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I NEVER WRITE, I JUST DO Regine Ehleiter über „Seth Siegelaub. ‚Better Read Than Dead‘. Writings and Interviews 1964–2013“

„Seth Siegelaub: Beyond Conceptual Art“, Stedelijk Museum Amsterdam, 2015/16, Ausstellungsansicht

„Seth Siegelaub: Beyond Conceptual Art“, Stedelijk Museum Amsterdam, 2015/16, Ausstellungsansicht

Worthandlungen. Der US-amerikanische Galerist, Kurator, Autor, Verleger und Sammler Seth Siegelaub gilt als Schlüsselfigur in der Vermittlung und Verbreitung der US-amerikanischen Konzeptkunst der 1960er und 1970er Jahre. Eng arbeitete er mit Künstlern wie Carl Andre, Robert Barry, Douglas Huebler, Joseph Kosuth und Lawrence Weiner zusammen, bevor er sich 1972 weitgehend aus der Kunstwelt zurückzog. Ein neuer Schriftenband versammelt Siegelaubs sämtliche Interviews, Vortragsmanuskripte und Notizen, wobei die editorische Entscheidung, viele der aufgenommenen Ephemera, Magazin- und Katalogseiten faksimiliert zu reproduzieren und damit Siegelaubs Konzept des „Katalogs-als-Ausstellung“ auch auf materiell-visueller Ebene Rechnung zu tragen, besonders überzeugt, wie Regine Ehleiter herausstreicht.

Durch welche Textproduktion manifestiert sich eine Bildung, die weniger auf intellektuelle Gelehrsamkeit als auf praktisches Handeln abzielt? „I’m not a writer – I never write, I just do“, konstatierte der 2013 verstorbene Kunsthändler, Kurator und Verleger Seth Siegelaub 1969 gegenüber der New Yorker Kunststudentin Patricia Norvell. (53) Ihr ausführliches Interview hat Eingang in eine neue Anthologie gefunden, die unter Federführung von Siegelaubs Witwe Marja Bloem in Zusammenarbeit mit Lauren van Haaften-Schick, Jo Melvin und Sara Martinetti nun bei Walther König erschienen ist.

Der noch von Siegelaub vorgeschlagene Titel des Bands bezieht sich ironisch auf den antikommunistischen Slogan „better dead than red“ und erscheint in doppelter Hinsicht passend gewählt: Nicht nur verweist Better Read Than Dead auf Siegelaubs ausgeprägten Sinn für Humor – 2018 wurde posthum ein Teil seiner gigantischen Witzesammlung veröffentlicht. [1] Vor allem jedoch legt er den Fokus auf seine spätere, bislang in der Forschung nur wenig beleuchtete Tätigkeit als Verleger marxistischer und antiimperialistischer Literatur. Bereits die von Sara Martinetti und Leontine Coelewij kuratierte Ausstellung „Seth Siegelaub: Beyond Conceptual Art“ 2015/16 im Stedelijk Museum Amsterdam setzte es sich zum Ziel, Siegelaubs Praxis gerade auch über den Kontext der Konzeptkunst hinaus zu exponieren. [2] Dieses Ansinnen findet im vorliegenden Schriftenband eine Fortsetzung.

Neben den wegweisenden Ausstellungen, die Siegelaub zwischen 1968 und 1970 mit Konzeptkünstlern wie Robert Barry, Douglas Huebler, Joseph Kosuth und Lawrence Weiner realisierte, wird auch der mit dem Rechtsanwalt Robert Projansky erarbeitete, 1971 veröffentlichte „Artist’s Contract“ vorgestellt. [3] Der in viele Sprachen übersetzte Vertrag sollte Künstler*innen eine finanzielle Beteiligung am Weiterverkauf ihrer Arbeiten und mehr Kontrolle über deren spätere Ausstellung ermöglichen. Nach diesem ambitionierten Projekt verabschiedete sich Siegelaub aus der Kunstwelt und gründete 1972 in New York die alternative Tageszeitung Public Press + News Network. (139–142)

Parallel zur Gründung des International Mass Media Research Center (IMMRC) 1973 im französischen Bagnolet, einer Bibliothek marxistischer Schriften zu Massenmedien und Populärkultur, veröffentlichte er in seinem Verlag International General mehrbändige Publikationen, darunter Marxism and the Mass Media (1972–1980) und Communication and Class Struggle (1979–1983). Dokumentiert wird auch die juristische Kontroverse um das von Siegelaub herausgegebene Buch How to Read Donald Duck: Imperialist Ideology in the Disney Comic von Ariel Dorfman und Armand Mattelart, das 1975 in den USA zensiert wurde. (160–166)

Das umfangreiche Publikationsprojekt The Context of Art/The Art of Context, das 1996 in Kooperation mit Marion und Roswitha Fricke entstand, veranschaulicht den einsetzenden Prozess einer Historisierung der Konzeptkunst und thematisiert die veränderten kontextuellen Parameter der Kunstproduktion seit den 1960er Jahren. Für das Projekt nahm Siegelaub Kontakt zu 115 Künstler*innen auf, die an einer von fünf (ausschließlich euroamerikanischen) Konzeptkunstausstellungen teilgenommen hatten, darunter seine als „One Month“ (1969) bekannte Ausstellung in Form eines Kalenders mit einer Arbeit pro Seite des Monats März.

Auch die 1997 veröffentlichte Bibliographica Textilia Historiæ (232–246), eine Sammlung von Literatur über die Geschichte von Textilien, nahm ihren Ausgangspunkt bereits in den 1960er Jahren: Als Siegelaub noch eine Galerie für zeitgenössische Kunst in Manhattan betrieb, erweiterte er 1965 kurzzeitig sein Portfolio um den Handel mit Teppichen, woran ein etwas fragwürdig auf deren „orientale“ Herkunft verweisendes Galerieschild erinnert. (24) „I put together a library of books whose purpose was basically to serve as a working library for buying carpets. I had a friend [Robert Gaile] who was a dealer, so I was like the brains“, erläuterte Siegelaub 2011 im Gespräch mit dem Künstler Ben Kinmont zur Entstehung seines später imposant angewachsenen Handapparats. (306–318)

An Textilien (und Printerzeugnissen) faszinierten Siegelaub das Potenzial portabler Güter zur weltweiten Zirkulation sowie die historisch daran abzulesenden Handelsbeziehungen und gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklungen. Analog zu seiner Faszination für die haptische und sinnliche Qualität des Stofflichen interessierte er sich auch für die materiellen Aspekte von Publikationen – die von ihm ausgesuchten Schriften, die Bindung, das Papier. Die zur „January Show“ und anderen Ausstellungen veröffentlichten Zeitschriftenanzeigen, Ephemera sowie den Katalog gestaltete er selbst. (41–46) Die Entscheidung zur Reduktion auf ein Minimum an visuellen und verbalen Informationen begründete Siegelaub mit dem Wunsch nach einer möglichst „neutralen“ Lektüresituation. Hierzu schienen ihm Publikationen besonders geeignet: „The use of catalogues and books to communicate (and disseminate) art is the most neutral means to present the new art.“ (81)

Unter diesen Prämissen könne, so Siegelaubs zentrale Idee, auch das Sekundärmedium Katalog zur Vermittlung von Primärinformationen (primary information) dienen. Während dem Katalog traditionell die Funktion der Wiedergabe von Informationen „aus zweiter Hand“ zukomme, sei es mit dem Aufkommen neuer künstlerischer Praktiken möglich geworden, Leser*innen im Katalog auch eine bislang dem Besuch einer Ausstellung im Galerieraum vorbehaltene Erfahrung von Kunst zu bieten. In manchen Fällen könne daher die Ausstellung mit dem Katalog identisch sein. Diese bekannte, letztlich auf einem Zirkelschluss beruhende Aussage wird meist aus Siegelaubs Text „On Exhibitions and the World at Large“ zitiert – einem als Gespräch mit Charles Harrison deklarierten (Selbst-)Interview, das 1969 im britischen Kunstmagazin Studio International erschien. (80–82) Aufschluss hierzu gibt auch ein bislang unveröffentlichtes Interview mit der Kuratorin Elayne Varian: Darin postuliert Siegelaub im Rekurs auf Sol LeWitt die Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen „Form“ und „Inhalt“, abgewandelt zur Unterscheidung zwischen der „Präsentation“ von Kunst und der ihr vermeintlich autonom zugrunde liegenden Essenz der „Informationen“. (67, 80)

In Bezug auf die begriffliche Unschärfe speziell in Siegelaubs frühen Texten hätte die Anthologie von einem substanzielleren einführenden Kommentar und zugleich mehr kritischer Distanz der Herausgeberinnen gegenüber dem Material profitiert. Besonders überzeugend erscheint hingegen die editorische Entscheidung, viele der aufgenommenen Ephemera, Magazin- und Katalogseiten faksimiliert zu reproduzieren. Gerade die Einsicht, dass die materiellen und visuellen Aspekte von Siegelaubs Publikationen ebenso wichtig sind wie die enthaltenen Informationen auf Textebene, relativiert bei der Lektüre die Irritation über die teils theoretisch prekär fundierten Hypothesen, auf denen auch Siegelaubs Konzept des „Katalogs-als-Ausstellung“ beruht.

In der Gesamtschau dokumentieren die gewinnbringend zusammengetragenen Schriften Siegelaubs Bedürfnis, zeitlebens die Bedingungen des eigenen kuratorischen und publizistischen Tuns im Lichte gesellschaftlicher Verhältnisse zu reflektieren, wie etwa in seinen „Memoiren“, die er als „ein Buch über das Schreiben eines Buchs“ konzipierte. (93) Siegelaubs Texte enthalten erfrischend undogmatische, lebensnahe Antworten auf soziale Fragen der Künstler*innenexistenz: Zur Entwicklung neuer Strategien des Öffentlichwerdens von Kunst war für ihn der Einsatz kommerzieller unternehmerischer, eben selbst kapitalistischer Strategien des Katalog*verkaufs* kein ideologisches Tabu. Sein Versprechen, dass die „Macht“ von Künstler*innen im kollektiven Handeln liegt und dass Alternativen zum Status quo in der Praxis denkbar sind, lässt Siegelaubs Schriften noch immer aktuell erscheinen.

Marja Bloem/Sara Martinetti/Lauren van Haaften-Schick/Jo Melvin (Hg.), Seth Siegelaub. „Better Read Than Dead“. Writings and Interviews 1964–2013, Amsterdam: Stichting Egress Foundation/Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2020. 382 Seiten.

Anmerkungen

[1]The Joke Book: Collected by Seth Siegelaub, Amsterdam: Kunstverein, 2018.
[2]Seth Siegelaub. Beyond Conceptual Art, Ausst.-Kat., Stedelijk Museum, Amsterdam, 12.12.2015–17.4.2016, hg. von Leontine Coelewij/Sara Martinetti, Köln: König, 2016.
[3]Maria Eichhorn, The Artist’s Contract: Interviews with Carl Andre, Daniel Buren, Paula Cooper, Hans Haacke, Jenny Holzer, Adrian Piper, Robert Projansky, Robert Ryman, Seth Siegelaub, John Weber, Lawrence Weiner, Jackie Winsor, Köln: König, 2009. Der Vertrag ist auch Gegenstand des Dissertationsprojekts der Mitherausgeberin Lauren van Haaften-Schick an der Cornell University, Ithaca, New York: „Collaboration, Critique, and Reform in Art and Law: Origins and Afterlives of ‚The Artist’s Contract‘ (1971)“.