FEMINISMUS FÜR ALLE? Kersty Grether über „Noch wach?“ von Benjamin von Stuckrad-Barre

Fassade des Axel Springer Verlags, Berlin
Die Anfrage von Texte zur Kunst, Benjamin von Stuckrad-Barres viel diskutierten Roman Noch wach? zu rezensieren, habe ich mit Begeisterung angenommen. Der Redaktion war aufgefallen, dass mein Aufsatz „Nicht wach?“, den ich bereits im Mai 2023 über das Buch verfasst habe, hauptsächlich von der fulminant-polarisierenden Rezeption des Romans handelt. In einem Eintrag auf meinem Blog hatte ich mich so polemisch – aber auch gesellschaftspolitisch faktenreich, wie mir schien – über die deutsche Öffentlichkeit und ihr falsches Verständnis dieses Bestsellers beschwert, dass der Gegenstand meiner Streitschrift – der Roman und seine Qualitäten – etwas in den Hintergrund geraten sind. [1]
Ich reiche das also jetzt gerne nach, soll keiner denken, ich hätte mir das Buch schöngeredet, nur weil mich die Rezeption so aufgeregt hat. Da war zum Beispiel der lächerlich-moralisierende Einwand der einflussreichen Literaturkritikerin Iris Radisch in der ZEIT, das Buch sei ja ganz flott geschrieben, auf den ersten Blick sogar sprachlich brillant, vor allem in der Spiegelung des allgemeinen Geredes, aber der Autor eben doch ein schlechter Mensch, weil oberflächlich. (Argh, dieser Anti-Pop-Impuls, er ist nicht wegzukriegen aus dem Bildungsbürger*innentum!) Und so sei auch sein Buch letztendlich. Ebenso falsch fand ich aber auch die massiven Einwürfe intersektionaler Feminist*innen: Ein Typ im Ringel-T-Shirt, der auf die 50 zugeht, möge bitte nicht den von sexualisierter Gewalt am Arbeitsplatz betroffenen Frauen im Weg stehen, ihre Geschichte selbst zu erzählen. Dem setzte ich entgegen, dass wir auf allen Ebenen des Patriarchats spielerische Spielverderber*innen brauchen. Nicht hilfreich waren auch die meist männlichen Rezensenten, die in den allermeisten Fällen aus dem Buch eine Geschichte über eine zerbrechende Männerfreundschaft gemacht haben. Schließlich enthält es ja – oberflächlich betrachtet – auch alles, was das patriarchale Herz begehrt: den Turm des Bösen, sprich: die Bild-Zeitung und ihre reaktionäre Rechthaberei in Zeiten von Trumpismus, sowie Machenschaften, Macht, Milliardär*innen.
Es war krass: ein Roman als Spiegel-Cover-Thema – und dann das: Thema verfehlt! Oder viel zu eng gefasst. Die Issues des intersektionalen Feminismus wurden tatsächlich in dieser Titelstory ausgespart. Noch nicht einmal die Frage, ob er sich als Mann überhaupt anmaßen kann, so ein Buch zu schreiben, wurde aufgeworfen. Stuckrad-Barre lieferte dennoch eine Begründung mit: „Ich habe mich in der Vorbereitung viel mit Tyrannentypen beschäftigt. Trump, Kurz. Wie sprechen solche Leute, wie denken die, wie leben die? Wie sagen die was?“ [2]
Und somit wären wir schon mitten in der Rezension. Banal gesagt, der Roman fängt schon toll an: mit der Geschichte einer Berufsanfängerin, die sich in ihren Chefredakteur verliebt hat, der gewisse Ähnlichkeiten mit dem Bild-Chef Julian Reichelt aufweist, und die im Beisammensein mit ihm zum Beispiel den US-amerikanischen Botschafter trifft. „Es fühlt sich gut an, auf eine seltsame Art, alles ist plötzlich heller in deinem Leben, bunter, endlich passiert was.“ (13)
Damit steigt der Roman schon tief in die psychologischen Motive ein, warum sich Menschen Machtmissbrauch gefallen lassen. Nein, es sind, according to Stuckrad-Barre, eben nicht die niedersten Beweggründe, sondern eher die hellsten und schönsten. „Frauen sagen, er wolle dich nur ausnutzen – Männer sagen, du wolltest ihn nur ausnutzen. Aber sie täuschen sich alle – du bist NICHT SO EINE, und auch er ist nicht so, so ist er wirklich nicht! Ihm geht es wirklich um DICH ALS PERSON. Silvester will er dich mitnehmen nach Jerusalem zur Klagemauer.“ (14)
Ein gelungener Schachzug zu Beginn des Romans; nein, die Frauen, die sich zunächst auf so etwas einlassen, sind keine „hinterhältigen Schlampen“, sie haben einfach Lebenslust. Macht eröffnet Möglichkeiten, magische Momente zu erleben, die man sonst nicht erleben würde.
Aber die Protagonistinnen sind schnell desillusioniert und kämpfen schließlich gemeinsam gegen Missbrauch am Arbeitsplatz: „Ja, kann sein. Wir haben getan, was wir konnten. Aber die haben eben gekonnt, was sie taten. Großer Unterschied.“ (367) Diese bitter-sarkastische Erkenntnis steht weit hinten im Buch, als die betroffenen Frauen längst zu Aktivistinnen in eigener Sache geworden sind und einer externen Anwältin Geschichten schildern, die danach anonymisiert an den Verlag weitergereicht werden. „Wenn du dich beschwerst und an die Öffentlichkeit gehst, dann verlierst du deinen Job und findest kaum einen neuen. Du bist dann die Verräterin.“ (369) Und selbst die Presse verbreite die Sichtweise der Machtmänner weiter. Viel zu nah sei das alles immer noch an den, wie der Erzähler mit Helmut Dietl anmerkt, „ewig gültigen Zutaten einer vielversprechenden Geschichte: ein bissel Geld, ein bissel Sex, ein bissel Tragik und ein bissel Perversion“. Selten wurde von einem männlichen Autor der Wahnsinn der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz so genau verstanden und so unoberflächlich – so nah am Geschehen, von allen Phasen der Hoffnung und der enttäuschten Hoffnungen handelnd – erzählt. Aber warum auch nicht? Das Patriarchat kann von vielen Seiten verunsichert werden. Umgekehrt ist das ja auch so:
„Misogynie“, schreibt die Philosophin Kate Manne in ihrem Buch Down Girl – Die Logik der Misogynie, „kann sowohl von Männern als auch von Frauen kanalisiert und geäußert werden.“ [3] Der Angriff auf Personen, die Geschlechterrollen überschreiten, lässt das Patriarchat aufblühen. Es gibt „männlich codierte Vergünstigungen und Privilegien“, die eben nur Männern zustehen, die in Ausnahmefällen aber auch Frauen besetzen können: Männliche Privilegien seien zum Beispiel gesellschaftliche Führungspositionen, Autorität, Einfluss, Geld und andere Machtformen. Dann gäbe es noch weniger greifbare Facetten des gesellschaftlichen „Ansehens“: etwa „die Freiheit von Schande, von öffentlicher Demütigung“. [4]
Die Freiheit des Mannes, von öffentlicher Demütigung ausgenommen zu werden, wird von der durch Me-too entstandenen Kultur heftig infrage gestellt. Auch das könnte ein Grund sein, warum Noch wach? so hohe Wellen geschlagen hat. Ein Mann mit hohem Status schlägt sich folgenreich auf die Seite der wehrhaften Frauen – und demütigt damit „symbolisch“ einen mächtigen Freund, mit dem Stuckrad-Barre im wirklichen Leben gut befreundet war.
Den Frauen wiederum steht laut Kate Manne ein System aus weiblich codierten Gütern zu. Es halte sich die Vorstellung, dass Frauen etwas schuldig seien, etwas geben müssen, sehr hartnäckig. „Neben z. B. Aufmerksamkeit, Zuneigung, Bewunderung, Sympathie, Nachsicht usw. gehören zu solchen weiblich codierten Gütern und Dienstleistungen z. B. Sicherheit, Trost und Geborgenheit.“ [5] Diese Formen emotionaler und sozialer Arbeit vermischt der Erzähler in Noch wach?, in dem er dem männlichen Helden die weiblichen Eigenschaften zukommen lässt. Moralische Anteilnahme und Trost scheinen ausgerechnet ihm, dem als größenwahnsinnig verunglimpften Dichter, leichtzufallen. Kein Wunder also, dass dieser Roman einen Skandal auslöste, aber auch ein Bestseller wurde.
Natürlich ist es für mich, als jemand, die selbst in zahlreichen feministischen Gruppen unterwegs war und zum Beispiel den SlutWalk Berlin (eine Vorläufer*innenbewegung zu Me-too) mitorganisiert hat, ein Lesevergnügen, in der Beschreibung all dieser Sarkasmen und, ja, auch der gewonnenen Einsichten, des mitunter auch schönen Zusammenhalts der feministischen Gruppe zu schwelgen. Sind die Feminist*innen der 2010er Jahre eigentlich so untereinander zerstritten gewesen, dass man jetzt eben den feministischen Roman eines Mannes feiert, der die Schönheit von politischem Aktivismus neu erfasst? (Ein wenig wie die Hauptfigur Lilly Vegas in meinem Me-too-Pop-Roman An einem Tag für rote Schuhe aus dem Jahr 2014.)

Benjamin von Stuckrad-Barre, 2023
Stuckrad-Barres weibliche Hauptfigur Sophia und ihre Mitstreiterinnen sind äußerst wirkungsvolle, sehr eloquente Figuren, die in ihrer Selbstreflexivität und Schönheit erkannt werden und wirken dürfen. Und die es mit all ihren positiven, auch männlich codierten Eigenschaften, und rein intelligenzmäßig sowieso, locker mit so einem hoch bezahlten Chefredakteur aufnehmen können, ihn bei Weitem überstrahlen. Der Autor hat für dieses Buch mit all seinen bezaubernden und tieftraurigen Verwicklungen zwischen L.A. und Berlin, Hollywood und Bild-Zeitung eben nicht nur den psychopathischen Typus männlicher Macht analysiert, sondern auch den in dieser Zeit so berühmt-berüchtigten Widerstand von Frauen. Es ist also vollkommen legitim, dass dieses Buch sich rühmt, ein Sittengemälde seiner Zeit zu entwerfen. Das gelingt auch deshalb, weil der Autor das Wesen und die Gesten dieses weiblichen Gegenentwurfs bis in jedes Detail studiert hat.
Seine Frage „Wie sprechen solche Leute, wie denken die, wie leben die? Wie sagen die was?“ könnte ebenso gut auf die Frauen übertragen werden mit der Frage „Wieso sagen die nichts und wie klingt das dann?“ Denn auch die widerständigen Kämpferinnen gegen Männermacht haben Sprachen entwickelt, die es ihnen ermöglichen, nichts zu sagen. Codes, die Stuckrad-Barre eben doch schlüsselromanmäßig dechiffriert.
Am Ende gelingt ihm das Kunststück, die wache Leserin für ein paar Schreckensmomente denken zu lassen, Sophia sei ein hinterhältiges verlogenes Flittchen. Kurz darauf erzählt Noch wach? eine weitere Machtmissbrauchsgeschichte, die veranschaulicht, warum Sophia sich weiterhin mit dem Sender gemeinmacht. Das ist fast ein noch gelungenerer Showdown als die vorhergehende Chefredakteur-wird-gefeuert-oder-nicht-Story.
Wenn Kimberly zu Mentholzigaretten und Zimtmilchreis erzählt, dass ihr einer der Bademanteltypen von einem Tech-Start-up eine Traumposition angeboten habe, obwohl sie bei einer missbräuchlichen Orgie schon mal das zweifelhafte Vergnügen hatte, ihn kennenzulernen – sie sei dann aber gegangen, so ein bisschen die Kayla Shyx des Buchs –, erfährt die Leserin, dass sie den Job bei ihm dann aber doch angenommen hat. „Gerade letzte Woche erst habe er ihr gesagt, dass sie ein Weltwunder sei, eine gute Programmiererin mit so tollem Körper. Wo gäbe es denn so was?“ (369)
Das Buch endet ratlos in der Dystopie: Nicht nur, dass die mutigen, wortwitzigen Heldinnen sich darauf einigen, sie müssten lernen, nichts zu sagen; es ist auch von einem ganz neuen Fall von Unachtsamkeit die Rede, „Vorwürfe gegen das Hotelmanagement: Mitarbeiter hatten sich über das ARBEITSKLIMA [im Château Marmont, Anm. d. Verf.] beschwert, Rassismus, cholerische Personalführung, mieseste Arbeitsbedingungen, auch sexuelle Übergriffigkeiten“. (371) „Es sei schlechterdings unmöglich, dass wir von alldem nichts mitbekommen hätten, beharrte er. Nein, uns war nichts aufgefallen.“ (373)
Tolles Ende.
Sehr interpretationsoffen. Ein Fall von „Wahrnehmungsträgheit“ (372) eben. Die Katastrophe geht weiter. Kapitalismus, Machtmissbrauch, Sexismus, Rassismus. Wie Hinterhofverbrechen an einem leuchtenden Swimmingpool. In den allermeisten Fällen haben die allermeisten Menschen von den allermeisten Verbrechen einfach nichts mitbekommen. Die Erzählfigur entlässt sich selbst aus der moralischen Überlegenheit. Benjamin darf Anti-Böll bleiben.
Da ist der Roman sowieso schon über alle Berge und über jeden Zweifel etwaiger Wahrnehmungsträgheit erhaben. Ein seltener Fall geglückter Wokeness, natürlich auch in ästhetischer Hinsicht.
Es ist ja kein Zufall, dass ausgerechnet in der Passage, als der „Freund“, also der Chef des Hauses, seine peitschende Rede hält, Stuckrad-Barres Gegenbeobachtungen immer traumhafter, schöner, blumiger, kreativer werden. Bis er eine Kaskade aus Stuckrad’schen Worterfindungen aufmarschieren lässt und all die Blendvokabeln des Vortrags konterkariert: „Stecknadelfallhörbarkeitsausmaße“ (353) fällt ihm dazu ein oder „Hinterzimmerdrolldreistigkeit“. (366) Der Hofnarr plant seinen Abgang, er hat genug Stoff für einen guten Roman, er war zur richtigen Zeit an den richtigen Orten, und er hat dabei etwas so Geheimnisvolles wie einen feministischen Auftrag erhalten …
Radical chic nannte man so was früher mal!
Wenn sich eines utopischen Tages der intersektional feministische Diskurs mit dem dissidenten Teil des Pop-Diskurses anzufreunden lernt, dann werden mehr Menschen beides denken und leben können, und es wird der Wokeness den moralinsauren Zahn ziehen. Bis dahin müssen wir uns damit abfinden, dass nicht blonde Frauen, sondern Stuckrad-Barres mehr Spaß haben, einfach weil er die Spiele mal mitspielt.
Etwas Besseres als die TrashTVFakeNewsBildzeitungsNarrative findet auch er allemal. Denn ihr Witz war noch nie witzig.
Kersty Grether ist eine der wichtigsten Stimmen des Pop-Feminismus im deutschsprachigen Raum. Zuletzt erschien der Roman Bravo Bar (Ventil Verlag, 2024). Seit 2012 betreibt sie mit ihrer Schwester Sandra die Noise-Pop-Band The Doctorella; zuletzt erschien das Album Mondscheinpsychose, Bordsteinrose (September 2024).
Benjamin von Stuckrad-Barre, Noch wach?, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2023, 384 Seiten.
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Anmerkungen
[1] | Kersty Grether, „Nicht wach? Der Stuckrad-Barre Roman und seine Rezeption“, 28. Mai 2023, in: Ich Brauche eine Genie. |
[2] | Isabell Hülsen und Tobias Rapp, „Ein Roman kann wahrer sein als die Wirklichkeit“, in Der Spiegel, 17, 2023, S. 10. |
[3] | Kate Manne, Down Girl – Die Logik der Misogynie, Frankfurt/M., 2020, S. 179. |
[4] | Ebd., S. 193. |
[5] | Ebd., S. 217. |