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INFINITESIMALRECHNUNG Katharina Hausladen über Klein in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin

Klein, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin, Konzert am 04.02.2022

Klein, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin, Konzert am 04.02.2022

Ob Theaterbühne, Club oder White Cube – so vielfältig wie die institutionellen Räume, die die Musikerin und Künstlerin Klein mit ihrer multidisziplinären Praxis bespielt, sind auch die Referenzen, von denen diese Praxis sich beeinflusst zeigt. Nigerianische B-Movies und Andrew-Lloyd-Webber-Musicals gesellen sich zu psychedelischen Saxofonsoli, Dub und Drones. Im Februar kam Klein an die Berliner Volksbühne, um ihr neuestes Album Harmattan zu präsentieren. Im Gegensatz zum weitgehend von Beats und Lyrics befreiten Tonträger war das Konzert eher eine kollektive Improvisation mit szenischen Mitteln. Richtungsweisend auch für ein Verständnis von Gemeinschaftlichkeit, bei dem das Verbindende im Unterschied der Einzelnen erkannt wird, war vor allem die Jazz-typische Konzentration auf die Gruppensituation, so Chefredakteurin Katharina Hausladen.

Hart trifft das grelle Licht, das der Suchscheinwerfer in den dunklen Publikumsraum wirft, die Augen. Wie im Film die Lampe beim Verhör tastet der Strahler in ruckartigen Bewegungen die Sitzreihen ab. Hin und wieder verweilt das Spotlight auf einzelnen Zuschauer*innen, von denen manche die Hand gegen die Blendung heben. Andere wenden sich ab oder ertragen das Schlaglicht wie bei einer Mutprobe und schaffen es auch fast, nicht zu blinzeln. So oft dieser Vorgang sich wiederholt, so unangenehm bleibt die Konfrontation mit dem gleißenden Strahl. Erst als die Inquisition beendet und der Lichtkegel auf die Bühne zurückgekehrt ist, beginnen die Körper der bis dahin an der Teilnahmslosigkeit gehinderten Besucher*innen, sich wieder zu entspannen.

Der Auftakt von Kleins Konzert im großen Haus der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz war ebenso kalkuliert wie effektiv. Einerseits wirkte die Aktivierung, die die Heimsuchung durch den Scheinwerfer zum Ergebnis hatte, wie ein proto-Brecht’sches Gemahnen an das Publikum, es sich trotz der Bestuhlung nicht allzu bequem zu machen, sondern, wie es bei Benjamin heißt, „zu prompter Stellungnahme“ [1] bereit zu sein. Andererseits wurden die Bezüge zu klassischer Musik und bildender Kunst, die die Praxis der englisch-nigerianischen Künstlerin durchziehen, durch den rhetorischen Einsatz von theatralischen Stilmitteln wie jener Lichtsetzung, aber auch durch Kostüme und Perücken in den Bühnenraum überführt. Damit wurden sie als narrative Elemente inszeniert, obschon popmusikalische gegenüber Verabredungen des Theaters überwogen.

So schien es nur folgerichtig, dass sich in der Bühnenmitte eine weitere Bühne befand: ein weißer Sockel, der als Projektionsfläche für die Visuals diente. Diese reichten von animierten „Hug a Hoodie“-Tags, die David Camerons berüchtigte Rede zitierten, in der dieser sich vor einigen Jahren gegen eine Dämonisierung von Jugendkulturen (verkörpert durch den Kapuzenpulli) ausgesprochen hatte, über Found-­Footage-Aufnahmen von Jugendgruppen bis hin zu verschwommen-abstrakten Farbflächen und einem unscharf gehaltenen „Faith“-Schriftzug, der dadurch als Losung umso prekärer wirkte. Wie auf einer umzäunten und von der Nebelmaschine immer wieder in Beschlag genommenen Aussichtsplattform, die über eine Treppe auf der Rückseite zu begehen war, jammten auf diesem gleichermaßen zur Leinwand wie zur Bühne umfunktionierten Sockel Klein am Synthesizer sowie Bunny, Lowkey-E und Lorraine Yakubu an den Gitarren.

Das ostentative Desinteresse der vier vom Publikum meist abgewandten Musiker*innen stand in offenem Gegensatz zu der sozialen Aufführungssituation, in der jene miteinander und mit dem Rest der Band interagierten. Khush Jandu Quiney am Saxofon und Jawnino an der Kickdrum, der das Konzert bereits mit seinem gleichnamigen Solo-Rapprojekt eingeleitet hatte, saßen jeweils links und rechts des weißen Sockels auf von roten Absperrkordeln eingesäumten Plastikstühlen und bildeten so ein Dreieck mit der gedoppelten Bühne. Während die beiden mit eindrucksvollen Solo-Impros begeisterten und von Klein mit Gesangseinlagen, Field Recordings und Samplings (unter anderem von Dialogen aus diversen Fernsehserien) begleitet wurden, sorgten die drei Gitarren mit Verzerrern, Feedback-Lärm und schweren, fast statischen Riffs für den psychedelischen Grundton dieser zwischen Jazz, R&B, Noise und Ambient angesiedelten Soundperformance.

Ein die visuelle Erzählung der Bewegtbilder aufgreifendes Motiv stellte der Einsatz der Smartphones dar, mit denen die auf den unterschiedlichen Bühnenebenen befindlichen Künstler*innen ihre Musik- und Tanzeinlagen gegenseitig filmten. Mitunter wirkte es fast so, als ob sie sich damit auch über Einsätze und andere Dramaturgien verständigten – jene cues also, die im Jazz wie im Theater einem Stück seine formale Struktur verleihen. Entsprechend zeigte sich schnell, dass der Abend keine strikte Darbietung von Kleins weitgehend von Beats und Lyrics befreitem Album Harmattan (Pentatone, 2021) sein wollte, das noch vor der Pandemie für Orchester geschrieben worden und erst im November erschienen war. Vielmehr ging es hier um dessen improvisatorische Weiterführung und Neuaneignung mit szenischen Mitteln.

Überhaupt waren Wiederholung und Mechanizität die teils bis an die Grenzen der Argumentierbarkeit stoßenden Leitlinien des gesamten Konzerts, an dessen Ende Klein wie vergessen hatte, aufzuhören. Immer wieder neue Schleifen ließen sich um die meist scheppernden, tiefdunklen und sich in wiederkehrenden Echos ergehenden Drones ziehen, die Klein über ein von der Decke hängendes Mikrofon verstärkte und mit denen sie die kollektive Improvisation abwechselnd unterlegte bzw. umhüllte. Nach einem überlangen Solo am Sampler schien es schließlich, als hätte ein kurzer Blick aufs Telefon, auf dem die Uhrzeit oder die Kurznachricht einer ihrer Kolleg*innen, die bis dahin bereits alle von der Bühne abgegangen waren, zu sehen war, das Signal zum dann auch etwas abrupt anmutenden Schlussakkord gegeben.

Ganz im Sinne einer solchen Improvisation ohne melodische Schließung, die Fred Moten in einer viel zitierten liner note als „soundtrack of epic revolt against beginnings and ends“ bezeichnet hat, ist auch der Titel des aktuellen Albums zu verstehen: Harmattan, so wird jener Sandsturm genannt, der zwischen November und März von Ost- nach Westafrika weht und oftmals ganze Landstriche im Staub verschwinden lässt. Auch Klein, von Moten als „discomposer“ geadelt, wirbelt feinste Soundpartikel auf und türmt sie mit großem Gespür für deren soziale und mediale Heterogenität zu wandernden Dünen mit größtmöglicher Einsturzgefahr. So sehr Klein auf das repetitive Moment fokussiert, so wenig verlässlich sind auch die Konventionen, nach denen sie dessen Gesetzmäßigkeiten konstruiert. Folgt etwa die vierhändige Klaviereinlage noch der Satzstruktur nach dem Vorbild klassischer Konzertmusik oder ist sie gleichsam Platzhalter für die musikalisch inszenierten Handlungen zweier Personen auf einer Theaterbühne?

„Klein & Josiane M.H. Pozi“, Galerie Buchholz, Berlin, 2021, Ausstellungsansicht

„Klein & Josiane M.H. Pozi“, Galerie Buchholz, Berlin, 2021, Ausstellungsansicht

Unentschieden bleibt die Frage nach dem ästhetischen Eigensinn des Konzerts als Musik­performance auch deshalb, da Klein nicht auf etablierte Formen entgrenzter Kunstpraktiken zurückgreift, wenngleich ihr Sprechakt als Musikerin und bildende Künstlerin (und nicht als Schauspielerin) immer beides ist: vom Fiktionalen eingerahmt und doch nie vollständig darin aufgehend. Anstatt zu behaupten, dass die eigentliche Aufführung woanders stattfindet, dass also etwa ein Saxofonsolo nicht nur ein Saxofonsolo ist, sondern auch und vor allem eine Reinszenierung musikalischer Traditionen wie der des Jazz und damit eine ganz spezifische kollektiv betriebene und prozessuale Musik, blieb das Konzert durchgehend in beiden Hinsichten ästhetisch erfahrbar: als Musik wie als visuelle Kunst, als klangliches Erzeugnis wie als Laufsteg, Performance, Bühnenbild.

Diejenigen, die mit Kleins Praxis vertraut sind, dürfte dieses Crossover nicht weiter überraschen. Nach Kollaborationen mit in unterschiedlichen Künsten beheimateten Performer*innen wie Arca, Laurel Halo und Mica Levi sowie Veröffentlichungen auf Hyperdub und ihrem eigenen Label ijn inc schrieb und inszenierte Klein unter anderem das Fantasy-Musical Care, das Disney-­Prinzessinnen ebenso huldigt wie es Kritik am britischen Pflegesystem übt und 2018 am Londoner Institute of Contemporary Arts (ICA) uraufgeführt wurde. [2] Für ihre mit Josiane M. H. Pozi (deren neue Filmarbeit 2 derzeit in einer von Kathrin Bentele kuratierten Gruppenausstellung im Düsseldorfer Kunstverein zu sehen ist) gestaltete Ausstellung „Reunion“ 2021 in der Galerie Buchholz in Berlin, zu deren Eröffnung neben Brbko auch Bunny und Jawnino mit Performances aufwarteten, war wiederum die Kongruenz von Zeitgenoss*innenschaft und Anachronismus maßgebend: Die Casino-Ästhetik einer von sozialen Netzwerken, Überwachungskameras, Heimvideos und Newsfeeds bestimmten Multi-­Screen-Realität traf hier auf die Kargheit eines in seiner Horror-Kodierung an True-Crime-Serien erinnernden Environments, das die statische Werkform geradezu idealtypisch konterkarierte.

Ist es also doch die neoavantgardistische Tradition der Kunst-Nichtkunst-Verhandlung, in die Kleins multidisziplinäre Praxis sich einreiht? Oder entzieht sich die kulturindustrielle Durchdringung von White-Cube-Tropen wie Wegwerf­ästhetik und virtuos in Szene gesetzter Kontingenz-Behauptung einer schlichten Verlängerung der Musik mit bildhauerischen Mitteln? Gerade was den ökonomischen Aspekt der Ware Kunst angeht, ist es erstaunlich, dass so gut wie alle der bei Buchholz gezeigten Arbeiten kollaborativ entstanden sind. Demnach war die Ausstellung keine Gruppenausstellung im strengen Sinne, keine aus zwei Einzelpositionen zusammengesetzte Schau, sondern ein Duett: das Produkt eines hinsichtlich seines geistigen wie gewerblichen Eigentums gleichwertigen Tandems.

Auch für den Abend in der Volksbühne lässt sich der Versuch feststellen, das Konzert gegenüber seinen Teilen – sei es sozial, die Bandmitglieder betreffend; sei es ästhetisch, als Tontrauben – als Ganzes hervorzukehren; nicht im Sinne einer die Differenz aufhebenden Berührung, sondern als maximale Annäherung der heterogenen Elemente an einander. Mittels Improvisation und Wiederholung, Experiment und Verabredung verlinkten die ihre Gemeinsamkeit im Unterschied erkennenden Einzelnen sich derart, dass der Abstand zwischen ihnen in gelungenen Momenten so gering wie möglich wurde. In der Mathematik nennt man einen Punkt, der einem anderen unendlich nahekommt, ohne diesen zu berühren, infinitesimal. Oder anders gesagt: unendlich klein.

Katharina Hausladen ist Chefredakteurin von Texte zur Kunst.

Image credit: 1. Photo Bahar Kaygusuz; 2. Courtesy of the artists and Galerie Buchholz

Anmerkungen

[1]Walter Benjamin, Was ist das epische Theater?, Frankfurt/M. 1977, S. 532.
[2]Auf das Musical folgte 2021 ein gleichnamiger Spielfilm unter der Regie von Klein. Das Stück war Teil eines laufenden Projekts am ICA, das junge Künstler*innen bei der Umsetzung eines Vorhabens ihrer Wahl unterstützt, in dessen Rahmen etwa 2017 Dean Blunt und Mica Levi die Oper Inna inszenierten.