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Diedrich Diederichsen

Genesis Breyer P-Orridge (1950–2020)

Genesis Breyer P-Orridge, 2016

Genesis Breyer P-Orridge, 2016

Am 8. November 1980 sitze ich das erste und einzige Mal Genesis P-Orridge ca. zwei Stunden lang gegenüber. Wir befinden uns an einem großen Tisch in einem hellen Zimmer in Charlottenburg, das zu der Wohnung von Frieder Butzmann gehört. Der Klangkünstler und Produzent hatte gemeinsam mit Burkhardt Seiler, dem sogenannten Zensor, die erste und (bis zur Reunion knapp 30 Jahre später) einzige Deutschlandtour von Throbbing Gristle organisiert (zweimal SO 36, einmal Frankfurt). Für mich war Genesis damals die elaborierteste, unerschrockenste einer Reihe von seinerzeit neuartigen Figuren, nur unwesentlich älter als ich, die mit Punk und dem dazugehörigen cultural shift an die Oberfläche gespült worden waren. Erschüttert hatte ich die Worte gehört (und als Text nachgelesen), mit denen zu abweisender, schroffer Synthesizermusik minutiös die Details sadistischer Morde (Slug Bait) oder der unerträglichen Schmerzen einer schwer Brandverletzten (Hamburger Lady) von einer provokant unbeteiligten Stimme vorgetragen bis verlautbart wurden. Das war Genesis. Musik und Präsentation waren absolut neu (ein schmuckloses Cover mit gestempelten Infos, ein klar suggestives Foto von einem jungen Mädchen), und die Ablehnungsfront, die Throbbing Gristle im NME entgegenschlug, jener Musikzeitschrift, an deren Lippen wir normalerweise hingen, machte es noch spannender. Die Band hatte sich mit Geschmacklosigkeiten so ins Zeug gelegt (Zyklon B Zombies), dass eine Generation von Schreiber*innen, die gerade noch die Übertretungen von Punk gefeiert hatte, entschlossen auf die Bremse trat.

Die Band hatte sich im Zimmer verteilt: Pete Christopherson, genannt Sleazy, später das Queer-Transgression-Projekt Coil co-dirigierend; Cosey Fanni Tutti, die in ihrer ICA-Ausstellung „Prostitution“ (1976) ihre Erfahrungen als Sexarbeiterin und Porn-Model thematisierte, damals schon als Skandalkünstlerin notorisch (als C.O.U.M. hatte sie mit Genesis ein radikales Performancekollektiv unterhalten, das bis in die mittleren 1970er Jahre überall in Europa – besonders viel beachtet in Kiel und Rottweil – den experimentellen circuit unsicher gemacht hatte); und Chris Carter, der einzige musikalische Profi und Synthi-Tüftler. In ihren Camouflage-Anzügen schwirrten sie durch den Raum, beteiligten sich punktuell am Gespräch, während Genesis mir mit fester, konzentrierter und betont leiser Stimme seinen Subversionsbegriff ins Tonband diktierte. Schon ein Jahr später sollte die Band aufgelöst sein, Chris and Cosey würden ein Synthi-Duo führen und Genesis seine okkultistische Band-als-Jugendsekte Temple Ov Psychick Youth gründen, die er dann ein weiteres Jahrzehnt betreiben würde. Die beiden Konzerte in Berlin, zwischen denen unser Gespräch stattfand, erschienen kurz darauf als Funeral in Berlin auf Zensor-Schallplatten.

Genesis hat viele berühmte und einflussreiche Menschen früh kennengelernt. 1970, bereits als 20-jähriger Veteran einer Underground-begeisterten Swinging-London-Szene (der junge Neil Andrew Megson war als Jugendlicher mehrfach von den provinziellen Wohnorten seiner Eltern nach London gereist), wurde er Mitglied von David Medallas legendärer Transmedial-Explorations-Gruppe/Kommune (auch bekannt als Exploding Galaxy) [1] und traf, noch bevor er per Gerichtsbeschluss seinen Namen in Genesis P-Orridge ändern ließ, 1971 den lebenslang verehrten William S. Burroughs, dem er seine ebenso lange, trotz aller anderen weltanschaulichen Sprünge beibehaltene Idee von einem allgegenwärtigen Kontrollprozess verdankte. [2] Radikale Milieus der bildenden Kunst wie der Musik hatten schon den charismatischen Schüler, Gründer diverser Cage- und Fluxus-beeinflusster Bands und Zeitschriften, und den asthmageplagten Studenten in Hull geprägt. Konfrontative, transgressive Ansätze gewannen aber in den gut fünf Jahren, in denen Genesis und Cosey als C.O.U.M. (oder COUM Transmissions) arbeiteten, immer mehr die Überhand (auch wenn Genesis im gleichen Zeitraum noch so fußgängerische Dinge tat wie einige Ausgaben von Colin Naylors bewährtem Lexikon zeitgenössischer Kunst redaktionell mitzubetreuen). Die entscheidende Botschaft der Theorie vom allgegenwärtigen Kontrollprozess war die, dass dessen wichtigste Waffe im Kampf um die Kontrolle der Information die Angst sei. Wie so viele Performer*innen der 1970er Jahre glaubten auch Genesis, Cosey und ihre Freund*innen, dass das Überwinden von Angst, das Durchführen und Durchsetzen dessen, was man sich eigentlich nicht traut, den Königsweg zur Befreiung wies. Das war ein merkwürdig abgespaltenes Erbe von 68: Die glückhafte Erfahrung, sich nicht einschüchtern zu lassen in Konfrontationen mit der Autorität, wurde immer mehr von den Gründen abgezogen, wegen derer man sich mit der Autorität eingelassen hatte, und verselbstständigte sich. Wurde zum Kick.

Als dann aus C.O.U.M. mit der erklärten Absicht, statt kleiner irrelevanter Kunstbürger die im Punk-Umbruch befindliche Welt der Popmusik zu erschüttern, Throbbing Gristle wird, entsteht so etwas wie eine Virtuosität der Konfrontation, die im Wesentlichen auf zwei Antworten trifft: Man hält diesen Kurs für die wahre Radikalität, die sich an den ausgelutschten Links-/Rechts-Spielchen und der bürokratisierten oder karrieristischen 68er-Kultur nicht mehr beteiligen will, oder man entdeckt hier die hässliche Fresse neofaschistischer Menschenverachtung. Throbbing Gristle taten eine Menge dafür, dass die Entscheidung nicht so leichtfiel. Ich war beeindruckt von Genesis’ Theorie einer „Alien Culture“, einer nicht mehr auf dem zum symbolischen Mummenschanz runtergeschrumpften undialektischen Gegensatz von ‚unangepasster‘ linker oder lebensstilistischer Revolte einerseits und ‚angepasstem‘, rechtskonservativem Spießertum andererseits aufgebauten, neuartigen Vorstellung einer ‚unsichtbaren‘ Subversion im gut sitzenden Anzug. [3] Symbolpolitische Symbolpolitikvermeidung sozusagen.

Da hatte er sicher auch an sein eher mit makelloser Eleganz statt durch wilde Barttracht verunsicherndes Idol Burroughs gedacht, aber Throbbing Gristle und insbesondere das mit der Band verbundene Label Industrial Records ließ sich vom Scheitern solcher Symbolpolitik durch ihre rein symbolischen Erfolge (auf New-Wave-Schallplattencovern etwa) nicht lange irritieren. So entwickelte die Band bald Aktivitäten, die weniger erratisch und bösartig in der Landschaft standen oder gar in schlichtem Widerwart ausarteten, wie die berüchtigte Lärm- und Psychoattacke auf einem dem Labelsitz benachbarten Camp von „tinkers“ und „gypsies“, [4] oder sich darauf zurückzogen, potenziell sympathisierende politische Journalisten anzuherrschen, man gehöre natürlich gar keiner politischen Richtung an. Der Flirt mit hawaiianischer Cocktailfolklore, die Bandfotos in tropical colonial kitsch und ein Album, das sich 20 Jazz Funk Greats (1979) nannte und auch eher kokett bis geschmackvoll minimalistisch-elektronisch zwinkerte, dazu Singles auf Industrial von bejahrten Jazz-Diven und einer gewissen Dorothy, einer Jugendlichen, die zu überdrehtem girly pop von Musique concrète und Beatle Boots schwärmte (ihr voller Name war Dorothy Max Prior, eine Tänzerin, die später Filmfestivals organisierte und ein Total Theater Magazine redigierte) und nicht zuletzt eine enge Freundschaft und Kooperation mit Derek Jarman und seinem Zirkel – all das ließ sich auf ein Wort bringen, das den Folter-, Nazi- und Slasherkram nun überlagerte: Camp. Das wäre eins von mehreren Bündnissen, das die Bündnisverweiger*innen dann doch schlossen.

Und wenn ich hier von den Bündnisverweiger*innen und ihren späteren Bündnissen rede, meine ich weniger die Band, die sich 1981 ja aufgelöst hatte, sondern die nun langsam ins Plural rutschende Person Genesis P-Orridge, die sich seit einigen Jahren als they ansprechen ließ. Schon 1980 schreibe ich allen naiven Ernstes über unsere erste Begegnung, er habe eine weibliche Physiognomie. Nach einem Jahrzehnt mit der Jugendsekte, einer Verlagerung der Konfrontationsstrategie auf ein nunmehr sehr stark genitalgepierctes Wiederaufgreifen einer – halb von Medalla und Mühl, halb von den üblichen Mythen inspirierten – 60er-Orgienkultur mit Idolen wie Aleister Crowley und vor allem Brian Jones, das neben ca. 50 Tonträgerveröffentlichungen mit der süßlichen Neo-Hippie-Musik der Psychic Youth und einer kurzen Karriere als Acid-House-Anstifter Anschuldigungen wegen Sex mit Minderjährigen auch eine Ehe mit Paula P-Orridge und die Geburt zweier Kinder brachte, verlassen sie genervt von der Presse und den letztlich zurückgenommenen Anklagen die britische Insel und siedeln sich in New York an, wo kurze Zeit später das Pandrogynie-Projekt beginnt: Dies ist die langsame Verschmelzung in spiritueller, operativer und jeder anderen Hinsicht mit einer neuen Partnerin, der charismatischen Lady Jaye Breyer zu einem pluralen Sex- und Gendersubjekt, das auch nach Lady Jayes frühem Tod im Jahr 2007 weiterexistierte, mit, wie es heißt, einem leiblich-irdischen und einem überirdischen Anteil.

Genesis waren milder geworden in Amerika – und wenn man so will: politischer. Die Überschreitungen dachten sie nicht mehr konfrontativ, sondern solidarisch. Sie waren jetzt Teil der Bewegung von Transkulturen aller Art und warben politisch für Transrechte. Die Botschaft lautete nicht mehr „Tue, was Du willst!, lautet das ganze Gesetz“, sondern „Es läuft alles auf Liebe hinaus“. Ihre Idole und Bezugspunkte waren nicht mehr Massenmörder und deren Opfer, sondern „die Beatniks“. Und auch der harsche, herrenmenschliche, ultraindividualistisch und satanistisch gefärbte Okkultismus von Crowley wurde ersetzt durch Santería und andere magisch religiöse Praktiken nichtwestlicher Kulturen.

Wenn utopische Gegenkulturen nicht zur Macht finden, weder zu Realpolitik noch zu Ökonomie und Verwertung, dann spalten sich Konfrontations- oder Verschmelzungsfetische ab, Gewalt und Konfrontation oder Liebe, Kommunengründung, orgiastische Inklusion. Wenige haben dieses Spielfeld so fleißig abgeschritten und so gründlich abgegrast wie Genesis Breyer P-Orridge. In den letzten Jahren haben sie ein Projekt entwickelt, das, je mehr es Unmögliches lebensfähig zu machen schien, aus dem bloß Fetischistischen heraustrat – auf dem Wege nicht zuletzt zu einer queerfeministischen Utopie. Zur gleichen Zeit erschienen die Memoiren von Cosey Fanni Tutti, die erhebliche Vorwürfe (sexueller) Gewalt gegen den Genesis der 1970er und 80er Jahre erheben. [5] Ach ja, und der Support Act, der mit Throbbing Gristle an jenen Novembertagen 1980 auf Deutschlandtour ging, war kein anderer als der notorische Rassist Boyd Rice, bekannt u. a. aus der Texte zur Kunst -Ausgabe über „Das Böse“ (12/2019).

Genesis Breyer P-Orridge sind am 14. März 2020 in New York an Leukämie gestorben. In Interviews und öffentlichen Statements hatten sie sich zuvor von ihrem Publikum verabschiedet.

Diedrich Diederichsen

Anmerkungen

[1]Guy Brett, Exploding Galaxies – The Art of David Medalla, London 1995; Simon Ford, Wreckers of Civilisation – The Story of Coum Transmissions and Throbbing Gristle, London 1999, S. 1.12.–1.14.
[2]Vgl. das auf YouTube verfügbare Interview aus ­Tiflis vom 26.10.2016, https://www.youtube.com/watch?v=oLAtm4D1bmg.
[3]Diedrich Diederichsen, „Throbbing Gristle – Der erste und nicht endgültige Bericht“, in: sounds, 1/81, S. 42–45.
[4]Ford, Wreckers of Civilisation, S. 9.18–9.21.
[5]Cosey Fanni Tutti, Art Sex Music, London 2018.