FLUCHTLINIEN, GEADELT Michaela Ott über „Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Philosophie“ von Iris Därmann
Einen Bogen quer durch die europäische Philosophiegeschichte spannt Iris Därmann in ihrer kürzlich erschienenen Studie zur wechselseitigen Hervorbringung von Gewaltgeschichte und politischer Philosophie, wobei sie deren kolonialistische, rassistisch-antisemitische und vernichtungspolitische Signatur insbesondere im englischen und deutschen Sprachraum in den Vordergrund rückt. Politische Philosophie, beginnend mit den Griechen und grundgelegt in mythischen Konstruktionen des Naturzustands, wird hier der unhinterfragten Gleichsetzung des Politischen mit Aktion und Herrschaft bezichtigt und in Nähe zu Carl Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung als uneingestandene Spiegelung von Gewaltakten – in den Kolonien wie in den KZs – gerückt.
Im Gegenzug zu diesem kritisierten Politikverständnis stellt die Studie verschiedene Arten des „Undienlich-Werdens“ in den Vordergrund, also weniger die Negativmomente der Versklavung und Ermordung von als „anders“ stigmatisierten Personen als vielmehr historische Momente des Widerstands, der Flucht und Subversion gewaltförmiger Situationen. Antidefätistisch wird diese „Gewaltgeschichte“ gegengelesen als eine, die just in der Vita passiva Auflehnungspotenzial erkennt und deutlich macht, dass ohne „Transitivität auf den Tod hin das Politische selbst nicht denkbar“ (16) ist. Berichtet wird daher von Arten des Aufbegehrens, des Entzugs und Umhandelns innerhalb der Gewaltgeschichte durch Versklavte und KZ-Häftlinge. Sogar die Nummerntätowierung in Auschwitz wird noch für die Errettung einzelner Menschenleben genutzt. Selbst der Freitod afrikanischer Sklav*innen während der transatlantischen Überfahrt wird nicht nur als minimale Selbstwahl, sondern als „spirituelle Transmigration nach Afrika“ (17) aufgewertet.
Därmann, Philosophin und Kulturwissenschaftlerin, ist eine äußerst akribische Analystin europäischer Grundlagentexte und Bilder sowie darin geronnener Gewalttätigkeit. Sie hat Text-, Bild-, Film- und Musikarchive, Internetquellen, Dokumente und eine ganze Bibliothek für ihre Recherche rezipiert und evaluiert. Die daraus hervorgegangene Publikation ist erhellend aufgebaut: Finden sich doch die Kapitel über kolonialistische Züchtigung und Gegenwehr, also zur „Peitsche“ (104–129), zum „Sich-undienlich-Machen“ (130–156) in den „Gewalträumen“ [1] der Sklaverei und jenes zur „Lynchgewalt“ (182–205), im Zentrum der Schrift. Zur Erläuterung dieser Gewalt- und Abwehrvorgänge werden Theoreme der politischen Philosophie von Thomas Hobbes und John Locke vorangestellt, wird ein Kapitel zu Karl Marx und Friedrich Engels dazwischengeschoben und werden schließlich die Volksgemeinschafts- und Arbeitsontologie der antisemitischen Theorien von Carl Schmitt, Martin Heidegger und Ernst Jünger angefügt. Als einzige Frau wird abschließend Hannah Arendt befragt und ihre Gleichsetzung des Politischen mit der Vita activa der kritisierten Traditionslinie beigesellt. Obwohl sich Arendt für die lebenden Toten der KZs und die Verfahren zur Tötung der juristischen, moralischen und individuellen Person und deren „Vertierung“ (297) interessiere, habe sie, wie beklagt wird, weder die Häftlingsaufstände in den polnischen Ghettos und Vernichtungslagern zur Kenntnis genommen noch zugestanden, dass zum Politischen die pathische Dimension gerade auch im häuslichen Bereich gehöre.
Aufschlussreich an Därmanns Gegenlektüre ist vor allem, dass sie die philosophischen Theorien mit zeitgleichen Gewaltpraktiken relationiert. So wirft die Mitgliedschaft von Hobbes in der Virginia Company ein neues Licht auf seine politische Zoologie, die vor dem Hintergrund des Jamestown-Massakers von 1622 einen permanenten Kriegszustand zwischen Siedler*innen und Indigenen dokumentiert und den Leviathan als rechtsphilosophische Legitimation der englischen Unterwerfung einheimischer Bevölkerung decouvriert.
Auch der englische Philosoph John Locke, der gegen Ende des 17. Jahrhunderts den Begriff des Individuums an Privateigentum bindet und zum Vordenker des Possessive Individualism und der Sklaverei im Interesse eines agrikulturell-kriegerischen Kapitalismus wird, verwaltete Kolonialgeschäfte in Carolina. Als Anteilseigner der Royal African Company bezog er Gewinne aus dem transatlantischen Sklav*innenhandel, obwohl er die Sklaverei einen verächtlichen Zustand nannte. Sein Second Treatise of Civil Government wird denn auch als Gründungsurkunde der Plantagenwirtschaft Sklav*innen haltender Lord Proprietors bezeichnet, welche gleichwohl Praktiken des Sich-undienlich-Machens der Native Americans zur Folge hatte.
Auch Karl Marx und Friedrich Engels werden in ihrer privaten Korrespondenz für rassistische Bemerkungen über „N****“, vor allem aber für ihre systematische Verschiebung der Aufmerksamkeitsökonomie weg von der Sklaverei hin zur Ausbeutung der Arbeiterklasse kritisiert. Die Existenz eines Sklaven auf der Plantage erscheint ihnen ökonomisch gesicherter als die eines Proletariers. Das Ereignis einer Schwarzen Revolution erkannten auch sie nicht an und diskreditierten den „transatlantischen Haitismus“ (170) als minoritäre Bewegung.
Vergleichsweise entbehrlich, weil sattsam bekannt, erscheinen die Ausführungen in den späteren Kapiteln zu Schmitt, Jünger und Heidegger. Sind doch die drei NS-Vordenker darin vereinigt, den Führer-Staat zu akklamieren und einem kriegerischen bis selbstmörderischen Arbeitsmythos zu huldigen, der den „parasitären“ Jüd*innen selbstverständlich unbekannt sei. Ihre Gewaltphilosophie wisse, so die Kritik, von der notwendigen Trauerarbeit nichts.
Vor allem die körperbezogenen Schilderungen machen das Buch zur Pflichtlektüre für all jene, die zu anderen Akzentuierungen der Vorgänge bereit sind: Die europäische Grundlegung des Politischen beschreibt Därmann als von Anfang an begleitet von Foltergeräten zur Ausstattung Sklav*innen haltender Häuser. Von der Sklav*innenpeitsche bis zu Darstellungen von Lynchmorden bilde sich heraus, was sie als vertragliche Erhebung von Grausamkeit zum Gesetz beschreibt. Zu dieser gehöre die Reduktion von Afrikaner*innen auf bloße Körper, über die qua peinlicher Inspektion bis hin zu Tötungsakten verfügt werden dürfe. Der sadistische Gewaltexzess im Kontext der Sklav*innenhaltung und die Pornografie des „Female Flogging“, des weiblichen Auspeitschens, ermöglichten zudem eine faszinierte Teilhabe an der Beschämung und Tortur der Opfer – und setze rund um Lynchmordszenarien populistische Gemeinschaftsorgien frei.
Därmann selbst sucht Distanz zur bloßen Gewaltperspektive zu beziehen, indem sie die Doppelbödigkeit der bildlichen Zurschaustellung und des damit einhergehenden Mitempfindens analysiert und darauf verweist, dass diese Form exzessiver Inhumanität gegenüber Sklavinnen, die die Landschaft in eine Leichenhalle verwandelt, letztlich das System der Sklaverei infrage gestellt habe. Denn die englischen Abolitionisten begründeten ihre Ablehnung der Sklaverei mit den Darstellungen der Frauenauspeitschung. Und doch habe der US-Senat erst 2005 formal um Entschuldigung für das Versäumnis gebeten, bis dahin kein Anti-Lynch-Gesetz verabschiedet zu haben.
Mithilfe gewisser Abolitionismus-Publikationen werden sodann Momente des Undienlich-Werdens im Sklaven*innenhandel und in der Sklaven*innenverschiffung erhellt: Angesichts der Enge der Schiffsräume, der Reduzierung der Versklavten auf Stapelware, von Krankheiten und Qual aller Art werden Praktiken der Selbstentleibung, von Hungerstreik und Rebellion als Akte der Selbstermächtigung gewürdigt, was im Extremfall bedeutete, sich mit den Fingernägeln selbst die Kehle durchzuschneiden. Bis zu 64 Prozent der Sklav*innen sollen bei den Überfahrten umgekommen, aber auch Rebellionen an der Tagesordnung gewesen sein. Unterbelichtete oder verschwiegene Akte der Undienlichkeit zuhauf: Bis zu 600 „revolutions at sea“ seien mittlerweile bekannt. Auch auf den Plantagen habe es jede Menge Sabotage und Streiks in Form von Zerstörungsakten gegeben. Nicht zuletzt erwähnt Därmann Gesang und Tanz als Formen des Protests, der Anklage, wie im Blues und als Medien eines imaginären „Flying back“ nach Afrika.
Ästhetische Symbolisierungen der Widerständigkeit in „Künsten der Undienlichkeit“ entdeckt sie schließlich in der von W. E. B. Du Bois um 1900 kuratierten Ausstellung „Exhibit of American Negros“. Sie nennt sie eine Anti-Lynch-Ausstellung, ein fotografisches Gegen-Archiv in Form fotografischer Unabhängigkeitserklärungen, eine kämpferische Entgegnung auf die zum Kauf angebotenen Knochen eines gelynchten Schwarzen. Im Gegensatz zu den üblichen Abbildungen Schwarzer Erniedrigung werde in Du Bois’ Ausstellung die von ihm geprägte „double consciousness“ affirmativ ins Bild gesetzt: Eine visuelle Selbstreflexion der afroamerikanischen Fotografierten aus den Augen von Schwarzen und weißen Betrachter*innen im Namen bürgerlicher Undienlichkeit. Ausblickshalber werden weitere Anstrengungen von Du Bois, Schwarze Gegen-Kunst in New York zu schaffen, um den Afroamerikaner*innen Würde und Anerkennung zu verleihen, skizziert. In eben diesem Sinn wären Därmanns Analysen in Richtung zeitgenössischer Formen des Undienlich-Werdens und subversiver Selbstermächtigungsakte weiterzuerzählen, sind doch Formen sklavennaher Ausbeutung in der Gegenwart keineswegs vorbei.
Iris Därmann, Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Philosophie, Berlin: Matthes & Seitz, 2020.
Image Credit: Matthes & Seitz Berlin
Anmerkungen
[1] | Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt/M. 1996, S. 178–180. |