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Anselm Haverkamp

Schauplatz der Darstellung Über "Der Betrachter ist im Bild" von Wolfgang Kemp

"Was wir haben, sind die Werke ..." [1]

Als Wolfgang Kemp Mitte der achtziger Jahre daran ging, das Theoriedefizit seiner Disziplin zu kurieren, folgte er dem Zug zur Pragmatisierung, die seit den späten sechziger Jahren die Literaturwissenschaft - exemplarisch die Konstanzer Schule - auf den Begriff der Rezeptions- statt der Produktions- und Darstellungsästhetik gebracht hatte. Das vergleichsweise späte Übergreifen von deren Konjunktur, die inzwischen zum Begriff der Dekonstruktion als Kern und Skandalon der Debatte fortgeschritten war, auf die Kunstwissenschaft als Wissenschaft des Sehens von Bildern (im Unterschied zum Lesen von Texten) hatte alle Vorteile der Verspätung: Es ersparte die anfänglichen Irritationen eines empiristischen Missverständnisses von Rezeption qua historischer Rezeptionsvorgaben und Rezeptionsweisen ebenso wie die zunehmenden methodischen Komplikationen des Lektürebegriffs, die eben dabei waren, den Begriff der Rezeption in einem übergreifenden historischen Prozess der Dekonstruktion aufzuheben, überholt und sekundär erscheinen zu lassen. Verlor sich auch, mit anderen Worten, das Interesse an der Rezeption als ästhetischer Grundsituation, so längst nicht die in Kemps Titel emblematisch gemachte Grundfigur des "Betrachters im Bild". Im Gegenteil, was Kemps Sammlung im Rückblick handgreiflicher macht als alle rezeptionsästhetischen Konkurrenten der Zeit, ist die darstellungstheoretische Radikalisierung, die der Ästhetikbegriff durch die methodische Privilegierung der Rezeption erfährt.

Kurz - Wolfgang Kemps listige, zeitgemäße Anknüpfung an den literarischen Trend der Rezeptionsästhetik entsprang nicht - oder zum geringsten Teil - den mehr oder minder problematischen Übertragungsansinnen einer wechselseitigen disziplinären Erhellung, womit zu Zeiten interdisziplinärer Drittmittelrhetorik allein Staat zu machen ist. Eher war sie das erfolgsträchtige trojanische Pferd, das geeignet war, einen neuen Typ von Theorie und einen neuen Begriff von Repräsentation in die ikono-semantisch fixierte Kunstwissenschaft einzuführen. Tatsächlich versteht es Kemp von Anfang an - in seiner Einleitung wie in der durchgängig kommentierten Textauswahl -, die kunsttheoretische Genealogie der Rezeptionsästhetik herauszupräparieren, und was dabei heraus- und in die Augen springt, ist die quasi "kontextuelle" oder quasi "szenische" Einbettung und Rahmung der Phänomenalität bildlicher Repräsentation. Beiden Quasi-Metaphoriken, in deren Wechsel die semantisch manifeste Sinnbildungsleistung der Kontexte zur Performanz theatraler Inszenierung um- und weiterdefiniert wird, entsprechen charakteristischen Modellen der ästhetischen Einstellung von Rezeption, deren quasi-deskriptiver Wert indessen mit den Darstellungsmitteln und Darstellungsvoraussetzungen nicht in eins gesetzt werden sollte. Denn die Rezeptionsschicksale der Werke und das überlieferte Zeugnis ihrer historischen Betrachter mögen allerlei symptomatischen Aufschluss liefern; über den im Bild eingeschlossenen Betrachter, seinen Platz im Bild (im Unterschied zu dem ab und an mit ins Bild gesetzten, in Bildern thematisch gemachten, sich über den Rand des Rahmens ins Bild lehnenden Zuschauer) geben sie keine verlässliche Auskunft. Die dem Bild eingeschriebene Struktur der Betrachtung leugnen sie, ja verleugnen sie womöglich. Michael Frieds "absorption" und Louis Marins "dénegation" - die eine ostentativ und insofern noch auf eine sehr trügerische Weise thematisierend, die andere von purer Phänomenalität und insofern extrem theoretischer Art - sind Extremwerte einer strikt strukturellen Implizitheit von Rezeption, der Rezeption als einer Art syntaktischer Implikatur eher denn der ikonologischen Präpariertheit oder der semiotischen Kodierung von Rezeption in Darstellung. Wolfgang Isers Rede vom "impliziten Leser" hatte die rhetorische "Appellstruktur der Texte" auf das kongeniale Bild einer solchen Implizitheit der den Werken eingeschriebenen Rezeption gebracht. Er war dabei freilich, wie Paul de Man früh beklagt hatte, in der Phänomenalität des "Aktes des Lesens" befangen geblieben, in einer Phänomenalität der Texte, als trügen sie wie Bilder die Spuren ihrer Gegebenheit auf die Stirn geschrieben. Dass dies nicht einmal die Bilder tun, ja womöglich die Bilder weit weniger als die Texte, denen an der Evidenz von Bildern gelegen ist, ist dem Bildbegriff, dem Kemps Unternehmen auf die Sprünge hilft, eher zu danken als dem Textbegriff der literarischen Rezeption. Die Kur, die Kemp der Kunstwissenschaft empfahl, implizierte eine Korrektur der spiegelbildlichen Selbstmissverständnisse aller wechselseitigen Erhellungen von Kunst und Literatur und der darauf gebauten Darstellungsbegriffe.

Kemps spezifischere Einleitungsthese eines "gegen vielfachen Widerstand" in der Kunst schon sehr "früh" ausgebildeten "kleinen Kerns rezeptionsästhetischer Theoreme" bewährt sich in der Auswahl der Texte, die mit der Erinnerung an Alois Riegl erstaunlich früh einsetzt und wie nebenher eine Genealogie früher rezeptionsästhetischer Spuren in den Appell- und Pathosformeln der Neuzeit mitliefert. Die entscheidende repräsentationstheoretische Achse nach Riegl, in der die rezeptionsästhetischen Intuitionen theoretisch aufgefangen werden und ihre bis heute wirksame Problemgestalt gewinnen, bilden die zu Recht berühmt gewordenen und gebliebenen Studien von Svetlana Alpers und Louis Marin über Velázquez und Poussin. Beide antworten der in jeder Hinsicht epochalen These Michel Foucaults über den grundlegenden Wandel des Repräsentationsbegriffs der Neuzeit. Versteht man mit Kemp den "kleinen Kern rezeptionsästhetischer Theoreme" als eine symptomatische Begleiterscheinung des von Foucault postulierten Wechsels der Darstellungsepistemen, so wäre das, was mit der Rezeption dem Darstellungsbegriff zuwüchse, nichts Geringeres als eine neue Ästhetik. Velázquez' "Las Meniñas" und Poussins "Et in Arcadia Ego" sind die seit Foucaults Eingriff ersten Muster im Kanon einer neuen, über die Einzeichnung des Betrachters laufenden Selbstreflexivität von Darstellung, in deren Double-Bind-Verstrickung die ostentative Ohnmacht zur Macht der Bilder gerät. [2]

Wie Kemps sorgfältiger Kommentar hervorhebt und die Rezeption seither nur vertieft hat, stellt die rezeptionsästhetische Allegorie des Betrachters im Bild eine doppeldeutige Kompromissbildung dar, die zwischen der Phänomenologie des eingezeichneten Betrachterblicks (Merleau-Ponty und Lacan bis Marin) und dem repräsentationslogischen Strukturalismus des eingearbeiteten Betrachter-Standorts oder -Sehwinkels (Fried, Alpers, Kemp selbst) schwankt, oszilliert, zu vermitteln sucht. Zwischen Raum- und Licht-Paradoxen des im Bild Sichtbaren - deren Verkörperung gerade nicht der Betrachter im oder vor dem Bild ist, sondern die Spur und Bahn seiner möglichen Ansichtnahme - findet die kunsttheoretische Analyse der historischen Bilder zu jener spezifisch ästhetischen Sensibilität, die in oft genug dunklem, blindem Echo älterer Darstellungsmuster die neueste Kunst zu einer "Ästhetik der Installation" geführt hat. [3] Wobei der Begriff der Installation ein nachgerade rezeptionsästhetischer Nenner wäre, der die alte Betrachterallegorie der impliziten Rezeptionsweisen in eine technische Konstellation überführte, zurücknähme, überböte.

Anmerkungen

[1]Wolfgang Kemp, "Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik", Einleitung zu: ders. (Hg.), Der Betrachter ist im Bild, Köln 1985, S. 23.
[2]Vgl. Vera Beyer/Jutta Vorhoeve (Hg.), Das Bild ist der König. Repräsentation nach Louis Marin, München 2005 (mit einem Beitrag von Wolfgang Kemp).
[3]Vgl. Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation, Frankfurt/M. 2003.