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DAN GRAHAM (1942–2022) Sabine Breitwieser

Dan Graham

Dan Graham

Mit dem Verlust von Dan Graham tut sich eine schmerzhafte Lücke auf, mit der eine der originellsten Künstler- und Kritikerpersönlichkeiten, die mit Brillanz und anarchistischem Humor bestach und seit den 1980er Jahren für viele ein Idol war, verloren gegangen ist. „Do you know she has a golden business card?“, teilte er meinem damaligen Chef, dem CEO eines Versicherungskonzerns mit, als ich die Rechnung eines gemeinsamen Mittagessens während der Documenta in Kassel bezahlte. Graham war ein Meister von perplexen Situationen, die er mit derartigen „Enthüllungen“, aber auch mit Klatsch und Schimpftiraden, dem Bestreiten bekannter Fakten oder dem abrupten Abbrechen von Gesprächen herstellte. In einer seiner ersten Arbeiten mit dem Titel Side Effects/Common Drugs (1966) stellte er die Nebenwirkungen von Psychopharmaka dar, Medikamente mit denen Graham seit seiner Teenagerzeit behandelt wurde. Der Rolling-Stones-Song „Mother’s Little Helpers“ habe ihn dazu inspiriert, so Graham in einem Gespräch [1] ; er schlug damit eine Brücke zu den Vorstädten von New York City, die er uns in einer seiner bekanntesten Arbeiten näherbrachte. Sein Interessenfeld legte er wie folgt dar: „My passion has never been art. It’s always been architecture tourism […] and rock and roll writing.“

Nach einer kurzen Erfahrung als Betreiber der John Daniels Gallery in New York und quasi auf der Flucht vor seinen Gläubigern begann er auf der Bahnfahrt zu seinen Eltern die Suburbs zu fotografieren. Die originalen Diapositive wurden erstmalig als Projektion gezeigt und kurz darauf unter dem Titel „Homes for America“ (1966–1967) als doppelseitiger Foto-Text-Essay in der Zeitschrift Arts Magazine veröffentlicht. Das Raster des Stadtplans und die Massenproduktion von Häusern – und keinesfalls eine Kritik des White Cube – wären für ihn ausschlaggebend gewesen, aber auch für Künstler wie Donald Judd oder Sol Lewitt, unterstrich Graham. Was als Kritik am künstlerischen Minimalismus in die Kunstgeschichte einging, sei in Wahrheit ein humorvolles Zelebrieren des italienisch-amerikanischen Kleinbürgertums, eine „Dichtung der Banalität“. Die Ablehnung der Kanonisierung der eigenen Arbeit durch andere – bei gleichzeitig ständiger Beschwerde über seine mangelnde Anerkennung – passt genau in das Schema, wie Graham seine Rolle in der Kunst (bewusst oder unbewusst) anlegte: als jemand, der sich nicht einordnen lassen will, dessen Arbeiten Hybride sind und der jedenfalls die Interpretationshoheit darüber behalten will.

„I actually think of myself as more of a writer than an artist, and I don’t think of myself as an architect, but my work is always a hybrid. So I began with magazines.“ Mit seinen Arbeiten „zur Veröffentlichung“ [2] in Zeitschriften schloss ­Graham den Kreislauf von Ausstellung und Anerkennung über Kunstkritiken kurz, indem er künstlerische Arbeiten direkt für den Medien­raum schuf. Eine meiner Lieblingsarbeiten ist Schema (1966), ein ‚Gedicht‘, das seinen Inhalt aus der materiellen Struktur des Mediums gewinnt, das selbstreferenziell und bei jeder Veröffentlichung neu zu schaffen ist. Graham wollte etwas „wie einen Popsong, frei verfügbar und sehr schnell“ machen. Als ich Schema als Insert in der Wiener Tageszeitung Der Standard für das museum in progress umsetzte, fand ich mich in einem Kreislauf von Check und Double-Check wieder, bis ich alle Eigenschaften eingearbeitet hatte und mit dem Gefühl belohnt wurde, selbst etwas geschaffen zu haben. Neben dem Nouveau Roman und französischer Theorie der Nachkriegszeit waren es die frühen Filme von Godard, die Graham beeinflussten, und so war es auch ein perfektes Setting, als er einen Kassenzettel unter der Headline „Figurative by Dan Graham“ zwischen Werbeanzeigen für Damenartikel 1968 in Harper’s Bazaar platzierte.

Indem Graham dem Medium eine „in-formative“ Rolle zukommen ließ, rückten das Theatralische und Performative ins Zentrum. Sein Künstlerbuch über Arbeiten von Ende der 1960er bis Ende der 1970er Jahre betitelte er provokant mit dem Schlagwort „Theater“ [3] . Er ging davon aus, dass sich Menschen durch gegenseitige Vergleiche annähern, was wiederum Sympathien hervorrufen kann. In seiner Performance Like (1971) sollten zwei Performer sich gegenseitig davon überzeugen, dass einer dem anderen ähnlich sei, und sich dabei zunehmend näherkommen. In zahlreichen Workshops und Vorträgen entwickelte Graham eine Reihe von ähnlichen behavioristisch aufgebauten Arbeiten, die in Dialog oder in Reflexion mit den Teilnehmenden und dem Publikum entstanden. In seinen sozialpsychologischen Versuchsmodellen machte er sich auch Spiegel zunutze, die er interaktiv zur Anwendung brachte.

Um schließlich auch audiovisuelle Technologien nutzen zu können, „reklamierte“ er sich als Lehrender an das Nova Scotia College of Art & Design in Kanada, wo Videoausrüstungen vorhanden waren. Die dabei entstandene Werkgruppe, in der nunmehr auch dem Raum und der Architektur ein eigener Stellenwert beigemessen wurde, füllt ein ganzes Buch. [4] In der Rolle des Unterrichtenden und Vortragenden lebte Graham auf, hier konnte er sein breites Wissen, seine ausgeprägte Beobachtungsgabe und seinen Witz einbringen – und dabei vor allem Feedback erhalten und Kontakt zu anderen Leuten aufnehmen. In Fotos und Videos aus zahlreichen Arbeiten der 1970er Jahre ist ein ungemein neugieriger und frischer Graham zu sehen, wie er mit dem Publikum vor oder hinter Spiegeln und Kameras interagiert.

1977 kam er auch nach Wien, wo er in der Galerie nächst St. Stephan Performer/Audience/Sequence aufführte [5] ; 18 Jahre später dann im Zuge seiner Werkschau ebenfalls in Wien Performer/Audience/Mirror, nunmehr mit einem Spiegel als zusätzlicher Reflexionsebene. Das Liveerlebnis seiner Performance prägte sich mir ein über die Herstellung eines gemeinsamen sozialen Raums: vom Gefühl der Unsicherheit, sich im Spiegel (gemeinsam) zu sehen, über seine Kommentare zu einzelnen Personen bis zu seinem Humor, der aufs Publikum überging, das dadurch als Co-Performer*innen wahrgenommen wurde.

Wie seine Texte war auch Grahams Kunst Kritik und Reflexion der Arbeit anderer, aber auch Antwort auf seine eigenen vorhergehenden Arbeiten. Von seinen Kritiken und den Zeitschriftenarbeiten scheint der bekenntnishafte Essayfilm Rock My Religion (1983–84) ein logischer nächster Schritt zu sein. Grahams breite Palette von Medien und Genres, die er in unverwechselbarer Art und Weise miteinander verknüpfte, schloss Populärkultur immer mit ein.

Seine Auseinandersetzung mit dem Optischen über die Kameralinse und über Spiegel mündete Ende der 1970er Jahre in eine bis zuletzt laufend weiterentwickelte Serie von Pavillons. Alteration to a Suburban House (1978) öffnete einen neuen Weg und ist als Architekturmodell bekannt: eine künstlerische Form, mit der er ebenfalls neues Terrain beschritt. Indem Graham vorschlug, die herkömmliche geschlossene Fassade durch transparentes Glas zu ersetzen und den Innenteil mit einem Spiegel in zwei Bereiche zu teilen, veränderte er das (private) Haus zu einem Schaufenster, in dem sich wiederum das (öffentliche) soziale Umfeld und seine Betrachter*innen spiegelten. „Everything I do is quasi functional. It’s not architecture. I would never consider myself an architect“, betonte Graham erneut seine Rolle. Die Spiegelung der Bildschirme und der Umgang mit den in den 1970ern neuen, audiovisuellen Medien beschäftigten ihn weiterhin. Als künstlerische Videoarbeiten in Ausstellungen Eingang fanden, entwickelte er ab Mitte der 1980er Jahre mit New Design for Showing Videos Displays, die Kunstbetrachtung als gruppendynamischen Prozess evozierten.

Privat trat Graham wie ein zeitgenössischer Hippie auf, der zum Frühstück Croissants und Popmusik verlangte. Sein Wissensdrang und seine Neugier, denen er durch Reisen für Vorträge und Projekte nachkam, trieben ihn unermüdlich an. Er war eine unverwechselbare Persönlichkeit, die mich mit seinem umfassenden Wissen, gepaart mit trockenem Humor am Laufen hielt. Von ihm habe ich gelernt, wie ich die urbane Welt kritisch, aber humorvoll lesen und mir als Material aneignen kann. Er liebte es, Menschen zu vernetzen, sei es über deren Astrologie oder über T-Shirts, mit denen er uns zum Lachen brachte.

Sabine Breitwieser lebt derzeit als unabhängige Kuratorin und Kunstwissenschaftlerin in Wien. Sie war Direktorin des Museums der Moderne Salzburg, Chefkuratorin für Medien- und Performancekunst am Museum of Modern Art, New York, und Künstlerische Leiterin der Generali Foundation, Wien.

Image Credit: Andrew Boyle

Anmerkungen

[1]Graham im Gespräch mit der Autorin. Siehe: Oral History Project am Museum of Modern Art, New York. Alle weiteren ausgewiesenen Zitate des Künstlers stammen ebenfalls aus diesem Interview.
[2]Siehe dazu die Publikation For Publication. Dan Graham, hg. von Otis Art Institute of Los Angeles City, 1975; Neuauf­lage, Marian Goodman Gallery, New York 1991.
[3]Dan Graham. Theater, Belgien 1978, hg. mit dem Sammler Anton Herbert, der ebenfalls kürzlich verstorben ist.
[4]Benjamin H. D. Buchloh (Hg.), Dan Graham. Video-Architecture-Television. Writings on Video and Video Works 1970–1978, The Press of the Nova Scotia College of Art and Design 1979.
[5]Die Performance erfolgte über Vermittlung von Peter Weibel, der parallel eine Gruppenausstellung im Wiener Künstlerhaus organisierte, an der Graham ebenfalls teilnahm.