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SEHEN UNTER VERKNÜPFUNGSZWANG Susanne von Falkenhausen über „Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne“ im Haus der Kulturen der Welt, Berlin

„Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne – Das Original“, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 2020, Ausstellungsansicht

„Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne – Das Original“, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 2020, Ausstellungsansicht

1924 begann der deutsche Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler Aby Warburg mit der Arbeit an seinem Mnemosyne-Bildatlas, einem an die 2000 Bilder umfassenden Projekt. Sein Ziel war es, den vielfältigen Einfluss der Antike auf die europäische Kultur am Beispiel fotografischer Reproduktionen von Kunstwerken sowie von Zeitungsausschnitten und Werbeanzeigen aus verschiedenen Epochen und kulturellen Kontexten zu veranschaulichen. Durch Warburgs Tod 1929 blieb das Projekt unvollendet. Erstmals präsentiert wurde es vergangenen Herbst in einer Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt, deren konzeptionelle und didaktische Ausrichtung die Kunsthistorikerin Susanne von Falkenhausen kritisch beleuchtet.

Im abgedunkelten Ausstellungsraum des Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW) bilden die 63 jeweils hinter Glas montierten, hängenden Schautafeln des Mnemosyne-Atlas von Aby Warburg mit insgesamt 971 Reproduktionen eine mehrfach unterbrochene Ellipse aus Kreissegmenten, die fast den gesamten Raum umarmt. Damit sind die Inszenierung der Kuratoren der Ausstellung, ­Roberto Ohrt und Axel Heil, und ihre Wirkung jedoch nur unzureichend beschrieben. Entstanden ist eine Art Warburg-Hain, den die Betrachter*innen zögernd und tastend betreten, ein ephemeres Monument für das unvollendete Werk eines Mannes, der vier Jahre vor der Machtübernahme Hitlers starb und dessen wissenschaftlicher Nachlass 1933 ins Londoner Exil ging. Es herrscht andachtsvolle Stille.

1927 beschrieb Warburg sein Projekt so:

„Ich habe den Plan gefaßt, in einem großen Typenatlas meine
Forschungsergebnisse zusammenzufassen, so weit sie sich auf den
Einfluß der Antike auf die europäische Kultur beziehen.“ [1]

Und an anderer Stelle:

„Dabei wäre eine Sprachlehre der Gebärdensprachen im Umriß zu
liefern … Das kultische Erlebnis … als Prägewerk der Ausdruckswelt tragischer Ergriffenheit.“ [2]

Atlas und Verkehrskarte waren Metaphern, mit denen er die methodologische wie die Darstellungsstruktur seines Vorhabens zu umschreiben suchte. Letztlich gelang es nicht, für das Gesamtprojekt eine handhabbare Form zu finden. Und das ist bis heute so geblieben.

Das HKW ist ein eigenartiger Ort für die Ausstellung des Mnemosyne-Bildatlas, der einem fachfremden Publikum kaum bekannt und auch Wissenschaftler*innen nicht leicht zugänglich ist. Das erforderliche Wissen entspringt der Gelehrsamkeit des 19. Jahrhunderts, ist breit gestreut und sehr spezifisch zugleich. Die Bildertafeln geben jenen Zustand wieder, den Warburgs Projekt kurz vor seinem Tod 1929 erreicht hatte. Dieser Zustand ging mit der Übersiedlung nach London 1933 verloren; Ohrt und Heil haben ihn mit Unterstützung der Mitarbeiter*innen des Londoner Warburg Institute aus den Beständen des Instituts rekonstruiert.

Für Warburg waren die Tafeln, die er auch Bilderfahrzeuge [3] nannte, Hilfsmittel – für die Recherche, die Analyse, aber auch für die Volksbildung. Sie waren mobil, leicht zu verändern und zu kombinieren. Und sie waren immer von Kommentaren begleitet, in Form von Vorträgen oder Texten. In der Ausstellung hingegen ist der Kommentar ausgegliedert, in drei Videos auf der Website des HKW, in ein Beiheft, das in seinem etwas herablassenden Sprachduktus die Züge missverstandener Museumspädagogik zeigt, sowie in einen Kommentarband, der im März 2021 erscheinen soll; ein monumentaler Folioband (44 x 60 cm), der für 200 Euro zu erwerben ist, reproduziert die Bildtafeln in einer Größe, die es ermöglicht, einzelne Details nachzuverfolgen.

Die kommentarlose Installation im HKW gab den Bildtafeln nun eine zweifelhafte ästhetische Autonomie, für die sie Warburg gar nicht gedacht hatte, denn sie waren nicht für eine Ausstellung konzipiert, sondern für eine Buchveröffentlichung. Text- und Bildteil sollten zur besseren Handhabung getrennt publiziert werden, um sie für die Recherche flexibel kombinieren zu können. Das Studium der Fotografien war entschieden wichtiger als ihr Punktum. [4]

Aby Warburg, „Bilderatlas Mnemosyne, Tafel 77 (wiederhergestellt)“, 2020

Aby Warburg, „Bilderatlas Mnemosyne, Tafel 77 (wiederhergestellt)“, 2020

Die Installation im HKW förderte keines von beidem. Sie war offensichtlich in erster Linie auf die auratische Wirkung des Gesamtkomplexes ausgerichtet. Diese Aura stellte sich, abgesehen von der räumlichen Anordnung der Tafeln und dem dämmrigen Licht (das wohl auf konservatorische Gründe zurückzuführen ist), durch mehrere Faktoren ein. Da wäre der Verzicht auf Erläuterungen, der aus einem Instrument der Recherche und der didaktischen Veranschaulichung eine Art kultisches Objekt oder eine künstlerische Installation machte, die an die heute beliebten raumgreifenden Mehrkanalvideos denken lässt – das ist offenbar der Schauwert, an dem die Installation sich messen sollte. Hinzu kommt ein gewisser Nostalgie-Effekt, erzeugt von den in Farbe fotografierten Reproduktionen der ursprünglich meist schwarz-weißen Abbildungen von Originalwerken. Was erst einmal absurd wirkt – Schwarz-Weiß-Fotos in Farbe zu reproduzieren –, gibt die unterschiedlich verblichenen Farbwerte der Abbildungen auf den Tafeln wieder und inkorporiert so ihren historischen Anachronismus; zugleich verleiht es der Installation optische Wärme; es könnte aber auch als kritischer Kommentar zur kunsthistorischen Praxis gesehen werden, vergleichendes Sehen mit dem Ziel seiner Objektivierung in Schwarz-Weiß-Doppelprojektionen zu betreiben. Ein großer Teil dieser Fotografien waren Abzüge von Glasnegativen der Firma Fratelli Alinari in Florenz, die seit 1854 Fotokampagnen in Kunstdenkmälern durchführte. Ungerahmt und einzeln betrachtet, haben solche Abzüge einen großen materiellen und visuellen Reiz, in Clustern hinter Glas montiert, bleibt davon nicht viel. Geradezu haptisch wird dagegen, angesichts der ausgestellten Original-Zettelkästen Warburgs, die Erinnerung an mein eigenes, prädigitales Forschen.

Mir geht es ähnlich wie Lucy Ives, die anlässlich der Ausstellung schrieb: „I suppose I am something of an Aby Warburg agnostic.“ [5] In meiner Studienzeit in den 1970er Jahren und danach geisterte sein Name als Geheimwissen für Wenige durch die Kunstgeschichte, Mythisierung eingeschlossen – Spiegelungs- und Identifikationsfigur für (meist männliche) Kunst- und Kulturwissenschaftler, die dem Bild, der Kunst, der Renaissance, der Menschheitsgeschichte im Angesicht einer ach so rationalen Moderne ihre archaische, abgründige Seite zurückgeben wollten. Inzwischen gibt es eine international und interdisziplinär ausdifferenzierte Warburg-Rezeption; ihr Ton ist nüchterner geworden. [6] Was aber könnten heutige Beweggründe für eine solche Ausstellung sein? Für Roberto Ohrt ist Warburg ein Renegat der Kunstgeschichte; verstanden hätten ihn eher die Künstler*innen; Ohrt verweist auf seine Verfahren der assoziativen Verknüpfung und der Montage. Renegat sei Warburg zudem in seiner Überschreitung des Kunstkanons. [7]

Hochaktuell jedoch wird Warburgs „Verknüpfungszwang“ [8] heute für die digitale Bildzirkulation. Die Ausstellung liefert gleichsam das analoge Augenfutter dafür. Warburgs an sich selbst diagnostizierter Zwang würde heute Verlinkungszwang heißen. Sein Bilderfahrzeug hieße entsprechend Hyperimage. [9] Software-Entwickler*innen versuchen, seine Verfahren ins Digitale zu übertragen. So lässt sich z. B. am Projekt Pathos and Pathosformel in Aby Warburg’s Bilderatlas nachvollziehen, wie eine Typenfestlegung digital vonstattengehen kann. [10] Und mit Hyperimage gibt es seit 2006 ein Open-Source-Projekt für den wissenschaftlichen Gebrauch. [11] Aber werden die neuen, digital verlinkten „Semiose-Formen“ [12] noch etwas mit den assoziativen Erkenntnisprozessen Warburgs zu tun haben? Und wie werden Typenfestlegungen, die auf digitale Suchverfahren zugeschnitten sind, Denken und Sprache, Erkenntnisinteresse und Bildgedächtnis verändern? Fragen, wie sie für die Macht der Algorithmen bereits diskutiert werden.

„Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne“, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 4. September bis 1. November 2020.

Anmerkungen

[1]Aby Warburg an Max Warburg, 22. Februar 1927, zit. nach Claudia Wedepohl, „The Making or Warburg’s Bilderatlas Mnemosyne“, Anm. 6, in: Aby Warburg: Bilderatlas MNEMOSYNE. The Original, Ausst.-Kat., hg. vom Haus der Kulturen der Welt, Berlin, und The Warburg Institute; Roberto Ohrt, Axel Heil, 2020 (nach dem Exzerpt aus der Pressemappe, ohne Seitenzahl).
[2]Aby Warburg, Gesammelte Schriften, Studienausgabe, Bd. 7, Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek ­Warburg, Berlin 2001, S. 127, zit. nach: Ebd.
[3]Vgl. Andreas Beyer/Horst Bredekamp/Uwe Fleckner/­Gerhard Wolf (Hg.), Bilderfahrzeuge. Aby Warburgs Vermächtnis und die Zukunft der Ikonologie, Berlin 2018.
[4]Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/M. 1989.
[5]Lucy Ives, Renegade Art Historian Aby ­Warburg Challenged the Discipline’s Elitism, https://www.artnews.com/art-in-america/features/aby-warburg-mnemosyne-atlas-reproduction-1202689821/.
[6]Vergl. dazu Colleen Becker, „Aby Warburg’s Pathosformel as methodological paradigm“, in: Journal of Art Historiography, 9, 2013, S. 1–25, besonders S. 1–11.
[7]Roberto Ohrt, „Eine unbekannte Sprache der Bilder“, in: Ders./Der Blog, 5. Oktober 2015, http://wp1087139.server-he.de/wp/?p=142.
[8]Titel einer Ausstellung des Warburg Institute 2016 (https://warburg.sas.ac.uk/whats-on/news/exhibition-verknüpfungszwang, geöffnet 7.1.2021).
[9]Vergl. Felix Thürlemann, „Vom Einzelbild zum Hyper­image. Eine neue Herausforderung für die kunstgeschichtliche Hermeneutik“, in: Ada Neschke-Hentschke (Hg.), Les herméneutiques au seuil du XXIème siècle – evolution et débat actuel, Paris 2004, S. 223–247, https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/471/1/Thuerlemann_vom_einzelbild_zum_hyper­image_2004.pdf.
[10]Leonardo Impett/Sabine Süsstrunk (School of Computer and Communication Sciences, Image & Visual Representation Lab, EPFL), Pose and Pathosformel in Aby Warburg’s Bilderatlas, https://diuf.unifr.ch/main/hisdoc/sites/diuf.unifr.ch.main.hisdoc/files/Marcus%20Liwicki%20-%20HisDoc%20presentation.pdf.
[11]http://hyperimage.ws/de/.
[12]Thürlemann, „Vom Einzelbild“, S. 224.