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Dirk Setton

Das In/Humane. Lyotards Appel

Karel Appel, "Barbarischer Akt", 1957 Karel Appel, "Barbarischer Akt", 1957

Karel Appel, "Kind mit Blumenkorb", 1952 Karel Appel, "Kind mit Blumenkorb", 1952

Wenn man sich dafür interessiert, worin die humanistischen Positionen der europäischen Kunst der Nachkriegszeit anschlussfähig sein könnten, scheint es vielversprechend, einen Blick auf die etwas verwickelten Bezüge der so genannten „postmodernen“ Ästhetik zur Kunst der fünfziger Jahre zu werfen. Einer ihrer Hauptvertreter, Jean-François Lyotard, hat auffallend häufig Künstler als Zeugen seiner ästhetischen Reflexionen aufgerufen, die in den fünfziger Jahren bekannt wurden: Neben Barnett Newman und Sam Francis gehört dazu auch Karel Appel, dem er 1994 eine ganze Monografie gewidmet hat.

Doch wie geht jemand, der für seinen Anti-Humanismus bekannt ist, mit einem Maler um, der – als Gründungsmitglied von Cobra – für einen Humanismus der spontanen Kreativität steht?

Ein barbarischer Akt. Karel Appels Malerei ist eine Wut und eine Lust, eine Verzweiflung und eine Befreiung. Ihr Gestus erinnert an eine koloristische Schmiererei und zeugt von rhythmischen Hieben von Spachtel, Bürste, Pinsel und Fingern. Appel selbst spricht vom Schreien, Spucken, Schlagen und sogar von einer Vergewaltigung der Farbe: „ich versuche niemals ein Bild zu machen“. Impotenz ist die größte Potenz. Im Künstler gibt es ein primitives Malerkind, und was dessen Zeugungskraft gebiert, sind Verwandte, die in einer wilden Farbschmiererei erscheinen: verrückte, fantastische, in Metamorphose begriffene Kreaturen, alternierend zwischen Mensch, Ding, Kind und Tier. Das Gemalte, diese Invasion mehr oder weniger verstörter und zerstörter Farbformen, verweist stets auf den Akt der malerischen Schöpfung selbst zurück. „Urschrei aus geballter Kraft, mehr nicht“ (Hugo Claus, ein „Dichter-Maler“ aus dem holländischen Umkreis von Cobra). Jean-François Lyotard findet, dass das Einzige, was es hier zu verstehen gibt, darin besteht, dass es nichts zu verstehen gibt. Ein pures Ereignis. „Der Nicht-Sinn ist der kostbarste aller Schätze.“ Was bleibt, ist der Affekt, die unmittelbare Kopplung des Gefühls an die Materialität der Farbe. Und eine „Absage“ an jeden kunstkritischen Kommentar.

Es mag dahingestellt sein, was in einer solchen Beschreibung an Überschätzung, Übertragung, Geschmacksverstärkung und Kitsch im Spiel ist – an dieser Stelle soll sie nur die Funktion erfüllen, ein wenig von dem Sound sexuell konnotierter Gewalt, Zeugungskraft und Irrationalität anklingen zu lassen, der in den Selbstbeschreibungen Appels und seiner „Fanliteratur“ lärmt. Interessanterweise bildet dieser Sound einen Kontrapunkt oder gar ein Störgeräusch im Verhältnis zu jener Programmatik, die um 1950 Künstler aus Kopenhagen, Brüssel und Amsterdam unter dem Emblem einer Giftschlange zusammenkommen ließ und auf das Projekt einer Re-Humanisierung von Kunst und Gesellschaft verpflichtete, in dessen Zentrum die alte Idee einer ursprünglichen, schöpferischen Aktivität steht, zu der jeder Mensch fähig sei. Inwiefern aber „passt“ jene Rhetorik der Gewalt zu dieser humanistischen Hoffnung? Handelt es sich um eine Ungereimtheit, eine Komplizität oder eher um ein Symptom, das die Oberfläche humanistischer Selbstbeschreibung konterkariert und ihren phantasmatischen „Boden“ preisgibt?

Zumindest haben wir es mit einer Doppelkodierung zu tun, die sich vor allem in der ostentativen Referenz auf die Idee einer kindlich-spontanen Ausdruckskraft manifestiert, die im Kontext von Cobra eine besondere Rolle spielte. Die Figur der Kindheit schien am ehesten dasjenige Versprechen verkörpern zu können, auf das Cobra programmatisch setzte: die Wiederentdeckung und Bewahrung des Vermögens, ein elementares Lebensgefühl unmittelbar ausdrücken und damit eine radikale Erneuerung der Kunst – eine Art „Kindheit der Kunst“ – einleiten zu können. Die Konstruktion dieser Figur der Kindheit gehört spätestens seit der „Empfindsamkeit“ des 18. Jahrhunderts zum festen Bestand humanistischer Topoi. Immer dann, wenn ausnahmslos alle Formen gesellschaftlicher Regelung als problematisch empfunden werden, wenn sie von vornherein unter dem Verdacht stehen, authentische Äußerungen zu korrumpieren und die „Lebenskräfte“ zu unterdrücken, bietet sich als Ausweg und Versprechen der Rekurs auf einen ursprünglichen, nicht vergesellschafteten Zustand des Menschen an – die Kindheit. Dort, wo die Erziehung im Kind ein Unvermögen unterstellt, das durch Lerntechniken in Fähigkeiten umzuwandeln sei, wird eine ursprüngliche und ungezähmte Fähigkeit vermutet, die zwei Aspekte besitzen soll: einerseits die Kapazität eines nicht konditionierten, spontanen Zugangs zur Welt, der weder auf sozial erworbene Schemata zurückgreift noch unter der Fuchtel der Regeln des Verstandes steht; und andererseits eine Fähigkeit zum freien, lustbetonten, kreativen und spielerischen Verarbeiten jener unschematisierten Erfahrung als unmittelbarer Ausdruck des Lebensgefühls. Die derart gedachte Kreativität fungiert als Angelpunkt einer Anthropologie, die den Menschen nur in dem Maße als wahrhaft „menschlich“ und „lebendig“ versteht, wie er wieder Zugang zu dem „Kind in ihm“ gewinnt. Cobra zufolge kommt der Kunst die Aufgabe zu, durch kraftvolle bildliche Zeugnisse einer spontanen und kindähnlichen Einbildungskraft diesen Zugang in Betrachtern zu reaktivieren. Und obwohl der Kinderzeichnung auch bei den Cobra-Malern eine paradigmatische Rolle zukam – das Amsterdamer Stedelijk Museum zeigte 1948 eine Ausstellung mit Kinderzeichnungen, und das 4. Heft der Zeitschrift Cobra stellte den Werken von Appel, Constant und Jorn einige der dort gezeigten Zeichnungen gegenüber –, ging es weniger um eine schlichte Identifikation des Künstlers mit dem Kind, sondern eher darum, ihn auf „seine“ Kindheit zu verpflichten. Karel Appel war derjenige Maler bei Cobra, der dieses „Bündnis“ am weitesten getrieben hat. Das ideale Verhältnis des Kindes im Künstler zu den gereiften Fähigkeiten des Malers könnte man sich analog zu dem Verhältnis begreiflich machen, das Appel zwischen seiner rechten und linken Hand imaginierte. Als Rechtshänder malte er des öfteren mit der linken Hand, die der rechten Hand das gute „Beispiel der Unbeholfenheit“ geben sollte. Appels „Fragende Kinder“, ein Fresko für die Kantine des Amsterdamer Rathauses von 1949, lässt sich in diesem Zusammenhang als programmatische Metapher für die Idee einer künstlerischen Schöpfung lesen, die durch eine experimentelle Unbeholfenheit gekennzeichnet ist.

Mit der Vorstellung einer „prä-kulturellen“ Kindheit werden allerdings nicht nur Konnotationen der Unschuld, des Spielerischen und der wahrhaft freien Kreativität aufgerufen, sondern zugleich auch die einer – normalerweise durch gesellschaftliche Normen zu zähmenden – Gewaltbereitschaft. Anders gesagt, in der Figur des Kindes überkreuzen sich humanistische wie antihumanistische Intuitionen, Fantasien der Möglichkeit einer Reaktivierung ursprünglicher Menschlichkeit wie radikaler Zerstörungslust. Was hierbei im Spiel ist, scheint sowohl eine Komplizität als auch eine wechselseitige Störung zu sein: Während auf der einen Seite die humanistische Erneuerung, will sie durchschlagkräftig sein, nach einer Destruktion des Bestehenden verlangt, geschieht diese auf der anderen Seite im Namen einer Ursprünglichkeit, die zwischen menschelnder Friedlichkeit (homo ludens-Expressivität) und inhumaner Grausamkeit (kreativer Vandalismus) pendelt. Für beides steht die Figur der Kindheit ein.

Karel Appel in seinem Atelier in der Rue Brézin, Paris, 1961 Karel Appel in seinem Atelier in der Rue Brézin, Paris, 1961

Die Verstrickung einer lebensphilosophisch verstandenen Humanisie-rung mit einer expressiven Grausamkeit erinnert ein wenig an Artaud – und erweist sich als der gleichen Aporie ausgesetzt, die Derrida bei diesem beobachtete: Der intendierte Ausdruck der rohen Lebenskräfte, der sich nur in Form der Gewalt und gegen alle verfügbaren Ausdrucksformen zeigen kann, kommt nicht umhin, eben solche zu re-iterieren. Wie es scheint, vermittelt eine solche ästhetische Position „heutzutage“ einen kaum glaubwürdigen Eindruck, man wirft ihr „Infantilismus“ vor und hält sie für naiv und unreflektiert. Anscheinend besteht die vernünftigste Reaktion auf den Neo-Primitivismus von Cobra weniger darin, ihn als ein fortzuführendes künstlerisches Projekt zu begreifen, sondern ihn sozialgeschichtlich zu erklären: Die Erfahrungen der „Unmenschlichkeiten“ des Krieges, die Zerstörung kulturellen Lebens sowie die politische Unbeständigkeit und konformistische Lethargie der Nachkriegszeit mögen eine derartige „Regression“ verständlich machen – anschlussfähiger scheint sie aber dadurch nicht zu werden.

Anders Lyotard: In Abgrenzung gegen jede sozialgeschichtliche Lesart setzt er bei der „Empfindung“ an, die Appels Werke in ihm hinterlassen hätten – dem Gefühl einer irritierenden Machtlosigkeit angesichts der „überfall-artigen“ Wirkung der Farben. Dieser Affektion gegenüber bleibe das Verstehen ohnmächtig, denn das an den Bildern Begreifliche und Interpretierbare (das sichtbar Geformte) entspreche nicht demjenigen, was den Affekt hervorrufe: der jede Form überbordenden Materialität der Farben. Auf deren ästhetische Wirksamkeit, die nicht durch kognitive Operationen vermittelt ist, komme es bei Appel an. Dessen Rhetorik der Destruktion interpretiert Lyotard dementsprechend als eine Beschreibung der malerischen Strategie, durch die Zurschaustellung zerstörter oder defigurierter Kreaturen an die „Schwelle“ der geformten Erscheinungen vorzustoßen, um die bloße Farbmaterie auf eindringliche Weise spürbar zu machen. Was Appel für Lyotard interessant macht, scheint daher jene anti-semiotische Vorstellung einer unterschwelligen Energetik künstlerischer Kommunikation zu sein, auf die die Figur des wilden Kindtieres bereits abzielte. Im Gegensatz zur Idee einer konzeptuell organisierten und mithin lesbaren Kunst steht die Idee eines sich direkt in der Materie der Malerei vollziehenden Gestus im Zentrum, der sich auf den Körper der Betrachter/innen unmittelbar „übertrage“. In dieser Hinsicht ist das Bild kein intelligibles Objekt, sondern besteht primär in der „Gewalt“ quasi energetischer Materie-Effekte, die, so die Idee, unmittelbar Affektionen hervorrufen und damit kreative Potenziale (im Sinne eines Wucherns imaginärer Assoziationen) freisetzen. Und es sind genau jene Akzente des Irrationalen, des Inhumanen, des Materiellen und der energetisch direkten Wirksamkeit, die in der Figur des Tierkindes kulminieren und die Appels Arbeiten (und vor allem: seine Selbstbeschreibungen) für Lyotard anschlussfähig machen. Die starke Betonung materieller Effekte verführt Lyotard allerdings zu einer Konsequenz, die nicht ganz nachvollziehbar ist. Um die Unvereinbarkeit der Materie-Affekte mit dem Wissen zu bezeugen, entscheidet er sich für eine an Kant orientierte Strategie der sauberen Trennung: Er entkoppelt Appels „Schmierereien“ von allen semantischen Bezugssystemen (wie etwa ihrer historischen Einbettung oder der humanistischen Programmatik), bezeichnet ihre koloristische Materialität als etwas „Absolutes“ und verschiebt ihre Wirkung in eine „Ereignis-Zeit“ jenseits geschichtlicher Sukzession. In den Bildern sieht er auf exemplarische Weise dasjenige aufscheinen, was er als obsessiver Kant-gegen-den-Strich-Leser für das Signum des Ästhetischen schlechthin hält: den unauflöslichen Antagonismus zwischen sinnlicher Empfindung und begrifflichem Verständnis ins Werk zu setzen und in der souveränen Mächtigkeit visueller Materialität jedem Verstehen zu widerstreiten. Mit dem Begriff des Widerstreits, eines der zentralen Themen seiner Philosophie, markiert Lyotard zweifelsohne einen interessanten Punkt, verschenkt ihn aber sogleich wieder, wenn er den Widerstreit vor der Folie einer Opposition zwischen zwei getrennten Bereichen denkt – ästhetische Empfindung hier, begriffliches Verstehen dort. Aber die Rede von Materie-Affekten wird in dem Moment unplausibel, in dem diese als absolut gesetzt und von allen Bezügen entkoppelt werden: als würden sie wie ein pures Ereignis aus dem dunklen Ansich der Dinge kommen.

Lyotards Idee, das Ästhetische an Bildern im Zusammenhang mit ihrer Potenz zu sehen, jeden Kontext ereignishaft zu transzendieren, führt aber, genau besehen, nicht notwendig zu dieser Konsequenz. Angesichts einer affizierenden Materialität, die sich der Objektivierung entzieht – und dadurch sowohl einer historischen Einordnung wie einer kunstkritischen Bewertung widerstreitet –, wäre es wohl plausibler, statt von einer absoluten Trennung von einem „Suspense“ zu sprechen: Die Bezüge sind nicht gekappt, sondern bleiben in der Schwebe. Begriffliche Bestimmungen und geschichtliche Situierungen sind somit im Spiel – allerdings in Form ständiger assoziativer Verschiebung und De-Situierung. Eine solche Auffassung erteilt kunstkritischen und philosophisch-ästhetischen Diskursen nicht, wie bei Lyotard, eine radikale Absage, sondern nötigt sie eher zu einer Umorientierung. Diesbezüglich wäre sogar Lyotards Vorschlag anschlussfähig, dass der Kunstkommentar auf eine Art „Affektschilderung“ umzustellen habe. Die damit zusammenhängende Herausforderung, Affekte nicht wie deskriptive Objekte des Wissens zu behandeln, sondern an ihnen „entlang“ oder orientiert zu schreiben, setzt den Diskurs über Kunst selbst unter „Performativitäts-Zwänge“, d.h. sie problematisiert vor allem seine Form, die mithin selbst ästhetisch (erfahrbar) werden muss. Doch insofern es darum geht, Affekte „aufzuführen“ und „weiterzugeben“, stellt sich die Frage, ob man dann überhaupt noch etwas anderes als „Fanliteratur“ (bzw. deren symmetrisches Pendant) produzieren kann.

Was die Form von Lyotards Fan-Essay betrifft, so haben wir es mit einem merkwürdigen Zwitter aus philosophischer Plauderei und quasi-adornitischer Selbstnegation zu tun. Ein Diskurs, der den ästhetischen Widerstreit zwischen Affektivität und Verstehen bezeugen will, muss, Lyotard zufolge, nicht nur indirekt verfahren, sondern sich sogar gegen sich selbst wenden. Dem eigenen Anspruch nach geht es damit um eine unendliche Selbstinfragestellung des Kunstkommentars. Dass Lyotard dabei in den Duktus einer hochassoziativen und quasi-argumentativen Theorie-Poesie verfällt, die in der 45-seitigen Inszenierung einer in Versform geschriebenen Wechselrede zwischen „Farbe“ und „Denken“ gipfelt, mag man als romantische (und ironische) Hilflosigkeit deuten – vor der Lyotard im kurzen Vorwort seine Leser/innen allerdings auch schon fairerweise warnt. Und dass er dabei darauf verzichtet, zu einzelnen Bildern irgendetwas Nennenswertes zu verlautbaren, mag man aufgrund der Absage an jede Thematisierung, die ein Bild zum Objekt „degradiert“, und dem Anspruch, den affizierenden Gestus der Werke implizit zur Geltung zu bringen, konsistent finden – enttäuschend ist es dennoch.

Interessant erscheinen allerdings die Uminterpretationen, die der vermeintliche Humanismus unter der Perspektive des Widerstreits erfährt. Lyotard zufolge gehe es bei Appel (wie in der Kunst überhaupt) weniger um eine Humanisierung, sondern viel eher um eine Art Inhumanisierung. Diese habe man gemäß der Unterscheidung zwischen zwei Modi des Inhumanen zu denken, die im Vorwort der gleichnamigen Essaysammlung folgendermaßen gefasst wird: Während es auf der einen Seite die Inhumanitäten des (im guten alten linken Jargon gesprochen:) „Systems“ gebe, d.h. der ökonomischen Entwicklung, der gesellschaftlichen Institutionen und deren disziplinarischer Apparate, habe man es auf der anderen Seite mit einer „unendlich geheimen Inhumanität“ zu tun, deren „Geisel“ die „Seele“ sei. Dieses andere Inhumane, das dem ersten Inhumanen widerstreite (und daher die Ressource für jeglichen „Widerstand“ darstelle), trägt bei Lyotard den Namen der Kindheit bzw. der infantia im etymologischen Verständnis: der angeborenen (und letztlich unüberwindbaren) Unfähigkeit zu sprechen. Was bei Cobra und Appel das „Kind im Erwachsenen“ war, wird bei Lyotard zu einem im Subjekt insistierenden Unvermögen, das er nicht im Sinne einer expressiven Kreativität umdeutet, sondern durch eine unbestimmt offene Passivität charakterisiert sieht: Sprachlos, unfähig zu einer vernünftigen Äußerung, einer profitablen Berechnung oder einer Fixierung des Interesses, dafür allein zu Empfindungen fähig und somit vollkommen eingetaucht in die Welt vorbewusster Affekte, konfrontiert die infantia das menschliche Subjekt mit einer Andersheit, gleich einem stummen, nicht-humanen „Gast“, der es fortwährend heimsucht.

Diese Re-Interpretation könnte eine Perspektive auf die Werke Appels eröffnen, die nicht im Horizont der weiter oben skizzierten Doppelkodierung der kindlichen Ausdruckskraft verbleibt: Die Figur der infantia/Animalität allegorisiert eine Dimension in der Kunst, die dafür einsteht, dass „der Mensch“ nicht bloß human, sondern, wenn man so will, „kreatürlich“ ist. Man könnte hierbei an die Formel des „Tier-Werdens“ denken, mit der Deleuze die Malerei Francis Bacons charakterisierte: Ähnlich wie die Defigurationen Bacons die gemalten Körper in eine „Zone von Ununterscheidbarkeit zwischen Mensch und Tier“ führen, setzen die deformierten Wesen in Appels Malerei, die unaufhaltsam zwischen Animalität, hysterisierter Kindheit und menschlichem Körper oszillieren, eine Art „Kreatur-Werden“ in Gang. Insofern diese unbenennbaren creatures identifizierend erlebt werden, d.h. als Körper, die durch die Einwirkung unsichtbarer Kräfte „aus der Form“ geraten und in eine Bewegung der Alteration versetzt werden, ermöglichen sie eine Erfahrung jener anderen Inhumanität, die Lyotard als infantia bezeichnet. Zudem könnte man in ihnen ein phänomenologisches „Porträt“ des affizierten Körpers selbst sehen, das sogar eine nicht-humanistische Auffassung von Affektionen nahe legt: Es geht nicht um bloß psychologische Zustände und nicht um eine romantisch aufgefasste Innerlichkeit, sondern eher um eine (mit Merleau-Ponty gesprochen) quasi-unmittelbare Verflechtung von Empfindung und Empfundenem, d.h. um die Exteriorität von Affekten. Diese sind keine Formen der Sensibilität des Geistes, sondern Deformationen eines körperlichen „Auf-der-Welt-Seins“. Obwohl eine solche Deutung vor dem Hintergrund von Lyotards Ansatz durchaus nahe liegend scheint, geht dieser andere Wege: Anstatt den Widerstreit, um den es in der Kunst Appels gehe, auf die Differenz human/inhuman zuzuspitzen, konzentriert er sich lieber auf die Idee einer radikalen Trennung zwischen Empfindung und Verstand, so dass seine Widerstreitbezeugung darauf hinausläuft, die ästhetischen Affekte in ihrer Reinheit und Unvereinbarkeit zu bewahren. Damit kontinuiert er allerdings nicht nur eine zweifelhafte sensualistische Stereotypie, sondern offenbart auch eine enorme Affinität zu jenem Cobra-Humanismus, von dem er Appel doch loslösen wollte. Denn obwohl Lyotard die Sehnsucht nach expressiver Kreativität für naiv hält, teilt er jene übergeneralisierte Ablehnung von Rationalität, Verstand und Regeln im Bereich der Kunst, die den Rekurs von Cobra auf eine ursprüngliche Kreativität zuallererst motivierte. Und auch eine theoretisch aufgepeppte Figur der Kindheit (ein bisschen zu wenig Blanchot, ein bisschen Freud, ein bisschen Lévinas, ein bisschen zu viel Kant) vermag nicht die Verwandtschaft mit dem „Kind in uns“ zu leugnen, das für Cobra zum Inbegriff spontaner Ausdruckskraft wurde. Lyotards Version des infans übernimmt nicht nur einige wesentliche Zuschreibungen, die jene Konstruktion der Kindheit auszeichnet (die Fähigkeit zu reinen, unschematisierten, regellosen und fantasievollen Empfindungen), sondern auch dessen figurale Verflechtung mit dem wilden, ungezähmten Tier, samt der Begleitmusik der Gewaltrhetorik, die Lyotard sogar noch steigert. Damit verbleibt der ästhetische „Inhumanismus“ im Horizont des ästhetischen Humanismus. In dieser Hinsicht scheint die „Postmoderne“ noch in den fünfziger Jahren zu stecken.

Literatur

  • Jean-François Lyotard, Karel Appel. Ein Farbgestus. Essay zur Kunst Karel Appels mit einer Bildauswahl des Autors, Bern/Berlin: Gachnang & Springer, 1998.
  • Ders., Der Widerstreit, München: Fink, 1989. Ders., Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien: Passagen, 2001.