: Gerade weil man sich von Stellvertreterpolitik trennen wollte, mußte der Horizont eines Anti-Imperialismus entstehen (oder einer abstrakten Moral), der nicht mehr untersuchen und nachprüfen konnte/wollte, was ihm als Letztbegründung eingeschrieben war: einerseits wie in der wirklichen Welt sich Imperialismus völlig veränderte und wie wenig die alten lmperialismus-Erklärungen noch verfingen; andererseits wie Moral immer tendenziell terroristisch wird.

Die Beispiele zeigen, wie das Radikalitäts-Symptom entsteht, in einer doppelten Bewegung aus Wegschieben, Aufschieben und Heranziehen, Verwirklichen. So waren die klassischen Vorwürfe, die sich „politische“ und „künstlerische“ Linke im Laufe der 80er gegenseitig machten (erst: "Konsumismus“ versus „Weltfremdheit"; später „Ihr labert ja nur“ versus „Theoriefeindlichkeit“) immer richtig und falsch: sie isolierten jeweils den aufschiebenden Aspekt und übersahen den „existentziellen" Aspekt der jeweiligen Radikalitätskonstruktion: ja, wir labern nur, aber dieses Labern ist kein Nurlabern, weil es in einer Theoriepraxis eingebunden ist; ja, wir sind theoriefeindlich, weil das eine besondere Qualität, Schnelligkeit, Eleganz von Aktionen ermöglicht, deren Erfahrungen wieder eine Theorie ergeben.

4. Re-Politisierung

Im Übergang vom Poeten zum Selberdenker wird dieser Ende der 80er wieder tendenziell universalistisch, Seine neue politische Perspektive versöhnt sich mit seiner alten existenzialistischen über das Medium des illegitimen Wissens, das ich Theorie genannt habe. Die praktische Dimension - so will es etwa das meist unausgesprochene Selbstverständnis der „Wohlfahrtsausschüsse“ - entsteht aus den oft voller Zerknirschung vorgebrachten Vorschlägen zu einer Zusammenarbeit mit Autonomen-Gruppen, die der ex-negativo-Bestimmung, man sei gemeinsam bedroht, geschuldet ist: bedroht vom gesamtgesellschaftlichen Rechtsruck, von der Straße bis zur „Spiegel“- Redaktion. Der Feststellung, als Bohemien gemeinsam mit Linken, Nichtdeutschen und Menschen dunkler Hautfarbe bedroht zu sein, geht die Universalisierung des Selberdenkens voraus. Die hat mit seiner ökonomischen Lage ebenso viel zu tun wie mit den Inhalten seiner u.a. durch amerikanische Lesefrüchte (feministische, dekonstruktivistische, antirassistische Theorien, die oft auf denselben „Franzosen“ und Marxisten aufbauen wie die Theorien des Selberdenkers, aber auf praktische Politik zielen) modifizierten „Theorie“. Die Gefahr besteht darin, daß wieder ein großer Sinn die Widersprüche vorschnell versöhnt: daß man sich gegenseitig seine Mängel auffüllt und nicht versucht, die notwendigen Mängel zu nutzen. Denn es liegen diverse, meist schnell in Kultur und Stimmungen transformierte Wandlungen vor der jetzt diskutierten Wandlung zum politisierten Bohemien. Rekonstruieren ließen sich diese Wandlungen, Verarbeitungen und ihre Logik eigentlich nur, wenn man Songs und künstlerische Arbeiten, aber auch Spuren typischen 80er Poeten-Denkens in Massenpresse und Massenmedien bis hin zur Werbung (Benetton) untersuchen würde. Der Begriff Politisierung droht, Mikro-Entwicklungen zu totalisieren und am Schluß die gleiche leere Unzufriedenheit zu hinterlassen, die andere Totalisierungen Biographien gewaltsam zugefügt haben. So ist zum Beispiel interessant, daß Bohemiens in dem Moment wieder in besetzte Häuser gingen, wo in diesen eine neue. bessere Musik angeboten wurde (Hardcore, so ab 1985) und sich Autonome wieder für Popzeitschriften interessieren: seit die nämlich wieder was zu einer Musik zu sagen haben, zu denen seit circa 1989 auch Autonome tanzen, und die ganz offensichtlich nicht ohne weiteres in das Weltbild zu integrieren ist (Hip-Hop). Es soll jedenfalls nicht dabei bleiben, die veränderte ökonomische Lage des Bohemiens reduktionistisch als Ursache seines veränderten Bewußtseins auszumachen, sondern die enge Wechselwirkung zwischen existenzialistischem Selbstbild, Funktion für die Stimmung im Over- und Underground der Städte, Theorie und deren Inhalt zu beschreiben. Ich kann mich jetzt nicht in solche Einzelanalysen der molekularen Entwicklung der Boheme begeben, versuche aber im Teil III die mehr oder weniger unverbunden übriggebliebenen Bausteine des 80er Bewußtseins einzeln anzuschauen und neue Verknüpfungen vorzuschlagen, die das Radikalitätssymptom und seine neuen universalisierenden Selbsttherapien stabil politisieren könnten.

III. IST FOUCAULT EIN BASEBALLSCHLÄGER, HABERMAS EINE REFORM UND WIE SOLLTE ENZENSBERGER IM VOLKSGEFÄNGNIS BEHANDELT WERDEN?

1. Denken ist auch eine Technologie der Macht

Der Selberdenker legitimiert seine antiakademische, antikanonische und eklektizistische Theorie durch einerseits die Ablehnung der repräsentativen, institutionellen Akademie mit seinem existentialistischen Poeten-Lifestyle, zum anderen durch die Modifikation von dessen lndividualismus im Zuge seiner Re-Universalisierung und Re-Politisierung: ein bißchen institutionelles, nicht-existentialistisches Wissen ist schon ganz gut. Es muß allerdings poetische Qualitäten enthalten. Die bekam es durch Kontexte (Merve-Verlag), existentiellen Duktus (Theweleit) oder durch Exotik (Import-Verhältnisse). Ich habe an anderer Stelle gesagt, daß ich diese Vorgehensweise nicht nur ablehne, aber sie hat natürlich einen blinden Fleck. Sie wähnt sich bei ihrer Zusammenstellung ihres intellektuellen Menus am Salatbuffet, wo jeder für 9.- soviel und so viel Verschiedenes auf den „Maredo“-Teller häufen darf, wie er will. Sie hat kein Bewusstsein vom Vorgeprägten und historisch Gewordenen ihres Materials, das ja immer noch in und rund um die Akademie entsteht. Sie weiß nicht, daß Denken, auch wenn es sich zum Material für Existentialisierungen und Poetisierungen eignet, an den Akademien institutionell und industriell produziert und zugerichtet wird. Auch Theorien werden angepflanzt und geerntet und mit Pestiziden behandelt. Die aus dem Auge verlorene Akademie muß da angegriffen werden, wo sie zur Zeit so ungestört von (gegenkultureller) Öffentlichkeit die Technologien des Denkens ausbrüten darf. In der Zusammenarbeit und dem Angriff auf die Akademie kann das Symptom der Radikalität genutzt werden. Hier ist ein Widerspruch, der sich lohnt: Nicht nur, weil er vergessen worden ist und aus dem Blickfeld verschwunden, sondern auch, weil die Errungenschaften des Selberdenkens nur überleben, wenn sie sich weiter überfordern. Heute, wo die Ausbildungszeiten nochmals gekürzt werden sollen, darf außerdem die Forderung nach dem „guten Aufschub“ (Dauerstudium) sich nicht mehr mit dem zum „schlechten Aufschub“ gewordenen, immer noch zugestandenen Kneipenelend zufriedengeben (auch wenn wir die Geschwindigkeit unserer Kneipenreden den Umständlichkeiten in der Akademie immer noch vorziehen).

2. Style als Waffe

Seit den 80er Jahren wird Style und Habitus als Strategie nicht nur praktiziert, sondern auch theoretisiert. Das fällt mit dem Datum zusammen, an dem linke, männliche, heterosexuelle Selberdenker den Style als Waffe entdeckten. Diejenigen, bei denen sie den Style entdeckten, hauptsächlich Frauen, Schwule und Afroamerikaner, kamen in dieser Diskussion kaum noch vor. Die Waffe Style, wie sie der Film „Paris ls Burning“ etwa zeigt, wurde - wie die Theorie - von ihrer Produktion abgetrennt und ganz in die symbolischen Feldschlachten des kleinen Kunst- und Pop-Universums von urbanen Jungs übertragen, die nur die Verwendungsweise von Style vor diesem Horizont als Problem denken konnten. Das wurde noch dadurch gefüttert, daß nur in einem solchen Kontext das Spiel mit Identitäten neu war und sich daher auch auf das routinierte Novitäten-Echo der Medien verlassen konnte. Der Style von Frauen und Schwulen, aber auch der vielleicht unreflektierte Style des Proletariers, des Kraftsportlers, selbst die traditionellen männlichen Styles des Dandys etc. wurden als „natürliche“ oder „spontane“ Styles von der Debatte ausgeschlossen, und damit auch von der Wahrnehmung. Und da in der heutigen Lage für viele Jungs ihr Style und Habitus auch so etwas wie eine Entlastung wird, rutscht ihre Anwendung von Style in eine große Nähe zu den „spontanen Styles": stumm erinnert Styling und Geschmack an die Geschichte der 80er, ohne sie zu problematisieren, und erlaubt den Re-Politisierten, sich auf der inhaltlichen Ebene ganz ganzheitlich als „neue neue Linke“ zu fühlen. Auf Kongressen und Touren des Wohlfahrtsausschusses wird dann den Musikern die Rolle zugewiesen, für die Unterscheidung von alten, antihedonistischen Linken der 70er zu sorgen. Die Diskurse dürfen dann frei bleiben von jeder zweiten Ebene und Problematisierung der Form. Der Versuch, über Style Befindlichkeiten und Existenzielles zu retten, verkommt dann auf der diskursiven Ebene zur Erlaubnis, alle anderen Zeichen von „Befindlichkeiten“ zu denunzieren. Probleme des Symbolischen werden an den gemütlichen Teil delegiert. Die Abwesenheit von Frauen, Schwulen und Afroamerikanern, aber auch der Musiker auf den Podien verstärkt diese Situation, die man aus den Kneipen aber schon kennt. Die im Prinzip korrekte Ethik des Für-immer-Ferien, Verantwortung-Nein!, Bitte-noch-ein-Getränk rächt sich in dem Moment, wo man mit denen zusammenarbeiten soll/will, denen man, während man Chancen ergriffen hat, die ganze Zeit das Rohmaterial geklaut hat und die sich Verantwortungslosigkeit - z.B. buchstäblich finanziell - nicht leisten konnten. Reden sollten über Style jetzt z.B. die Frauen, die sich den Style als heterosexuellen Jungsbegriff zurückerobern, indem sie für sich einen Style entwickeln, der diese Geschichte einbezieht: sich als Frau anziehen/frisieren, wie sich Jungs angezogen haben, die das Sich-Anziehen/Frisieren den Frauen abgeguckt haben. Das wird auch gerade dadurch wichtig, daß Style - im Gegensatz zu den 80ern - heute wirklich immer weniger eine Investition ist und immer mehr zu einer Waffe [6] wird. Dazu ist Style, bevor er thematisiert oder hypostasiert wird und also mißbraucht, um die Widersprüche und blinden Flecke auszulagern, genau der sichtbare Ort des Symptoms der Radikaliät: dasjenige, das an der Akademie die Unvereinbarkeiten und Überforderungen produzieren könnte.

3. Moral und Verbot

Unter Hinweis auf die Gesetze des Hegemonialdiskurses werden Veranstaltungen mit Rechten blockiert. Freie Rede höre eben da auf, wo nicht das, was, sondern die symbolisch bedeutsame Tatsache, wer rede, entscheidend sei. Wo für Rechte ein Triumph im Kampf um kulturelle Hegemonie schon erreicht ist, wenn sie in einem bestimmten Kontext reden dürfen und sich dadurch als legitimer Bestandteil des demokratischen Spektrums inszenieren. Die relative Einigkeit über diesen Tatbestand bei den Wohlfahrtsausschüssen hat den Nebeneffekt, daß sich auch relativ ungestört der alte linke Gestus, sich als Besitzer der Wahrheit zu präsentieren, zurückkehren konnte. Was als gegenseitige Durchdringung von Poesie und Politik, individueller Erfahrung und neuen Universalitäten, neuen Subjektpositionen und neuen Solidaritäten beginnen könnte, befindet sich ständig in der Gefahr, von einem strukturell immer tendenziell mächtigeren reinen Universalismus auf eine Seite gekippt zu werden. Die Zustimmung zum Verbieten (auch wenn klar ist, daß man nicht von der Position der Macht aus verbietet und dieses Verbieten im Sinne von Blockieren erstmal legitim scheint) ist für die Binnenverhältnisse in den Wohlfahrtsausschüssen möglicherweise sehr prekär. Es ist zu wenig klar, wie viel von der grundsätzlichen, latenten Bereitschaft, klare Verhältnisse zu schaffen, auszugrenzen und festzuschreiben, bei den 90er-Jahre-Persönlichkeiten überlebt hat. Wenn man nicht sehr bald die alte Spaltung in Künstler/Spinner versus Polittypen/Wahrheitsbesitzer wiederhaben will, muß die Frage der Binnenwirkung von Entschiedenheitsdemonstrationen diskutiert werden. Es ist so geil, entschieden aufzutreten (und auch - strategisch - berechtigt), aber immer auch der Anfang vom Ende der Selbstreflexivität. Und dessen, was an Mehrdeutigkeiten und offensiv vertretenen Unsicherheiten gerade erst politisch zu werden begann. Die Erinnerung daran, wie sinnstiftend und berauschend mit Schmackes hervorgeschleuderte Empörtheiten sich von innen anfühlen, kommt mir im Rückblick auf die WA-Touren und -Kongresse heute unangenehmer vor als der von allen als unverständlich kritisierte Podiums-Beitrag auf der Hamburger Veranstaltung. Die leeren, pathologischen Entschiedenheitsdemonstrationen altlinker Persönlichkeiten auf dem „Konkret“- Kongreß waren traurige Warnungen. Stuart Hall: “In jedem von uns steckt ein Stück eines dogmatischen Linken, das vor unser Bewußtsein Grenzposten stellt, bestimmte wesentliche, aber unbequeme Tatsachen aus unserem Gedächtnis streicht, bestimmte Fragen für indiskutabel erklärt, keinerlei Seitensprünge erlaubt und dazu beitragt, bestimmte automatische und unhinterfragte Reflexe beizubehalten.“ [7]

4. Universität und Organisation

Das berechtigte Mißtrauen gegen akademische und parteipolitische Organisationsformen hat auch dazu geführt, daß die Boheme-Linke einen Anschluß verpaßt hat, der sich nicht nur stolz als Weigerung, „denen ihr Spiel zu spielen“ oder sich Probleme der Macht aufzwingen zu lassen, auf der Habenseite verbuchen läßt. Die völlige Abwesenheit von Kontakten zur Mehrheit der Bevölkerung und ihren Organisationen (und auch ihrer Kultur), die Arroganz, die sich in der ausschließlichen Beschäftigung mit symbolischen und sekundären Erscheinungsformen auch ausdrückt, wird da gefährlich, wo sie habituell wird (ein Style, der nichts von sich weiß). Diese Abwendung geschah in mehreren Schritten: Der erste war zweifellos schon im Theorismus der 68er angelegt (der sich auch sprachlich gegen die damals neu zur Uni drängenden Schichten richtete), der zweite war die Abwendung auch noch von der Uni. Zwar waren beide Reaktionen nach außen, aber nicht für die Beteiligten in ihrer Dimension als Schachzüge in Konkurrenzkämpfen verständlich. So konnte auch nicht klar werden, daß die anschließenden Strategien (Öffnung für Markt) genauso ein Kompromiß mit der Macht waren wie der sogenannte Marsch durch die Institutionen, diesmal mit dem warenförmigen Gesicht. War der große Kompromiß (Widerspruch, Symptom) der 80er der, der sagte: Wir bleiben radikal. aber wir arbeiten auch mit dem Markt zusammen, sonst werden wir weltfremd (oder auch: Es ist viel radikaler, mit dem Markt zusammenzuarbeiten), dann muß der jetzt geforderte heißen: Wir versuchen radikale Formen zu entwickeln oder zu erhalten, aber müssen ein anderes Verhältnis zu Institutionen gewinnen. Einen solchen Kompromiß machte in der Praxis jeder Poet, in der Regel mit dem Markt oder eben als Aufschub in einem der beiden Sinne. Es kommt aber darauf an, diese Kompromisse (Symptome) zu erkennen, zu benennen und nicht unter Zwang da einzugehen, wo es sinnvoll ist. Die Subjektivität des aufgeschobenen Lebens muß Bündnisse eingehen/Konfrontationen suchen, die ihr ihre objektive Seite zu erklären beginnen (nicht denunzieren). Und was man in den 80ern mit Werbeagenturen und Plattenfirmen machte, kann man genausogut mit Universitäten veranstalten. Daß dabei jenseits eines stichlinghaften Suchens nach dem jeweils etwas wärmeren Wasser (günstigeren Milieu) eine politische Perspektive entsteht, gründet sich freilich nur in der Hoffnung, daß das nietzschemäßige oder quasianthropologische Auftauchen von immer gleichen oder ähnlichen Widerstandsformen auch eine andere historische Seite hat, die verhindert, denselben Fehler zweimal zu machen. Die fröhlich-selbstreflexive Selbstaufklärung über Bedingtheiten und „böse“ (konkurrenzkämpfende) Seiten „guter“ (politischer) Absichten produziert oft jenen „zynischen Untertan" (Žižek), der alles weiß und gerade darum nichts tun kann.

5. Linksradikalismus, Politikfähigkeit, Mainstream

Ich will also weder sozialdemokratischen Positionen noch einem Basis-Überbau-Reduktionismus das Wort reden, noch mich einer Elitismus-Kritik beugen, die ja bezeichnenderweise auch zu Zeiten der Studentenbewegung immer von der rechten Sozialdemokratie kam (Helmut Schmidt), sondern vorschlagen, den ohnehin Kompromisse eingehenden Anteil an Lebensentwürfen besser zu organisieren. Das kann nur geschehen, wenn die linksradikale Seite der Szenepolitik sich zunächst stärkt, nur dann sind solche Kompromisse (ohne irgendwelche entristischen Illusionen) sinnvoll. Der Politikfähigkeit muß immer eine spezifische Politikunfähigkeit gegenüberstehen. Ein Beispiel für solche Kompromisse ist die Forderung nach Quotierungen: Linksradikale Kritik daran sagt immer, wie kann man dafür kämpfen, daß jemand bei einer eh unbefriedigenden Sache teilnehmen darf. Aber nur wenn das Privileg der Erfahrung der Unbefriedigung durch Gratifikation verbreitet ist, entstehen neue politische Subjektpositionen. Wenn eine Summe der 80er ist, daß ein richtiges Leben im falschen möglich ist, dann kommt es jetzt darauf an, im spezifisch politisch wichtigen falschen richtig (radikal) zu leben.

6. Enzensberger entführen

Daß auf der Ebene der Symbole gekämpft wird und eine Aufnahme des Kampfes mit diskursanalytischen Mitteln dringend notwendig ist, darf über ein Eintreten für ein neues Erheben von Primärdaten nicht vergessen werden. Nur so kann man einer breiteren Szene erklären, warum man Enzensberger nicht widersprechen will, sondern ihn im Volksgefängnis für seine Korruption bestraft. Für seine Freilassung verlangen wir, daß er bei „Gaudimax“ auftreten muß und Botho Strauß bei „Ruckzuck“. Da zeigt sich der wahre Dichter.

Anmerkungen

[1]Vorabdruck aus dem im November erscheinenden Buch: Etwas besseres als die Nation. Texte und Materialien zur Abwehr des gegenrevolutionären Übels. Herausgegeben von den Wohlfahrtssansschüssen Köln. Frankfurt/M, Hamburg. Edition ID- Archiv, ca. 180 Seiten, ca. 20.- DM
[2]Das, was ich 77/78 erlebte, haben andere früher oder später erlebt. In Hamburg konnte man auch 1972 schon Hippies hassen, nihilistischer Punker werden und Stooges hören. Eine zehn Jahre jüngere Studentin gab mir dieses Jahr in Los Angeles einen Text von sich zu lesen, wo sie denselben Vorgang - Umschlag von Hippie- zu Punk- Werten - in der kalifornischen Provinz im Jahre 83 beschreibt.
[3]Von Poesie/Poet rede ich hier, um einen alten idealistischen deutschen Gegensatz aufrechtzuerhalten und mit ihm zu spielen, den zwischen Poesie und Politik. Ich könnte auch von Künstlertypen reden, was mir aber die Spezies, die ich meine, zu sehr einengt. Es geht um Leute, deren Legitimation ihre lndividualität, Originalität und Anthentizität ist. Nicht mehr diskutierbare, im Habitus zum Ausdruck gebrachte Erfahrungen. Mit Partei meine ich all jene Zusammenschlüsse, bei denen man sich diskursiv durchsetzen mußte (auch wenn in Wirklichkeit andere Regeln entscheidend waren).
[4]Eine andere Unmittelbarkeit beschreibt die Agentur Bilwet für die Anfange der Besetzerbewegung in Amsterdam: Anders als bei den Szenen des deutschen urbanen Widerstands, die ich kennengelernt habe, sollen die Amsterdamer nahezu alle externen Zuschreibungen, Strategien und Sinnstiftungen abgelegt haben; nicht nur „Theorie" und „Ziel", sondern auch Erkennbarkeit, Style, Moral. Die Tatsache, daß aus denselben Kreisen ausgesprochen durchdachte und effiziente Aktionen wie die „Nolympica“-Kampagne hervorgegangensind, spricht allerdings dafür, daß die „Bewegungslehre" von Bilwet vor allem auf einen Aspekt der Bewegung abhebt und andere voraussetzt. Wenn man eingedenk dieser Lektüre aber Bewegung selbst, so wie Bilwet diesen Begriff fast metaphysisch faßt, mit dem analogisiert, was ich das „Radikale Symptom“ nenne, ist es vielleicht möglich, diese beiden Modelle aufeinander abzubilden und von den ohnehin nur unsauber beschreibbaren historisch konkreten Bewegungen auf ein allgemeineres Modell von Radikalität zu kommen (das freilich Radikalität nicht anthropologisieren darf, wie zur Zeit in Mode ist, wenn etwa Katharina Rutschky „Stagediving” in ihren irren Begriff von „Jugendirresein“ einschmilzt). Vgl. Agentur Bilwet, „Bewegungslehre“, Berlin/Amsterdam, 1991.
[5]Während ich dies schreibe, höre ich mit großem Genuß eine CD von Dr. Dre, auf der gerade der Kehrreim gesungen wird „Who's the man with the masterplan? A nigger with a gun". Radikalitätsgenuß ohne Folgen. Eskapismus deluxe und auf der anderen Seite doch wieder eines dieser Urerlebnisse, aus dem Solidaritätsmoleküle entstehen: Ich kann mich nur solidarisieren mit dem, dessen Sätze ich gut finden kann.
[6]Freilich eine problematische Unterscheidung, weil in den 80ern „Investition" schlechthin eine Waffe war: gegen die Schutzräume vor dem Markt, die einem eine Realisierungsmöglichkeit, auch im Sinne von „schlechtem Aufschub“ inmitten des „guten", vorzuenthalten schien. Man lese diese Unterscheidung also neutral als Verschärfung, von Investition zur Waffe; als Homologie zu der nie ganz trennscharf wahrnehmbaren Verschärfung von erkämpftem überzugestandenem bis erzwungenem regellosen Leben in der Bohème.
[7]„Neuorientierung der Linken“ in Hall, „Ausgewählte Schriften“ (herausgegeben von Nora Räthzel), Hamburg/Berlin 1989, S. 207ff.